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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Psychiatrie? KJP? Psychosomatik? Rat erfahrener Kollegen gesucht



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Tr?umi
21.05.2020, 09:29
Hallo zusammen!

Sorry dass ich diesen Thread aufmache--ich habe gesehen dass ein thematisch ähnlicher gerade existiert, aber ich denke mein Anliegen ist doch ein wenig anders.

Nachdem ich Studium und anschließend Doktorarbeit geschafft habe, suche ich nun nach meiner ersten Stelle. Für mich kämen in erster Linie die Psych-Fächer in Frage. Ich fand "Innere" und "Chirurgie" gar nicht sooo schlecht im PJ, aber könnte mir eine Tätigkeit in solchen Bereichen nicht wirklich vorstellen. Die psychiatrischen Krankheitsbilder fand ich immer interessant.
Ich habe in der KJP 2 Monate famuliert und mein Wahlfach in der Psychiatrie absolviert. Mein Problem mit den Psych-Fächern ist jedoch folgendes: Ich habe größere Zweifel bzgl. der schnellen Diagnosevergabe sowie der langfristigen Wirkung der medikamentösen Therapien, v.a. im Psychiatrie und KJP (in Psychosomatik habe ich leider keine Erfahrungen machen können). Es gibt ja hauptsächlich 3 (-4) Medikamentengruppen:

1.Sedativa (wirken gut, aber nur kurzfristig anwendbar da Abhängigkeitspotenzial)
2.Antipsychotika
3.Antidepressiva
4.in KJP noch Stimulanzien

2.Antipsychotika wirken zur Symptomreduktion kurzfristig (vielleicht noch mittelfristig) gut, aber die Studienlage zeigt langfristig keinen Nutzen (bei möglichem Schaden auf --> u.a. Chicago-Studie).

3.Meine Literaturrecherchen (Studien etc.) haben ergeben, dass Antidepressiva quasi kaum eine Wirkung haben. Ich weiß natürlich, dass es viele Psychiater anders sehen aber ich bin da wirklich sehr skeptisch. Ich frage mich, bei Beachtung der Studienlage wirklich warum diese Substanzgruppe überhaupt noch auf dem Markt ist.

4.Methylphenidat wirkt sicherlich und scheint auch kurzfristig (ca. 1 Jahr) eine positive Wirkung zu haben, aber langfristig (3-6 Jahre) sind die medizierten Kinder scheinbar schlechter dran als die unmedizierten (MTA-Studie mit 3 jährigem und 6 jährigem Follow-up). Manche Kritiker sagen, dass es im sich entwickeltenden Gehirn langfristige Schäden anrichten kann.

Hinzu kommt, dass man (egal ob Kinder oder Erwachsene) die meisten Patienten noch halb zum Einnehmen überreden muss. Ist irgendwie nervig.

Ich weiß, dass viele der Studien in Ihrer Bedeutung umstritten sind und es Argumente pro/contra gibt, aber im Moment bin ich diesen Medikamenten eher negativ gegenüber eingestellt (ich würde mich nicht wohl fühlen Patienten davon zu überzeugen diese längerfristig einzunehmen).

Ein weiterer Punkt ist, dass ich manche Diagnosen (Schizophrenie, ADHS, Borderline etc.) eher sehr konservativ verteilen würde, da dem ein gewisses Stigma anhaftet und die Patienten diese "sehr persönlichen" Diagnosen auch nicht mehr loswerden. In der Praxis habe ich jedoch beobachtet, dass Diagnosen eher recht schnell verteilt werden.

So ergibt sich die Frage---bei Berücksichtigung meiner aktuellen Einstellung zu Diagnose und Therapie---ob es überhaupt Sinn macht in der Psychiatrie oder KJP anzufangen? Ich sehe da großes Konfliktpotenzial mit Fachärzten/ Oberärzten etc. Ich kann mich ja schließlich nicht allzu oft weigern zu medizieren da dies ja aktuell einen Großteil des Selbstbewusstsein der Fächer ausmacht, oder? Diagnosen müssen auch recht schnell vergeben werden. Ich bin nicht der Konfliktmensch der gerne 5 Jahre Weiterbildung macht und ständig überall aneckt.
Ich würde dazu gerne die Meinung erfahrener Kollegen hören um es besser abschätzen zu können. Ich denke, dass ich trotz des Interesses für die Psych-Fächer irgendwie zu viele Bedenken habe.

Bonnerin
21.05.2020, 09:55
Ich glaube um Medikation wirst du so oder so nicht herumkommen.
Wenn du aber ja anscheinend andere Therapieoptionen bevorzugen würdest, warum nicht für ein paar Tage in einer psychosomatischen Klinik hospitieren (falls das momentan überhaupt geht)?

