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mbs
03.01.2021, 03:25
Ich habe eine Frage zur Diagnostik und Therapie eines in der Präklinik extrem häufig anzutreffenden Krankheitsbildes: Krampfanfällen.

Wie ich lernen durfte gibt es neben "echten" auch so genannte "psychogene" Krampfanfälle - wobei mir nach wie vor unklar ist, wie man das eine vom anderen unterscheiden will, vor allem präklinisch. In den wenigsten Fällen kann nämlich während eines Anfalls ein EEG abgeleitet werden, und von dessen Ergebnis scheint es ja abzuhängen ob ein Krampfanfall "echt" oder "psychogen" ist.

Auch sollen bei psychogenen Krampfanfällen keine retrograde Amnesie oder postiktalen Dämmerzustände auftreten. Kann man es daran festmachen? Werden die Patienten bei psychogenen Krampfanfällen schneller wieder wach und voll orientiert und können sich an alles erinnern? Und wie würde man einen vermeintlich psychogen bedingten Krampfanfall behandeln? Sind Benzodiazepine kontraindiziert? Wüsste andererseits vor allem präklinisch auch nicht was man da "psychologisch" therapieren oder sagen sollte. Und irgendwas muss ja gemacht werden.

Eigentlich ging ich immer davon aus, dass Krampfanfälle in der Regel sekundär auf bestimmte organische Ursachen zurückzuführen sind - bis ich eben von "psychogenen" oder "dissoziativen" Anfallsmustern gehört habe. Spezifische Handlungsempfehlungen konnte ich dazu bislang jedenfalls noch nicht finden - außer kurze Sätze wie "Psychotherapie", was für das Handling aber natürlich erstmal wenig hilfreich ist. Vor allem präklinisch wenn eben kein Neurologe oder Psychiater zur Verfügung steht.

Mich würde auch interessieren wie man diese Patienten zu "bewerten" oder einzuschätzen hat. Sind die bei Bewusstsein? Kriegen die das mit? Was geht in dem Moment in diesen vor, was "denken" die sich dabei? Wie nehmen die das wahr? Vergleichbar mit jemandem der einen "normalen" Krampfanfall hat?

Habt ihr irgendwelche weiterführenden Informationen oder Handlungsempfehlungen dazu? Oder auch eigene Erfahrungen zu berichten?

davo
03.01.2021, 05:39
Guter Übersichtsartikel zum Thema:

https://www.aerzteblatt.de/archiv/138445/Dissoziative-Anfaelle-Eine-Herausforderung-fuer-Neurologen-und-Psychotherapeuten

Zu deiner eigentlichen Frage des präklinischen bzw. akuten Vorgehens:

https://aepi.biomedcentral.com/articles/10.1186/s42494-020-00016-y

Aus meiner Sicht als Psychiatrie-Anfänger:

Wenn jemand nicht intoxikiert/sediert ist, keine schwere Lungenfunktionsstörung hat, keine Schlafapnoe hat, keine Myasthenia gravis hat, kann man mit einem Benzo eigentlich nicht groß was falsch machen.

Auch ein schnell durchgeführtes postiktales EEG kann informativ sein. Und wiederholte postiktale/interiktale EEGs erreichen eine ziemlich hohe Sensitivität. Wenn das EEG trotz Provokation wiederholt keine ETP zeigt, ist eine Epilepsie also zumindest wenig wahrscheinlich. Wenn es hingegen ETP zeigt, ist eine Epilepsie fast sicher (Spezifität sehr hoch).

Bin schon gespannt, was die Experten dazu sagen ;-)

mbs
05.01.2021, 23:23
Hab erlebt dass einmal diese Diagnose gestellt wurde ohne dass man überhaupt ein EEG gemacht hat, weil der Anfall zu schnell wieder vorbei war. Der Patient hatte aber eine retrograde Amnesie und einen postiktalen Dämmerzustand, zumindest hätte man als Nicht-Neurologie den Eindruck gehabt dass so was vorliegt, alles an dem schien irgendwie verlangsamt.

Für mich hat es ja keine Relevanz, aber interessant wäre es schon zu wissen wie man in dem Fall dann auf so eine Diagnose kommt. Sieht das jemand der sich damit auskennt auf den ersten Blick?

Und wäre es präklinisch wenn man aus irgendeinem Grund den Verdacht hat dass es "nur" psychogen ist vertretbar kein Benzodiazepin zu geben, auch auf das Risiko hin dass ein echter Krampfanfall nicht adäquat behandelt bliebe? Vor allem wenn jemand krampft ist die Applikation ja auch nicht trivial, weil dann ja nicht eben mal schnell ein Zugang etabliert werden kann.

Rein aus Interesse würde ich auch gern wissen wie sich das für die Patienten anfühlt - wie eine Art Nervenzusammenbruch? Oder wie eine akute Psychose? Das Bewusstsein scheint ja nicht verloren zu gehen.

davo
06.01.2021, 02:14
All deine Fragen werden eigentlich in den von mir verlinkten Artikeln diskutiert. Hast du sie gelesen?

