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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Lehrjahre sind keine Herrenjahre - oder doch?



Jens
10.11.2003, 14:07
Hallo zusammen,

in den vergangenen Wochen hatten wir jeweils einen Auszug aus dem Kapitel "Lehrjahre sind keine Herrenjahre - der Arzt in der Ausbildung" aus dem in diesem Jahr erscheinenden Buch "Eine Krähe hackt der anderen" von Dr. med. Thomas Raddatz veröffentlicht.

Für alle, die die Artikel in der Onlinezeitung gelesen haben, bieten wir hier eine Plattform, um mit Kommilitonen aber auch dem Autoren Dr. Raddatz über das Kapitel zu diskutieren.

Für all diejenigen, die das komplette Kapitel am Stück als PDF-Dokument lesen möchten:
<< hier klicken - PDF Lehrjahre sind keine Herrenjahre >> (http://217.160.88.1/cms/jump/jump.cgi?ID=491)

Dr. Raddatz ist niedergelassener Chirurg aus Vellmar (Hessen), stand auch dankeswerterweise für ein Interview (http://www.medi-learn.info/seiten/basismodul/Detailed/534.shtml) zur Verfügung und beschreibt sein Buch wie folgt:

"Die Schwächen des öffentlichen Gesundheitswesens und deren Fehlentwicklungen der letzten zwanzig Jahre schonungslos darzustellen, ist Hauptanliegen dieses Buches, das sich nicht als typisches Sachbuch versteht. Vielmehr ist es als Streitschrift angelegt, basiert selbstverständlich auf nachprüfbaren Fakten, verwendet aber populistische, hin und wieder auch polemische Stilmittel, um Betroffenheit auszulösen. Der Autor hat alle wesentlichen Stufen einer ärztlichen Karriere durchlaufen und gestattet Einblicke in die Praxis von Ärzten und Krankenhäusern, Kassen und Kammern, von Aus- und Weiterbildung. "


Wir sind gespannt darauf, ob sich auch zu diesem Thema, zu dem in dem wirklich lesenswerten Kapitel zahlreiche Brennpunkte als Diskussionsgrundlage enthalten sind, eine Diskussion zusammen mit dem Autoren entwickeln kann und freuen uns auf eure Antworten.


Ein paar Fragen zu Beginn
Was ist das Medizinstudium: eine Zeit der Herrenjahre, in denen man sorglos lebt, oder eine Zeit der Lehrjahre, in denen man sorgenvoll lernt, oder ganz etwas anderes?

Was nervt euch total am Studium?

Wenn ihr etwas entscheiden könntet in gesetzlicher Richtung, wie und was und warum würdet ihr es ändern?

Soll immer bloss Schritt für Schritt - also alle 10-20 Jahre - etwas geändert werden oder sollte man auch einmal den Mut zu einem unkonventionellen Neubeginn (welcher Art auch immer) besitzen?

Ich stelle hier mal ein mögliche These auf: die Teilung in Vorklinik und Klinik ist eigentlich unsinnig. In 6 Jahren eines Medizinstudiums sollte auch 6 Jahre die Klinik, sprich der Mensch und seine Krankheiten, das Thema sein.

In den ersten Jahren könnten durchaus die bisher in der Vorklinik gelagerten Themenkomplexe direkt und durchgängig in klinischem Bezug (und nicht nur mal nebenbei in POL-Seminaren) gelehrt und dann auch sicher mit mehr Motivation gelernt werden.

Einem Bäcker erklärt man während seiner dreijährigen Ausbildung auch nicht ein komplettes 1 Jahr lang (also auch hier in einem Drittel der Gesamtausbildungszeit), welchen Durchmesser Brötchen theoretisch am Zeichenbrett nach DIN-Norm haben müssten, sondern man lässt ihn - unter der Anleitung von Meistern - Teig zubereiten und stellt ihn an den Backofen....

Dies mal als Einstieg. Wie seht ihr das? Und was welche Meinung und welchen Eindruck habt ihr zu dem Kapitel "Arzt in der Ausbildung" von Dr. Raddatz?

Schöne Grüsse
Jens

Contradoc
18.11.2003, 06:53
Was der dümmliche Satz :" Lehrjahre sind eben mal keine Herrenjahre" hier soll,erschließt sich einem nicht so ganz.Es soll wohl nach dem Motto vergangener Jahrzehnte weiterlaufen: Nun habt euch (besonders AiP,Assis) mal nicht so,denn das sind ja schließlich nicht gerade eure "Herrenjahre",oder nicht ?
Die Antwort : Die Abstimmung mit Füßen( Abwanderung ins Ausland von inzwischen Tausenden nach CH,GB,Schweden,Norwegen) und Geldbeuteln(u.a. MB Austritt) ,der erste Ärztestreik Deutschlands , geht weiter !
Einer der Hauptgründe: Die Mechanismen des korrupten deutschen Med. systems,das wie folgt funktioniert:

- wenn du einen Landrat oder OB in der Verwandtschaft hast,nütze diese Beziehungen,denn sie gehören zu den entscheidenden.

- warst du in einer schlagenden Verbindung/Landsmannschaft /Burschenschaft ? Falls nicht,sind die Chancen schon geringer.

- ist der Vater Arzt ? Hat er eine eigene Praxis,die dem Herrn Chef möglichst viele Privatpatienten ins Krankenhaus heranschafft ? Wenn nicht,sinken die Chancen erneut ab.

- ist der Vater Mitglied im Rotary Club ? Falls nicht :weiter gesunkene Chancen .

- ist der Vater wenigstens Mitglied im Golf/Tennisclub und hat sich dort mit dem Herrn Chef (in der Vereinssauna ? ) angefreundet ? Falls nicht,rückt das Pech erneut näher.

