PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Wie normal sind katastrophale Arbeitsbedingungen?



Seiten : [1] 2 3

philber
10.12.2019, 14:30
Hallo!

Ich bin seit knapp einem halben Jahr in meiner zweiten Assistenzarztstelle, und zwar in einer kleineren Chirurgie in einem größeren Haus in einer sehr großen und beliebten Stadt. Meine erste Stelle war recht komfortabel und ich war darauf eingestellt, dass es an meinem neuen Haus wahrscheinlich nicht so zugeht, aber ich dachte mir, wenn es wirklich mies wäre, würde ja keiner dort arbeiten. Was mich erwartet hat, hat mich dann doch schockiert:

Es gibt einen festen Stationsarzt für eine Station mit 30-40 Patienten. Der kümmert sich um Visite, Arztbriefe, Entlassungen, Angehörigengespräche, Überbringen schlechter Diagnosen, weiteren Papierkram etc. Außerdem wird im Tagesprogramm für jeden OP-Saal (1-3 je nach Wochentag) ein Assistent eingeplant, dazu noch einer (oder an guten Tagen zwei) für elektive Aufnahmen (1-6 pro Tag), Notfälle, Konsile und die Patienten auf der ITS. Wer mit seinen Aufgaben fertig ist, soll dem Stationsarzt bei der Stationsarbeit helfen. Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, dass das meistens nichts wird. Die Stationsarbeit ist bis Feierabend niemals erledigt, der Stationsarzt sitzt dann noch zwei bezahlte und auch einige unbezahlte Arbeitsstunden auf der Station, vieles fällt hinten runter, die Patientenversorgung ist miserabel. Auch Aufnahmen und ITS/Notfälle können mal länger dauern, nicht selten sitzen abends um 8-9 Uhr noch drei Assistenten auf der Station, der Dienstarzt will meist auch keine alten Aufgaben vom Tag übernehmen. Die Oberärzte sowieso nicht. An schlechten Tagen - entweder weil Überstunden abgebaut werden müssen, einer im Urlaub oder krank ist - sind überhaupt nur zwei oder drei Leute im Haus, die das gesamte Tagesprogramm stemmen müssen. OP-Assistenzen fallen da als erstes raus, dann operieren die Ober- und Fachärzte alleine.

Mir wurde also schnell klar, warum in diesem Sommer insgesamt drei Stellen neu besetzt wurden und bald die nächste frei wird. Meine vermutlich auch. Was mir aber nicht klar ist, ist, warum immer noch drei alte Assistenten dort arbeiten, die diese Bedingungen schon so lange mitmachen. In meiner vorherigen Stelle und im PJ habe ich so etwas noch nie erlebt. Die Kollegen kennen es vielleicht nur so. Was sind eure Erfahrungen, ist das heutzutage immer noch so üblich? Liegt es daran, dass es ein kleineres Fach mit wenig konkurrierenden Kliniken in einer beliebten Stadt ist? Wie kann man was ändern, wenn die Altassistenten sich nie beschweren, die Oberärzte alles abblocken und der Chefarzt nichts mitbekommt?

Mano
10.12.2019, 14:38
Gibt viele Gründe, weshalb das Leute mitmachen - du hast ja schon einige genannt. Und dann sind die Prioritäten ja vielleicht auch unterschiedlich, es gibt Leute die das für ihr Ego brauchen 80 Stunden zu arbeiten und das dann hinterher als Heldentat zu stilisieren. Oder die ihre Kinder und den Ehepartner nicht mögen und froh über jede Minute auf der Arbeit sind...
Während des Studiums habe ich in einer Herzchirurgie famuliert: Dort gab es drei Assistenten die sich alle Dienste (24h) geteilt haben. Waren alle schon über 10 Jahre dort, hatte aber ihren OP-Katalog noch lange nicht voll...

JumpRopeQueen
10.12.2019, 15:47
In der Inneren am Uniklinikum, wo ich gerade PJ mache, werden die täglichen 1-2 Überstunden noch nicht mal durch Freizeit ausgeglichen, geschweige von bezahlt.

davo
10.12.2019, 15:52
@JumpRopeQueen: Da muss ich halt wirklich ganz ehrlich sagen - selbst schuld. Es gibt im PJ keine Überstunden. (Deshalb werden sie ja auch nicht bezahlt.) Wer da länger bleibt, ist selbst schuld. Haben erschreckend viele meiner Kommilitonen regelmäßig gemacht - ich nicht. Darf man sich einfach nicht gefallen lassen. Man geht pünktlich und das wars, ganz egal was irgendwer sagt.

@philber: Auch hier gilt meines Erachtens - solange sich die Assistenzärzte das gefallen lassen, wird sich nichts ändern.

McLaren422
10.12.2019, 16:10
@JumpRopeQueen: Da muss ich halt wirklich ganz ehrlich sagen - selbst schuld. Es gibt im PJ keine Überstunden. (Deshalb werden sie ja auch nicht bezahlt.) Wer da länger bleibt, ist selbst schuld. Haben erschreckend viele meiner Kommilitonen regelmäßig gemacht - ich nicht. Darf man sich einfach nicht gefallen lassen. Man geht pünktlich und das wars, ganz egal was irgendwer sagt.