Kandra
06.01.2021, 08:38
Und wäre es präklinisch wenn man aus irgendeinem Grund den Verdacht hat dass es "nur" psychogen ist vertretbar kein Benzodiazepin zu geben, auch auf das Risiko hin dass ein echter Krampfanfall nicht adäquat behandelt bliebe? Vor allem wenn jemand krampft ist die Applikation ja auch nicht trivial, weil dann ja nicht eben mal schnell ein Zugang etabliert werden kann.


Du musst keinen Zugang legen um jemandem ein Benzo zu verabreichen.

mbs
07.01.2021, 00:01
Habe ich, ja, aber viele Informationen leuchten mir nicht ganz ein, so wie beispielsweise die Tatsache, dass diese Ursache wohl erst nach sehr langer Zeit erkannt wird - im beschriebenen Fall wurde die Diagnose direkt gestellt, wohl schon bei Erstmanifestation. Auch lag da ein retrograde Amnesie und ein Bewusstseinsverlust vor, was bei psychogenen Anfällen wohl eher untypisch sein soll.
Ebenso dachte ich, dass man aus einem negativen EEG nur bedingt was ableiten kann, da wohl auch nach echten Anfällen scheinbar zum Teil gar nichtmal elektrophysiologische Auffälligkeiten dokumentierbar sind.

Die Realität scheint jedenfalls doch komplexer zu sein als die Theorie. Es mag aber unter Umständen sein, dass im von mir geschilderten Fall vielleicht auch eine Fehldiagnose gestellt und dem Patienten "Unrecht" getan wurde. Es gibt ja keinen Labortest mit dem man zweifelsfrei feststellen könnte welche Anfallsform nun vorlag oder nicht.

Wie sind denn eure Erfahrungen zur Wirksamkeit von Benzodiazepinen bei psychogenen Krampfanfällen? Müsste man präklinisch noch irgendwas anderes verabreichen oder beachten? Was geht in solchen Patienten vor? Wenn man sich das alles so durchliest gewinnt man ja fast den Eindruck die würden simulieren oder was vorspielen, was aber sicher nicht der Fall ist, für die mag es sich real anfühlen - oder täusche ich mich? Natürlich hat das noch keiner hier am eigenen Leib erlebt, aber wer in dem Bereich schon länger arbeitet hat vielleicht ein paar mehr Berichte dazu gehört.

Brutus
07.01.2021, 07:52
Aus meiner Sicht als Psychiatrie-Anfänger:

Wenn jemand nicht intoxikiert/sediert ist, keine schwere Lungenfunktionsstörung hat, keine Schlafapnoe hat, keine Myasthenia gravis hat, kann man mit einem Benzo eigentlich nicht groß was falsch machen.

Tja, und genau die Infos werde ich in den seltensten Fällen präklinisch haben. Im Zweifel: rein damit. :-nix
EEG habe ich im Auto halt auch nicht. ;-)


Und wäre es präklinisch wenn man aus irgendeinem Grund den Verdacht hat dass es "nur" psychogen ist vertretbar kein Benzodiazepin zu geben, auch auf das Risiko hin dass ein echter Krampfanfall nicht adäquat behandelt bliebe? Vor allem wenn jemand krampft ist die Applikation ja auch nicht trivial, weil dann ja nicht eben mal schnell ein Zugang etabliert werden kann.
Siehe oben. Im Zweifel halt rein damit. Mit den Jahren wirst Du auch ruhiger, Brauner! Erstmal: die meisten gemeldeten Krampfanfälle sind vorbei, wenn ich ankomme. ;-)
Wenn wirklich noch jemand krampft, dann kriegt er auch sein Benzo. Es sein denn, er ist bekennender Schauspieler (und glaube mir, der Rettungsdienst und irgendwann auch Du kennt diese Schauspieler). Und beim Krampf ist es manchmal auch gut, erstmal zu gucken und zu warten (selbstlimitierend? generalisiert? fokal?). Und im Zweifel... ... ... kennste ja jetzt. ;-)
Und Dormicum geht super nasal. Ohne Zugang.


Rein aus Interesse würde ich auch gern wissen wie sich das für die Patienten anfühlt - wie eine Art Nervenzusammenbruch? Oder wie eine akute Psychose? Das Bewusstsein scheint ja nicht verloren zu gehen.
Wenn es nicht fokal ist, können sich die meisten Patienten gar nicht dran erinnern... Vielleicht noch, wie es losgeht, Stichwort Aura...


