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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Medizinstudium oder Informatik



Heiko Mueller
10.04.2022, 19:54
Guten Abend allerseits,

ich studiere aktuell im zweiten Semester medizinische Informatik. Das Studium habe ich mit dem Ziel aufgenommen, anschließend beispielsweise die Software und Geräte zu entwickeln, die Ärzte dann bei Diagnosen und Behandlungen unterstützen.

In der letzten Zeit zweifle ich allerdings öfters daran, ob diese Entscheidung und das Ziel, das ich verfolge noch zu mir passen. Ich habe immer häufiger Probleme mit der langen Arbeit am PC. Ich bekomme Augen- und Kopfschmerzen und besonders glücklich macht mich das Programmieren etc. aktuell auch nicht. Wenn ich mir überlege, was ich bislang in meinem Studium gelernt habe und was laut Modulkatalog noch ansteht, zweifle ich auch ganz stark daran, ob das Studium überhaupt dazu qualifiziert, halbwegs kompetent in einem medizinischen Feld arbeiten zu können. Gefühlt 90% des Studiums muss nämlich ganz klar der Informatik zugeordnet werden.

Als Alternative habe ich deshalb darüber nachgedacht, Medizin zu studieren. Das war ein Gedanken, der mir schon seit eh und je durch den Kopf geht, den ich allerdings immer direkt wieder verworfen habe, weil ich kein Interesse daran habe, Patienten "körperlich zu behandeln". Fachrichtungen wie die Innere, Chirurgie und Co. kommen für mich also auf gar keinen Fall in Frage.
Es gibt allerdings ein paar Fachrichtungen, die es mir ziemlich angetan haben. Die "patientenferne" Fächer wie Pathologie, Laboratoriumsmedizin, Mikrobiologie und Co. klingen für mich beispielsweise sehr spannend.
Natürlich ist mir klar, dass ich nicht gänzlich darum herumkomme, Patienten während des Studium und der Facharztausbildung auch körperlich zu behandeln. Das ist für mich aber auch überhaupt kein Problem. Es ist lediglich nicht die Tätigkeit, die ich zu meinen Beruf machen und für den Rest meines Lebens ausüben möchte.

Grundsätzlich bringe ich auch ein ernsthaftes Interesse für Naturwissenschaften und Medizin mit.
Primär wäre es mir aber wichtig, einfach einen halbwegs sicheren Job zu finden. Da klingt das Medizinstudium mit dem klar definierten Ziel Arzt im Vergleich zum weitläufigen Begriff Informatiker schon sehr verlockend und krisensicher.

Nun würde ich mich sehr freuen, wenn ihr mir sagen könntet, wie ihr über das Thema denkt. Manchmal ist die Meinung eines Außenstehenden ja doch sehr hilfreich, wenn man sich ein wenig verrannt hat.
Außerdem würde ich mich auch sehr dafür interessieren, wie die Arbeitsbedingungen in diesen Fächern so sind. Kann man im langfristigen Durchschnitt eine 40-Stunde-Woche (ohne enorme Überstunden) arbeiten oder schenkt es sich wenig zu den Internisten und Chirurgen?
Klasse wäre es auch, wenn ihr eure Meinung darüber teilen könntet, wie schwer es ist, eine Stelle für die Facharztausbildung in einem dieser Fächer zu bekommen. Kann man sich seine Fachrichtung weitestgehend frei aussuchen, oder muss man durchaus akzeptieren, was einem angeboten wird?

Liebe Grüße,
Heiko

Bonnerin
12.04.2022, 07:04
Ich arbeite in einem der von erwähnten, patientenfernen Fächer, nämlich der Laboratoriumsmedizin. Fast mein gesamter Arbeitstag spielt sich vor einem Computerbildschirm ab - bread and butter der Fachrichtung ist nämlich die medizinische Validation, und ansonsten hat man auch Videokonferenzen etc. Natürlich ist man auch mal im Labor, z.B. zum Mikroskopieren oder in der PCR, oder wenn man was mit den TAs besprechen muss, aber wenn du sagst, dass dir Bildschirmarbeit nicht zusagt, rate ich explizit von Laboratoriumsmedizin ab. Meine Kolleg:innen, die Hygiene bzw. Mibi machen, sitzen nur etwas weniger vor dem Rechner, unterbrochen durch Ablesen, Begehungen, Mibi-Visite etc. In der Patho sitzt man viel vor dem Mikroskop und schreibt auch die Befunde. Das sind alles Fachrichtungen, in denen Leute sitzen, die einfach nix dagegen haben, gerne viel am Rechner zu sitzen.
Unabhängig davon empfehle ich dir, mal einen Augenarzt aufzusuchen. Eventuell benötigst du eine Bildschirmarbeitsbrille. Oder du schaust auch mal nach, wie man seinen Arbeitsplatz korrekt ausleuchtet, etc.