-Hast Du das richtige Parteibuch,meistens konservativ ? Falls nicht: Pech gehabt.

- Glaubst Du,daß tolle Prüfungsergebnisse und (Auslands-) Famulaturen dich geradewegs auf einen ebenso tollen Posten spülen ? Dann tust Du mir leid.

Jetzt weißt du in etwa,wie das korrupte deutsche Med. System wirklich funktioniert !

Jens
06.12.2003, 19:56
Kleine Frage zwischendurch an Contradoc:

Du behauptest, der Satz "Lehrjahre sind keine Herrenjahre" sei dümmlich, begründest dies jedoch nicht so recht.

Warum ist der Satz für Dich dümmlich?

Der Inhalt des Satzes war ja auch nur der Untertitel zu einem Buchkapitel, das weiter oben im Eingangsbeitrag erwähnt ist.

Die restlichen Thesen halte ich für überzeichnet, sie treffen in Einzelfällen zu, sind aber nicht die Regel.

Was meinst Du und meinen andere zu den weiteren Punkten im Eingangsbeitrag sowie zum Kapitel von Dr. Raddatz (Link siehe oben im ersten Beitrag) - das würde uns interessieren.

Schöne Grüsse
Jens

Tokay
19.02.2004, 18:58
Äpfel und Birnen.... und ein rotes Tuch.

Contradoc fühlt sich auf den Schlips getreten, weil da jemand "Lehrjahre sind keine Herrenjahre" schreibt und er - wie viele andere in der Klinik arbeitende Assistenten auch - diesen Satz zu oft an den Kopf geschmissen bekommt um damit die Bedingungen in deutschen Krankenhäusern zu begründen. Und es einfach einen Aufschrei - fast wie der Pavlowhund - triggert.
(Nur mal so nebenher, ich hab den Reflex auch.... und im Grunde stehe ich mit Contradoc auf der gleichen Seite, zumindest was das ewige Thema "Arbeitsbedingungen" und das ewige Dummgetue der Politik betrifft)

Nur, daß es im Ur-Post nicht um die Arbeit in der Klinik ging, sondern um den Weg dahin.

Also wirklich Äpfel mit Birnen verglichen. Einmal sind die Lehrjahre die Zeit an der Uni, ein andermal die Zeit in der Klinik, als Assistent oder AiP.


Mein Senf zum Artikel und die Fragen:


Was ist das Medizinstudium: eine Zeit der Herrenjahre, in denen man sorglos lebt, oder eine Zeit der Lehrjahre, in denen man sorgenvoll lernt, oder ganz etwas anderes?


Blöde Frage. Das Studium ist eine Berufsausbildung.



Was nervt euch total am Studium?


Total verschult, praktisch keine Praxis, Abstruse Sonderfälle, die man für Prüfungen auswendig lernt, um sie nach der Prüfung sofort wieder zu vergessen (Wer weiß denn noch den was er dereinst in Biologie für Mediziner lernen mußte?), die wenigen tatsächlichen Praktika werden von den "Großen" an irgendwelche AiP und Assis abgeturft, die sich vielleicht sogar Mühe geben, aber solche Geschichten zusätzlich zum eh schon großen Pensum des Tages abreissen müßen.
U.s.w.



Wenn ihr etwas entscheiden könntet in gesetzlicher Richtung, wie und was und warum würdet ihr es ändern?


Klinik ab Tag Eins. Kleine praktische Lerngruppen, Praktika, Seminare und weit weniger sinnlose Vorlesungen, die die Anwesenheit durch Kontrollen sicherstellen müßen, weil wegen des Somniferenzrisikos sonst trotz körperlicher Anwesenheit die Hälfte nach zehn Minuten sowieso schläft.
Wieder die drei Staatsexamen. Auch lieber zentral.
Entschlackung der Approbationsordnung.
Mehr Praxis, mehr Praxis, mehr Praxis.
Man lernt Anatomie, auch Anatomie am Röntgenbild, aber nach dem dritten Examen einen popeligen Rö-Thorax beurteilen? Nada.



Soll immer bloss Schritt für Schritt - also alle 10-20 Jahre - etwas geändert werden oder sollte man auch einmal den Mut zu einem unkonventionellen Neubeginn (welcher Art auch immer) besitzen?


Geht mit dem Holzhammer dran, klopft das Studium in die Tonne und macht eine Berufsausbildung draus. So wie das Studium momentan aufgebaut ist ist es für Wissenschaftler, nicht für Ärzte.
Aber die meisten Absolventen, die tatsächlich in deutsche Krankenhäuser gehen (sind vom Start weg mal nur noch 60%, wen wunderts?) haben nicht die Welt an Interesse "das Liebesleben der Pflastersteine" oder "die Tiefe der Narkose in Abhänigkeit von der Stiellänge und Holzhärte des verwendeten Hammers" zu erforschen.



Zum Artikel. Ein großer Teil Wahrheit, aber auch einiges, was ich nicht befürworte. Die Prüfung dem jeweiligen Prof zu überlassen ist keine gute Idee. Fast jeder Chef heutzutage weiß, daß Noten aus den Multiple Choice Prüfungen für die Katz sind. Wer solch abstruses Zeug im Kopf behalten kann, ist nicht zwangsweise für die klinische Tätigkeit geeignet.
Aber ebenso wenig sind die mündlichen Noten verwertbar. Denn die sind extrem abhängig vom jeweiligen Prüfer. Studien über mündliche Noten in Schulen belegen daß. Warum sollten Universitätsprüfer anders sein?
Man muß sich vielleicht einen anderen Prüfungsweg überlegen. Und vielleicht mal wichtiges Zeug fragen.

Tokay