Wie sind denn eure Erfahrungen zur Wirksamkeit von Benzodiazepinen bei psychogenen Krampfanfällen? Müsste man präklinisch noch irgendwas anderes verabreichen oder beachten? Was geht in solchen Patienten vor? Wenn man sich das alles so durchliest gewinnt man ja fast den Eindruck die würden simulieren oder was vorspielen, was aber sicher nicht der Fall ist, für die mag es sich real anfühlen - oder täusche ich mich? Natürlich hat das noch keiner hier am eigenen Leib erlebt, aber wer in dem Bereich schon länger arbeitet hat vielleicht ein paar mehr Berichte dazu gehört.
Wirksamkeit von Dormicum? Ja, wirkt! Egal ob psychogen oder echt. Und was willst Du noch verspritzen? Mischintoxikation? Ein bisschen vom Dormicum, ein bisschen vom Rivotril? Oder doch Valium? Bisschen Propofol dazu?
Bleib bei EINER Substanz, die Du kennst, und gut ist. Wenns nicht aufhört, mehr. Zumal Du auf dem Auto eh meistens nur eine Substanz hast. Und in der Klinik nimmt man das, was Chef will. ;-)

Anne1970
08.01.2021, 06:53
Präklinisch könnte man ein paar Unterscheidungsmerkmale nennen: ist das Geschehen durch Ansprache zu unterbrechen? Werden die Augen zusammengekniffen? Sind die Bewegungen bizarr und nicht auf einen Bereich beschränkt? Die sofortige Orientierung danach kann an sich ein Hinweis sein, ist aber auch bei Frontallappenepilepsie häufig. Psychogene Anfälle kommen auch bei Pat mit nachgewiesener Epilepsie ( oder auch bei Leuten mit Angehörigen, die Epilepsie haben) vor. Daher: wenn Erstereignis oder prolongiert oder im Zweifel: neurologische Vorstellung.

mbs
09.01.2021, 02:23
Danke Brutus und Anne für eure Antworten!

Können die Patienten solche Anfälle steuern und was genau ist der Unterschied zwischen Schauspielern und psychogenen Krampfanfällen? Jemand der einen Anfall vorspielt dürfte ja auch ein psychisches Problem in irgendeiner Form haben. Die Bewegungsform ist tatsächlich etwas was ich noch nicht wirklich bedacht habe, als Nicht-Neurologe erscheint ja jedes Zucken mit Nichtansprechbarkeit wie ein "Krampfanfall".

Sind Patienten die psychogene Krampfanfälle haben auch notwendigerweise immer psychiatrisch krank? Oder bezieht sich der Begriff primär auf die fehlenden elektrophysiologischen Veränderungen?

rafiki
09.01.2021, 05:26
was genau ist der Unterschied zwischen Schauspielern und psychogenen Krampfanfällen?
Jemand der einen Anfall vorspielt dürfte ja auch ein psychisches Problem in irgendeiner Form haben.

Es gibt noch die Unterscheidung zwischen Simulation und artifizieller Störung im Sinne von "Schauspiel", das heisst nicht auf dissoziativer Ebene Ablaufendes. Beides dürfte in diesem Zusammenhang äußerst selten sein. Eine artifizielle Störung ist ein schweres psychiatrisches Krankheitsbild.



Sind Patienten die psychogene Krampfanfälle haben auch notwendigerweise immer psychiatrisch krank?

Ja, und zwar schwer gestört. Das sind sog. dissoziative Störungen, zumeist im Rahmen schwerer Komplextraumatisierungen bzw. tiefgreifender Persönlichkeitsstörungen.

mbs
10.01.2021, 04:32
Danke, wusste nicht dass psychogene Krampfanfälle nur bei diesem Krankheitsbild vorkommen.
Hab nochmal was zu dissoziativen Störungen gelesen, aber auch da scheint es so, dass keine Amnesie besteht.
Bei dem Anfall den ich mal gesehen habe begann das ganze wohl mit einer Sprachstörung, die Sprachmuskulatur hat wohl ihr Eigenleben geführt, und dann kam es zu einem Bewusstseinsverlust, auch einer geringfügigen Verletzung durch Anstoßen. Danach bestand eine retrograde Amnesie und derjenige wirkte stark verlangsamt. Passt das wirklich zu einem psychogenen oder "dissoziativen" Krampfanfall? Oder ist das untypisch und man hat vielleicht doch ein somatisches Problem übersehen?

rafiki
10.01.2021, 05:45
Ca. 10% der Epileptiker haben zusätzlich psychogene Anfälle.

Hab einen ganz hübschen Artikel zum Thema gefunden: https://www.hippocampus.de/media/316/cms_5b7e84e15ab43.pdf

Anne1970
10.01.2021, 06:54
Super Artikel! Danke rafiki.

WackenDoc
10.01.2021, 09:42
Man kann anhand deiner Beschreibung nicht sagen, ob es ein psychogener Krampfanfall war oder nicht. Primär würde ich da nicht unbedingt an "psychogen" denken. Warum auch.

Präklinisch hast du außer ein paar Hinweisen nichts mit dem du es unterscheiden kannst.

Und psychogen ist nicht unbedingt artifiziell.