Ansonsten: Ja, regelhaft 40h, allerdings mit Rufbereitschaften zwischendurch und aktuell mit Sonderarbeitszeiten wegen Covid. Das wird allerdings im homeoffice gemacht, am gestellten Dienstlaptop. Die Arbeitsbedingungen sind deutlich besser als das, was ich aus der Klinik kenne. Ich würde den Schritt auch jederzeit wieder machen. Die Marktlage für Jobsuchende in der "Laborfächer" ist momentan recht günstig, weil viele Kolleg:innen bald in Ruhestand gehen werden. Man ist allerdings schon ziemlich an die Ballungsgebiete gebunden. Es gibt nur noch wenige inhabergeführte Medizinlabore. Die meisten sind Teil einer der großen Laborketten, mit allen generellen Vor- und Nachteilen der Privatwirtschaft.

Aktuell gibt es aber - auch durch die nochmals massive Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durch Covid in der Patientenversorgung - durchaus eine leicht steigende Bewerberzahl. Wie die Situation in den Laborfächern dann aussieht, wenn es für dich relevant würde, nämlich in 7+ Jahren, kann ich nicht sagen.

Auf rein persönlicher Ebene würde ich allerdings von einem leichtfertigen Wechselversuch abraten. Schau mal in den Arzt-Bereich rein und schnupper mal in den VKA-Verhandlungsthread und den "Investoren kaufen Praxen"-Thread auf, um mal ein Bild jenseits der normalen Presse zu bekommem. Gerade im Zuge von Covid sind wir Ärzt:innen von Politik, Kliniken, Gesundheitsämtern etc. absolut massiv verarscht worden. Wir waren genauso an der Front wie die Pflege, Wertschätzung gabs für uns allerdings keine. Ich habe nur bei meinem aktuellen AG tatsächlich einen Covid-Bonus und jetzt einen Tag Sonderurlaub bekommen, in der Klinik wurde man ausgelacht.
Im Hinblick darauf, dass man sich ausmalen kann, wie es bei einer eventuell kommenden, schlimmeren Pandemie sein wird, bin ich heilfroh, aus der Patientenversorgung raus zu sein. Klar, man muss auch mal Covid-Überstunden kloppen, die Bezahlung ist aber sehr gut und das Ansteckungsrisiko nicht höher als das der Normalbevölkerung.

P.S. Wenn ich nochmal 19 wäre und gerade Abi hätte, würde ich wohl Maschinenbau machen.

Heiko Mueller
12.04.2022, 13:07
Vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Zu hören, wie die Arbeit eines Laboratoriumsmediziner tatsächlich aussieht, ist für mich sehr hilfreich.
Auf die Idee, dass mir dieses Fachgebiet liegen könnte, bin ich ehrlich gesagt durch ein Schnupperpraktikum in der Pharmaindustrie gekommen. Dort war ich in einem Labor, in dem man daran gearbeitet hat, neue Wirkstoffe für Medikamente zu entwickeln. Natürlich gab es auch dort Arbeit am PC und Papierkram, der erledigt werden musst. Einen wesentlichen Teil der Arbeitszeit hat man allerdings auch damit verbracht, im Labor zu arbeiten und beispielweise Stoffe auf ihre Eigenschaften zu analysieren.
Natürlich ist Labor nicht gleich Labor, dass man aber als Arzt wirklich nur einen sehr geringen Teil der Arbeitszeit im Labor verbringen soll, hat mich dann doch überrascht.
Über die Arbeit als Pathologe habe ich dann ein etwas klareres Bild. Hier durfte ich auch mal ein kurzes Praktikum machen, das mir eigentlich ganz gut gefallen hat. Speziell in der Pathologie, in der ich gewesen bin, hat sich die reine "Büroarbeit" eigentlich sehr in Grenzen gehalten. Letztendlich hat man hier ja praktisch täglich die Gelegenheit, mal eine Probe zu analysieren oder muss auch mal eine Obduktion durchführen. Das würde mir als Abwechslung schon völlig ausreichen.

Die Bildschirmarbeitsbrille ist tatsächlich schon auf dem Weg - auf Empfehlung meines Optikers. Beim Augenarzt war ich ebenfalls. Zweimal sogar. Bei beiden Ärzten ergebnislos. Um ehrlich zu sein ist das aber vielleicht auch einfach Jammern auf sehr hohem Niveau.

Meinst du, die Arbeitszeiten und Arbeitsbedingung in der Pathologie sind ähnlich gut, wie in deinem Fachbereich? Hier im Forum kann man ja beispielweise auch zahlreiche Pathologen finden, die sich über regelmäßige 60-Stunden-Wochen beschweren. Sieht das nun anders aus, wenn man keine großartigen Forschungsambitionen hat und einfach nur "ein normaler Pathologe" sein möchte, der auch für Familie und Freizeit noch Zeit hat?