Eventuell fändest du ja den Schwerpunkt der gesprächstherapeutischen Optionen besser?

Ich glaube, die beiden User rafiki und relaxometrie (oder war es Reflex?) können dir da eventuell noch mehr weiterhelfen.

Reflex
21.05.2020, 10:20
In der Weiterbildung in der Klinik egal in welcher Richtung (KJP, Psychiatrie oder Psychosomatik) wirst Du aufgrund der entsprechenden Empfehlungen der Leitlinien nicht um die Verordnung von Psychopharmaka drumherum kommen. Sie haben nun einmal einen relevanten Stellenwert in der Behandlung psychisch erkrankter Patienten je nach Erkrankungsbild und gerade in den Kliniken behandelt man ja auch eher wesentlich kränkere Patienten als im niedergelassenen Bereich. Die Verordnung von Psychopharmaka ist wie in allen anderen Bereichen auch eine Abwägung des Risiko-Nutzen Verhältnis in Abhängigkeit von der entsprechenden Leitlinie und Erkrankung. Wenn Du bereits im Vorfeld voreingenommen einer Säule der Behandlung gegenüber eingestellt bist, halte ich das für eine schlechte Voraussetzung um Patienten objektiv behandeln zu können. Rein psychotherapeutisch wirst Du maximal als ärztlicher Psychotherapeut im niedergelassenen Bereich arbeiten können. Aber selbst da werden Patienten Kombinationstherapien je nach Erkrankungsbild benötigen und ich halte es persönlich mehr als fahrlässig und unprofessionell Patienten per se von Psychopharmaka abzuraten. Mal davon ab, sind die von dir oben genannten Aussagen bzgl. Psychopharmaka wenig differenziert und beinhalten gefährliches Halbwissen.

davo
21.05.2020, 10:24
Vielleicht solltest du deine "Literaturrecherchen" mal etwas sorgfältiger durchführen :-))

Tr?umi
21.05.2020, 12:23
Vielen Dank für die Einschätzungen. Ja, das habe ich mir irgendwie gedacht, dass es mit meinen aktuellen Einstellungen eher schwierig werden würde.

@Bonnerin: Ja vielleicht sollte ich nochmal in die Psychosomatik reinschauen, aber denke dass es dort auch zu starkem Verschreiben von Antidepressiva etc. kommt. Allerdings ist der Stellenwert der Gesprächstherapie hier auch sicherlich höher.

@Reflex und @davo: Ich bin mir bewusst, dass einige der aufgeführten Punkte zwischen Kritikern und Befürwortern umstritten sind. Ich sag auch nicht, dass "ich recht habe" und die anderen liegen falsch. Vielleicht liege ich aktuell falsch und die Studienlage bzgl. der Präparate ist tatsächlich sehr viel positiver als mir aktuell bewusst ist. Ich habe eh vor mich weiterhin diesbezüglich zu informieren etc. Allerdings habe ich auch schon einiges an Zeit investiert und bin zu den aktuellen Schlüssen gekommen. Ich will hier auch keine Diskussion um die Medikation generell lostreten (ich denke die würde sich endlos erstrecken und viele Dinge sind aktuell auch einfach noch unklar bzw. sehr umstritten).

Es ging mir hauptsächlich um die Einschätzung ob es Sinn macht mit einer solchen Einschätzung überhaupt die Facharztweiterbildung anzufangen. Da scheinen wir ja wirklich derselben Meinung zu sein, dass es nicht so sinnig ist aktuell.
Gibt es , außer den entsprechenden Studien, irgendwelche Literatur die detailliert und kritisch, aber eher positiv bzgl. Psychopharmaka eingestellt ist die ich mir durchlesen könnte?

Tr?umi
21.05.2020, 16:23
Wie ist es eigentlich in den anthroposophischen Kliniken (Witten-Herdecke etc.)? Arbeiten die dort auch strikt schulmedizinisch bzw. nach Leitlinie? Oder gibt es da mehr Raum für alternative Therapiemethoden?

WackenDoc
21.05.2020, 16:26
Warum machst du nicht den sektoralen HP-Schein für Psychotherapie?

rafiki
21.05.2020, 18:24
Hallo Tr?umi,

wirklich schwieriges Thema. Zur Psychiatrie und Psychosomatik kann ich was sagen, von KJP hab ich keine Ahnung, nur indirekt, weil ich die dann 18-Jährigen Patienten bekomme, die aus oft desolater Vorbehandlung kommen.