@philber: Auch hier gilt meines Erachtens - solange sich die Assistenzärzte das gefallen lassen, wird sich nichts ändern.

Ich glaube bzw hoffe, dass JumpRopeQueen ihre betreuenden Ärzte meint bzgl den Überstunden. Als PJler ist man wie du richtig sagst selber dafür verantwortlich, rechtzeitig rauszukommen. Meine Ärztinnen (Innere und Chirurgie) kommen immer früh genug heim, die kriegen sogar "Ärger", wenn sie Überstunden machen. :D

Feuerblick
10.12.2019, 16:13
So ist es eigentlich auch richtig. Und wenn man eine Abteilung nicht gescheit besetzen kann oder will, dann sollten die Überstunden zumindest mal bezahlt werden. Werden sie das nicht, dann macht man keine. Punkt. Solange man den Laden am Laufen hält, bewegt sich nichts in Sachen Arbeitsbedingungen.

davo
10.12.2019, 16:25
Richtig - normalerweise würde man ja sagen, diese Arbeit ist für uns nicht machbar, also machen wir sie auch nicht. Wenn man jetzt aber durch sein tägliches Verhalten zeigt, dass sie sehr wohl machbar ist, UND auch noch darauf verzichtet, sich für die zusätzliche Arbeit bezahlen zu lassen - dann ist ja logisch, dass kein Chefarzt und kein Krankenhausbetreiber jemals was ändern wird. Voller Output UND noch bei den Kosten gespart - perfekt!

JumpRopeQueen
10.12.2019, 18:10
@davo, das sehe ich genau so. Ich mache keine Überstunden, die Rede war von Assis auf meiner Station. Jeden Tag bis 17 oder 18 Uhr da. Deren Überstunden werden nicht bezahlt und es gibt keinen Freizeitausgleich.

davo
10.12.2019, 18:12
OK, alles klar :-oopss:-)) Naja, das schreckt mich leider nicht... war in meinem Uni-Innere-PJ ganz genauso. Auch auf der Überwachungsstation mit ohnehin schon deutlich längeren regulären Dienstzeiten.

GelbeKlamotten
10.12.2019, 18:29
ist halt immer ein abwägen, ob sich ein wechsel lohnt.

Ich mache am tag im schnitt schätzungsweise 1,5 unbezahlte überstunden. Und auch einige weitere „typische“ Unzulänglichkeiten: Minusstunden bei Nachtdiensten, Durcharbeiten ohne Pause in fast jedem Dienst, einzelne extrem cholerische Oberärzte, Dazulernen aufgrund der hohen Arbeitslast meist nur möglich, wenn man länger bleibt. Bin trotzdem an meiner ersten stelle geblieben.

Im ersten Jahr will man nicht kündigen, man will ja nicht gleich aufgeben. Im zweiten Jahr denkt man „wir haben ja jetzt viele neue kollegen, es kann nur besser werden“ (was sich dann natürlich als Trugschluss entpuppt). Im dritten Jahr ist man dann vielleicht in einer „seltenen“ Rotation und will deshalb nicht weg, hat sich vielleicht gewisse Privilegien und eine gewisse Stellung bei den Oberärzten erarbeitet, kennt die Routinen im Haus und die Kollegen der anderen Fachrichtungen. Und im vierten Jahr ist dann der Facharzt schon so greifbar, dass es sich vom zeitlichen und finanziellen aufwand möglicherweise gar nicht mehr lohnt zu wechseln.

kartoffelbrei
10.12.2019, 18:34
Mir würde es in Traum nicht einfallen, an einem Haus zu arbeiten, das keine Überstunden bezahlt. Ich habe kein Problem damit, mal länger zu arbeiten oder häufig Dienste zu machen. Aber ich mache das sicher nicht für lau. An die, die das machen: habt ihr euch eigentlich schon mal ausgerechnet, wie viel Geld ihr da im Jahr verschenkt?!

nie
10.12.2019, 18:44
@davo, das sehe ich genau so. Ich mache keine Überstunden, die Rede war von Assis auf meiner Station. Jeden Tag bis 17 oder 18 Uhr da. Deren Überstunden werden nicht bezahlt und es gibt keinen Freizeitausgleich.

Wann fangen die denn an zu arbeiten? Ich arbeite an der Uni regulär bis 17 Uhr, 42 h/Woche, Dienstbeginn 8 Uhr. Mache also keine Überstunden wenn ich bis 17 Uhr da bin.

Wobei ich meine Überstunden auch bezahlt bekomme und hin und wieder auch mal FZA rausspringt.

