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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Transport-/Behandlunhsverweigerung



Lizard
16.08.2020, 15:54
Hallo zusammen,

ein kniffliger Fall von Transportverweigerung hat mich neulich beschäftigt.

Fall: Patient mit Typ II Diabetes (insulinpflichtig) erleidet Hypoglykämie (40mg/dl) und fällt während Malerarbeiten eine steile Treppe hinunter (ca. 10 Stufen). Äusserlich sichtbar 2 Hämatome frontal und occipital, diverse Schürfwunden und Ablederungen.
Der RD wird gerufen, der Pat hatte durch Nachbarn schon Traubenzucker bekommen und Cola getrunken.
BZ durch RD ca 100mg/dl. Nun verweigert der Patient jegliche Untersuchung oder Transport .

Notarzt (ich) wird gerufen. Pat. weiter maximal uneinsichtig, bockig, " ich habe mich schon oft verletzt, mach Sie nicht so einen Wind"
Letztlich kam eine Angehörige hinzu und konnte ihn zur Mitfahrt bewegen.

Wäre das nicht der Fall gewesen, was hättet ihr gemacht ?
- der Patient war kurz nach Hypoglyämie und potentiellem SHT meiner Meinung nach nicht zurechnungsfähig

Polizei holen? Ordnungsamt ? Richter ? Zwangseinweisung durch mich ?

Danke für eure Meinung,

Lizard

WackenDoc
16.08.2020, 16:05
Das genaue Prozedere ist je nach Landkreis unterschiedlich.
Einfachster Fall- du darfst selbst einweisen und die RA/NFS sind als "Vollzugshelfer" geschult. Schwierigerer Fall- du musst den diensthabenden Richter informieren und das Ordnungsamt ggf. Polizei hinzuziehen.
Ist auch eine Zeitfrage.

Und das nächste tricky Problem ist, dass du eigentlich nur in geschlossene Psychiatrien zwangseinweisen kannst (evtl. auch nach Bundesland unterschiedlich)- der Patient da aber nicht behandelt werden kann.

War er denn durch sein SHT so desorientiert? Oder von Hause aus so bockig?
Die Hypoglykämie kannst du nicht heranziehen. Wenn die behoben ist, besteht eigentlich volle Orientierung.

Lizard
16.08.2020, 16:15
War er denn durch sein SHT so desorientiert? Oder von Hause aus so bockig?
Tja, das war leider nicht zu eruieren. Klar, hätte jemand bestätigt, dass der immer so drauf ist, hätte ich ihn unterschreiben lassen und mich aus dem Staub gemacht.


Die Hypoglykämie kannst du nicht heranziehen. Wenn die behoben ist, besteht eigentlich volle Orientierung.
Ist das wirklich so ? Ich habe schon mehrmals erlebt, dass hypoglykäme Patienten auch bei BZ >100 noch deutlich verlangsamt und nicht orientiert waren.

WackenDoc
16.08.2020, 16:40
Naja- man kann ja erstmal klassisch den GCS bestimmen. Und was auch durchaus hilft, ist den Patienten mit eigenen Worten wiedergeben lassen, was man ihm zu den Gefahren einer Verweigerung verklickert hat. Also prüfen, ob er die Konsequenzen verstanden hat.

Je nach dem wie du dich entscheidest, musst halt extrem gut dokumentieren.

Achso- im Zweifel weiss entweder dein NEF-Fahrer oder jemadn von der RTW-Besatzung oder deine Leitstelle, wie das genaue Prozedere ist- vor allem die Frage Polizei oder Ordnungsamt.
Ich hatte den Fall erst ein einziges Mal bei einer älteren Dame, die im Pflegeheim ihre Medikamente verweigert hat. Aber nicht weil sie angesichts ihres Alters eine bewusste Entscheidung zum Therapieabbruch gefällt hat, sondern weil sie den Zusammenhang zwischen fehlender Medikamenteneinnahme und Lungenödem nicht verstanden hat und auch noch meinte die Pfleger wollten sie mit den Tabletten vergiften.
Betreuer nicht erreichbar. Lief dann über den Bereitschaftsrichter und begleitet hat die Polizei. Hat insgesamt 2 oder 3 Stunden gedauert. Achso- die Psych wollte sie natürlich nicht, weil kardiologisches Problem und die Kardio durfte sie nicht nehmen weil Einweisung nach PsychKG.

Mr. Pink online
16.08.2020, 18:24
Hat der vielleicht während der Arbeit ordentlich gesoffen? Würde den niedrigen BZ, den Sturz und den jähzornigen Charakter erklären :D Damit hättest du zumindest schon mal einen Ansatzverdacht mit dem du ihn dann notfalls mit Polizei oder aber halt mit den Jungs vom RD einkassieren kannst.