Also, es gibt einen kleinen Patientenkreis, für die Medikamente unerlässlich sind, leider oft auch langfristig, das sind Psychosen, egal ob schizophren, organisch oder affektiv, aber bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie es derzeit oft praktiziert wird mit all den schädlichen und lebensverkürzenden Nebenwirkungen.

Bei vielen anderen Störungen kann eine symptomatisch unterstützende vorübergehende Medikation sinnvoll sein, die idealerweise bald wieder beendet wird. Dass das real nicht so ist, sondern Millionen Menschen unter Psychopharmaka stehen, ist eigentlich ein Wahnsinn, aber der Unwissenheit und dem Unwillen der klassischen Psychiatrie geschuldet, andererseits aber auch den Forderungen der Patienten.

Gute Psychiatrie - und damit meine ich eigentlich die gesamte Psychomedizin, denn die Aufspaltung in Psychiatrie und Psychosomatik ist nicht hilfreich - ist immer Beziehungsarbeit. Das heißt, das wirksame Mittel sind nicht Apparate oder Medikamente, sondern der Arzt selbst. Um dieses Mittel, also sich selbst, als Heilmittel nutzen zu können, bedarf es sehr sehr viel klinischer Erfahrung, Theoriewissen, Supervision, Selbsterfahrung. Davor schrecken viele zurück. In einer normalen Facharztausbildung wird das auch nicht erworben, es bedarf weit darüber hinausgehender Eigeninitiative.

Wenn du eine dermaßen starke Scheu vor Medikation hast, dürfte die Arbeit in der Psychiatrie real sehr kompliziert werden. Aber auch die sogenannte Psychosomatik arbeitet oft nicht wesentlich anders. Um dieses Fach ernsthaft zu betreiben, sollte man entweder bereits ein somatisches Fach praktiziert haben oder den Doppelfacharzt für die gesamte Psychomedizin anstreben, um umfassende Ein- und Überblicke zu haben.

Was Diagnosen betrifft, ist es wiederum so, dass es sehr wichtig ist, differenzieren zu können, was Psychosen und hirnorganische Störungen sind. Für alles andere, sind Diagnosen hauptsächlich sozialrechtlich/sozialmedizinisch/kassenstatistisch interessant, ansonsten eher unwichtig. Es geht niemals darum, "Diagnosen zu verteilen", sondern daraus weiterreichende Entscheidungen abzuleiten. Stigmatisierend ist niemals eine Diagnose, sondern der gesellschaftliche oder sonstige Umgang mit den betroffenen Menschen.

Tr?umi
21.05.2020, 19:24
Vielen Dank Rafiki!

Ich glaub das trifft es ziemlich gut. Ich denke ich werde zur Überbrückung etwas patientenfernes beginnen und mir währendessen nochmal Gedanken machen ob ich gegen Ende des Jahres oder nächstes Jahr eine klassische Facharztausbildung nochmal beginne. Ich brauche da noch etwas Zeit um meine eigenen Positionen Ideen, Wissen etc. zu überdenken.

Du meintest dass die Patienten aus der KJP mit desolater Vorbehandlung zu dir kommen. Könntest du das nochmal etwas genauer umreißen?

_calendula_
21.05.2020, 19:40
Einfach mal danke für das gute Posting, rafiki!

_calendula_
21.05.2020, 19:44
... dahinter wirklich gut zu werden steckt viel Eigeninitiative. Sag ich mal unabhängig vom Fach und noch viel zu lernen vor mir.

Bandwurm
21.05.2020, 21:22
Zum Thema Psychopharmaka: In beiden Fächern können Psychopharmaka ein Segen sein. Seh dass mit der Medikation auch nicht sooo eng. Auch in allen somatischen Fächern gibt es Medikationen die Teilweise umstritten sind und im Streit mit anderen Therapien stehen. Z.B. chronische Schmerzen kann man mit Psychotherapie, Chirurgie, Pharmakotherapie, Akuupunktur, ect. behandeln. Du wirst dich in jedem Fach reinentwickeln müssen.
In beiden Fächern geht es ja auch nicht nur um Psychopharmaka. In der Erwachsenenpsychiatrie ging es auch immer wieder um Multimodale Schmerztherapie, KJP Migraineeinstellung, Epilepsie, Restless legs, ect.
Ohne Psychopharmaka kann du ein bestimmten Schweregrad von Diagnosen und bestimmte Diagnosen kaum adäquat behandeln. Jemand mit einer schweren Depression hat z.B. fast nie die Konzentration für eine Psychotherapie und muss erst mal in der Lage dazu sein

Tr?umi
22.05.2020, 07:44
Warum machst du nicht den sektoralen HP-Schein für Psychotherapie?