WackenDoc
10.12.2019, 18:55
Elektronische Zeiterfasung mit Gleitzeit und 39h/Wo. Die meisten Überstunden mache ich durch die Fahrzeiten im Außendienst. Überstunden können über die Gleitzeit ausgeglichen werden oder über Gleittage. Auszahlung nur im Ausnahmefall wenn die ÜS sonst verfallen würden und es besondere Umstände gab, warum man sie aufgebaut hat.
Arbeitszeiten von mehr als 10 Stunden müssen genehmigt werden- wir sollen sie halt tunlichst nicht machen. Werden aber vom Chef freigeschaltet, wenn man sie begründen kann (z.B. längere Fahrzeit oder unabsehbar längerer Termin) und sie nicht überhand nehmen.

ehem-user-31-01-2020-1555
10.12.2019, 18:58
Durch mein Studium bin ich viel egoistischer geworden als ich vorher war. Wenn nicht gerade familiäre Bindung oder Fach mit extrem wenig Stellen das Problem sind, verstehe ich nicht, wie man überhaupt in so einer Abteilung ANFANGEN kann. Das erfährt man doch vor Vertragsunterzeichnung im Gespäch mit Assitenten.Natürlich hat Chirurgie an der Uniklinik ein gewisses Prestige. Besonders Herz- und Neurochirurgie. Aber zu welchem Preis?
Mir ist völlig schleierhaft, welche Arbeitsmoral Leute in einer solchen Klinik haben, wenn trotz täglichen Überstunden für lau die Patientenversorgung nicht gut ist.
Wenn Kliniken so skrupellos die Leute im den Lohn bringen, sind die auch in anderen Dingen skrupellos. Vor allem, wenn Fehler passieren.

An zahlreichen Beiträgen von Kollegen sieht man aber: Es gibt sehr wohl Kliniken wo es gut und gerecht abläuft.

Chirurgen und Internisten machen im Schnitt sicher mehr ÜS als Anästhesisten. Liegt es daran, dass die Anästhesisten nach den OPs nach Hause gehen und die Chirurgen dann erst die Stationsarbeit machen? Personalmangen gibt es doch auch in der Anästhesie

JumpRopeQueen
11.12.2019, 06:17
Wann fangen die denn an zu arbeiten? Ich arbeite an der Uni regulär bis 17 Uhr, 42 h/Woche, Dienstbeginn 8 Uhr. Mache also keine Überstunden wenn ich bis 17 Uhr da bin.

Wobei ich meine Überstunden auch bezahlt bekomme und hin und wieder auch mal FZA rausspringt.

Sie fangen regulär um 7:30 an und sind frühestens 17 Uhr raus.

@Hein, ich stimme dir zu, schätze nun meine Freizeit umso mehr.

Tarwah
11.12.2019, 16:17
gelöscht

Feuerblick
11.12.2019, 16:26
Was soll denn schlimmstenfalls passieren? Dass man dich rausschmeisst? Aus einem Job, den du sowieso nicht zumutbar findest und der deine Gesundheit gefährdet? So einen findest du immer irgendwo...

freak1
11.12.2019, 16:41
Das Personalbüro (die für die Abrechnungen zuständig sind), ob sie mir denn mal die >200 Stunden dann ausgleichen können, hieß es, dass diese erst mal in Freizeit ausgeglichen werden sollten.

Zumindest der TV-Ärzte ist mit den Zeiten sehr explizit. 3 Monate hat man für FZA, danach müssen sie ausgezahlt werden.
MB oder alternativ anonymen Hinweis an das Gewerbeaufsichtsamt. Finden die Unregelmäßigkeiten gibt es eine saftige Geldbuße für den Chef privat, das läutert die meisten. Denk auch daran das der Anspruch sonst irgendwann verfallen könnte!

tarumo
11.12.2019, 16:42
Ich hab geplant mal in den MB einzutreten und mir Rechtsbeihilfe zu suchen, aber momentan bin ich so erschöpft vom Arbeiten (weil sehr viele krank/schwanger geworden sind), dass ich einfach nicht dazu komme.


Pssst.. eintreten geht online in vermutlich weniger Zeitaufwand, als es gedauert hat, das ganze Posting zu verfassen. Rechtsbeistand, der über eine nette Plauderei hinausgeht, liegt dann aber im Ermessen des MB. Zum Beispiel, wenn der zitierte ÄD dort zufällig ein hohes Tier ist, dann.... Aber grundsätzlich ist es ja nicht verkehrt, eine eigene Rechtsschutzversicherung zu haben, die man auch ebenso schnell online abschließen kann.

ehem-user-31-01-2020-1555
11.12.2019, 17:29
Also ich befinde mich ja schon länger im Kampf mit dem Haus was die Überstunden betrifft.
Außerdem ist es bei uns so, dass nur eine Person krank werden muss und schon werden Leute aus ihrem URLAUB (!) bzw. frei nach Nachtdienst geholt, damit sie kurzfristig einspringen. Überstunden sind selbstverständlich, werden zwar elektronisch als Mehrarbeit erfasst, aber weder in Freizeit ausgeglichen noch bezahlt.
.

Warum lassen sich den Leute aus dem URLAUB holen? Da würde ich sagen: Ich bin gerade in Amsterdam Blumen kaufen und bleibe noch ein paar Tage.
Oder im frei/Urlaub nicht ans Telefon gehen! Oder habt ihr da auch Rufbereitschaft?