Lizard
16.08.2020, 19:16
^^nee "leider" war er nicht besoffen. Klassisch Insulin gespritzt, gearbeitet und nix gegessen.
Man konnte gar nicht mit dem reden, weil nach jedem Satz angefangen hat zu schreien, dass er gaaaanz sicher keine Hirnblutung habe und auch auf jeden Fall überhaupt nicht Treppe runtergefallen sei. :-oopss

Naja, ich hoffe es bleibt bei vereinzelten Konfrontationen dieser Art ;)

DA1994
16.08.2020, 19:41
Polizei dazuholen, die kann den Patienten in Gewahrsam nehmen und einem Krankenhaus zuführen, sofern Gefahr für Leib und Leben besteht. Dafür verlassen sie sich in der Regel auf ein ärztliches Zeugnis
Von dort kann ggf. ein Richter involviert werden und eine Notfall-Betreuung initiiert werden.

Zwangseinweisungen direkt sind nur in ein psychiatrisches Krankenhaus möglich. Ohne Polizei besteht hier keine Handlungskompetenz außer Gesprächstherapie

WackenDoc
16.08.2020, 20:15
Ah stimmt- das war das. Gewahrsamsnahme und Zuführung in ein Krankenhaus vs PsychKG. Danke für die Erinnerung DA1994. Das hatte ich nicht mehr auf dem Schirm.

Also wenn er sich nicht an den Sturz erinnert und das auch nicht im Gedächtnis bleibt, dann ist das eine Indikation für´s Krankenhaus.

Aber ja- die Konstellation ist nicht soo häufig. Die meisten bekommt man überredet oder sie sind so neben der Spur, dass sie sich nicht klar äußern können oder man kann sie halbwegs ruhigen Gewissens vor Ort lassen.

Sebastian1
16.08.2020, 22:55
Ist eigentlich relativ einfach.
Unterschiedliches Prozedere zwischen Städten/Landkreisen ist egal, maßgeblich ist das PsychKG des Landes, die Organisation auf kommunaler Ebene ist durchaus unterschiedlich, dient aber zum Handling derselben Sachlage. Ob das dann durch Feuerwehr, Ordnungsamt o.a. organisiert ist, muss den Notarzt nicht interessieren, da er nur das ärztliche Zeugnis beisteuert.
Hinterher kommt eh die richterliche und fachpsychiatrische Begutachtung, wenn Unterbringung gem PsychKG erfolgt.

Für den konkreten Fall vor Ort heisst das:
Ist der Patient JETZT orientiert und in der Lage, die Folgen seines Handelns alltagsadäquat einzuschätzen?
Dann kein PsychKG oder keine Zwangsunterbringung.

Hat er Symptome einer Commotio, ist schwer intoxikiert, fremd- oder selbstgefährdend? Dann eben durchsetzen.

Interessant auch bei Patienten mit chron Abusus...man wird ja nicht jeden Spiegeltrinker mit 1,x Promille oder jeden IVDU zwangseinweisen, nur weil er auf seinem Stoff ist.

DA1994
17.08.2020, 20:43
Das PsychKG spielt bei somatische erkrankten Patienten keine Rolle. Hat der Patient eine Commotio und kann die Folgen seines Handelns nicht abschätzen, dann ist er nicht einwilligungs- und steuerungsfähig und man trifft als Arzt die Entscheidungen.

Sebastian1
18.08.2020, 13:06
Daher schrieb ich ja:



Dann kein PsychKG oder keine Zwangsunterbringung.

DA1994
22.08.2020, 20:11
Nun, Zwangsunterbringung ist auch ein Begriff aus dem Bereich der Zwangsbehandlung/Verwahrung von psychisch kranken Personen, aber du meintest anscheinend die Vorstellung im KH gegen den Willen des Patienten

Markus-HEX
23.08.2020, 17:07
Ich hätte den Patienten auch mit Hilfe der Polizei (meistens reicht ja die kurze Anwesenheit und der böse Blick) im Rahmen einer akuten nicht Einsichtsfähigkeit ("ich bin nicht die Treppe runtergefallen" vs. objektivem Sturzgeschehen als deutliches Anzeichen einer kognitiven Beeinträchtigung) und einer akuten Selbstgefährdung (Schädelhirntrauma) in ein somatisches krankenhaus gebracht.

Schwieriger wäre der Fall mit der alten Dame, die mit dem Vergiftungswahn psychiatrische Symptome zeigt, dennoch primär erst mal eine kardiologische Behandlung braucht. So etwas sind dann die aufwendigen Fälle, die viel telefonieren erfordern, leider gibt es kaum psychiatrische Abteilungen im gleichen Gebäude mit Kardio/Unfallchirurgie - und falls doch, sind die voll oder nicht zuständig - so dass man hier erst mal organisatorische Probleme zu lösen hat.