Was genau bedeutet das?

WackenDoc
22.05.2020, 07:46
Na, du könntest nach Gutdünken Psychotherapie mit deinen Kunden betreiben ohne die ganzen bösen Medikamente. Und das auch noch ohne wesentliche Kontrollen.

Tr?umi
22.05.2020, 07:46
Zum Thema Psychopharmaka: In beiden Fächern können Psychopharmaka ein Segen sein. Seh dass mit der Medikation auch nicht sooo eng. Auch in allen somatischen Fächern gibt es Medikationen die Teilweise umstritten sind und im Streit mit anderen Therapien stehen. Z.B. chronische Schmerzen kann man mit Psychotherapie, Chirurgie, Pharmakotherapie, Akuupunktur, ect. behandeln. Du wirst dich in jedem Fach reinentwickeln müssen.
In beiden Fächern geht es ja auch nicht nur um Psychopharmaka. In der Erwachsenenpsychiatrie ging es auch immer wieder um Multimodale Schmerztherapie, KJP Migraineeinstellung, Epilepsie, Restless legs, ect.
Ohne Psychopharmaka kann du ein bestimmten Schweregrad von Diagnosen und bestimmte Diagnosen kaum adäquat behandeln. Jemand mit einer schweren Depression hat z.B. fast nie die Konzentration für eine Psychotherapie und muss erst mal in der Lage dazu sein

Ja ich denke eigentlich auch irgendwie irgendwo, dass das der Fall sein müsste, bin aber aktuell irgendwie verunsichert. Ich denke ich muss mir über die kommenden Monate eine etwas positivere Einstellung diesbezüglich zulegen.

Tr?umi
22.05.2020, 07:47
Aber wie läuft das ab? Ich mach dann nur den Psychotherapie- Kurs ohne richtige Weiterbildung?

WackenDoc
22.05.2020, 07:53
https://www.heilpraktiker-ausbildung.de/faq/kleiner-heilpraktiker/#kleiner-heilpraktiker-ausbildung

Die Voraussetzungen sind je nach Bundesland unterschiedlich.

Shairon
22.05.2020, 08:07
Sicher, dass das möglich ist für Ärzte? Es gab Urteile, die eine gleichzeitige Tätigkeit als Arzt und als Heilpraktiker verbieten. Hier stellt sich die Frage, ob nicht generell die Approbation zuerst zurückgegeben werden müsste, um die Zulassung als Heilpraktiker zu erlangen, weil beides miteinander unvereinbar ist.

Ganz generell erscheint mir das alles aber als recht seltsame Berufsentscheidung. Am Medizinstudium ist doch auch nicht alles super toll und trotzdem hat man es durchgezogen. Ich verstehe nicht, wieso man nicht einfach mal als Assistenzarzt in der Psychosomatik oder KJP startet. Man muss ja nicht alles super finden, in keinem Beruf findet man alles super. Aber es wird doch wohl zu schaffen sein, die Assistenzarztzeit ohne Rebellion und Meuterei hinter sich zu bringen und danach in eigener Praxis sein eigenes Ding zu machen. Es gibt ja sogar die Möglichkeit, einen Teil der Assistenzarztzeit bereits ambulant als Angestellter in einer Praxis zu machen.

WackenDoc
22.05.2020, 08:12
Naja-. man muss halt die Approbation zurückgeben. Aber das sollte einem für seine Überzeugung schon Wert sein.

rafiki
22.05.2020, 09:36
Naja-. man muss halt die Approbation zurückgeben. Aber das sollte einem für seine Überzeugung schon Wert sein.

Das ist mit Sicherheit der falsche Weg.
Man kann sehr wohl eine übliche Assistenzzeit durchlaufen, sich nebenher umschauen, worin man sich wirklich psychotherapeutisch weiterbilden will und diesen Weg kontinuierlich vorantreiben. Eine therapeutische Ausbildung ohne intensive klinische Erfahrung, wie es das Assistentendasein bietet, ist zwar theoretisch möglich, aber praktisch natürlich völliger Unsinn und führt zwangsläufig im besten Falle zur Nutzlosigkeit, im schlimmsten zur Patientenschädigung.

Bezüglich übernommene KJP-Patienten: Das sind natürlich solche mit schweren Störungen, die unmittelbar nach dem Erwachsenwerden weitergereicht werden. Aber oftmals habe ich den Eindruck, dass man in der KJP hauptsächlich ein Medikament kennt und wirkliche therapeutische, vor allem auch systemische Arbeit, kaum stattfindet. Denn Kinder sind ja zumeist Symptomträger schwer gestörter Familiensysteme/Eltern.