Die Zukunftsperspektiven nach dem Medizinstudium sind einfach schon enorm vielversprechend. Die gesellschaftliche Entwicklung spielt den Ärzte praktisch voll in die Karten und eine Überangebot an Ärzten wird alleine schon durch die begrenzte Anzahl an Studienplätzen stark eingegrenzt. Um Outsourcing der Arbeitsplätze müssen sich Ärzte wohl auch wesentlich weniger Sorgen machen, als ein Informatiker. Bei Informatik habe ich mir jetzt eben einen absoluten Trendstudiengang ausgesucht bei dem ich ehrlich gesagt große Sorgen darum habe, anschließend eine enorm starke Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu haben.

Ich glaube wirklich, dass ich thematisch sowohl in der Medizin, als auch in der Informatik nicht unglaublich schlecht aufgehoben wäre. Wenn ich meine Entscheidung jetzt nun einmal einzig daran festmachen möchte, wie meine Chancen stehen, nach einem durchschnittlichen Studium eine simple 40-Stunden-Woche in einem möglichst sicheren Beruf arbeiten zu können, für welches Studium müsste ich mich deiner Meinung nach entscheiden?

Klar gibt es Überstunden. Die gibt es aber auch für Informatiker. Und dort hat man die Probleme und Vorteile der Privatwirtschaft ganz klar ebenfalls. Die Leiden der Mediziner kenne ich ebenfalls sehr gut. Ich habe nach meinem Abitur 4 Jahre in der Firma meines Vaters gearbeitet. Diese war im Private Equity tätig und hatte einen klaren Fokus auf Arztpraxen, MVZs und Co.. Genau von dieser Berufserfahrung kommt bei mir der Wunsche nach einer 40-Stunden-Woche, einem sicheren Arbeitsplatz und möglichst großer Unabhängigkeit von der wirtschaftlichen Konjunktur. Das alles spricht für mich sehr dafür, zum Medizinstudium zu wechseln.

Bonnerin
13.04.2022, 06:23
Ganz klar: Das Praktikum hatte nix mit Laboratoriumsmedizin zu tun. Eventuell wird da der ein oder andere Arzt gearbeitet haben, der vielleicht einen FA in dem Bereich hat. Aber das ist wirklich auch alles. Entwickelt wird gar nichts, Medikamentenanalysen laufen über die HPLC im Regelfall in Form einer Spiegelbestimmung von bekannten Präparaten (z.B. Tacrolismus, Ciclosporin). https://aerztestellen.aerzteblatt.de/de/redaktion/facharzt-weiterbildung-laboratoriumsmedizin Da haben sie die Weiterbildung mal aufgedröselt.
Ich würde eher mal tippen, dass das Grenzbereich in Richtung Pharmakologie/Toxikologie war, den du dir da angeschaut hast.
Wie gesagt, man ist als Laboratoriumsmediziner durchaus auch im Labor (also unten bin ich eigentlich täglich), aber man ist halt eben eher dafür verantwortlich, dass das Labor insgesamt läuft. Auch als Ärztin in Weiterbildung sitze ich teils in mehreren Telkos und Videokonferenzen am Tag, das wäre so ganz grob das labormedizinische Äquivalent zu einer Visite im Krankenhaus. Im direkten Vergleich ziehe ich das aber ganz klar irgendwelchen CA- oder OA-Visiten vor.

Zur Pathologie kann ich wenig sagen. Ich arbeite an einem großen Labor, aber wir haben keine eigene Pathologie. Zwar geht auch in der Pathologie der Trend stark zur Ausgliederung in den ambulanten Sektor, aber ob du irgendetwas verpassen würdest, wenn du nur im ambulanten Bereich die Weiterbildung machst, weiß ich nicht. Da müsstest du im Pathologen-Thread nachschauen.

Das Outsourcing nach Indien ist sicher in der Medizin keine große Sorge. Ich empfehle dir aber trotzdem nochmal sehr, sehr dringlich, die im 1. Post genannten Threads zu lesen. Covid hat als Brandbeschleuniger für viele Missstände im Gesundheitssystem gewirkt, aber der Rückhalt von Medien und Allgemeinbevölkerung ist quasi nicht existent ("müssen die Ärzte mal mehr arbeiten anstatt immer um 14 Uhr auf den Golfplatz zu gehen!"). Die groben Auswüchse der Politik sieht man ja u.a. in der Landarztquote und dem Versuch, Lücken sehr gezielt durch ausländisches Personal zu schließen. Das ist keine Lösung, sondern einfach nur unfassbar gruselig. Wenn man nix kann (unabhängig der Nationalität, ich erinnere mich auch direkt an einige Kommiliton:innen), sind die Berufschancen als Arzt natürlich besser, denn nach Tarif bezahlt wird man auch als letzter Depp der Abteilung, den alle hassen, weil er immer nur noch mehr arbeit macht und keiner mit ihm/ihr Dienst haben will.

Wenn es nur um eine halbwegs sichere 40-Stunden-Woche geht, würde ich nicht Medizin nehmen. Aktuell ist die Entwicklung so, dass man im ambulanten Sektor zumindest quasi da rankommt. Aber wie das in Zukunft sein wird (Lauterbach, der sich ja vor Jahren von Röhn hat kaufen lassen, schauder) weiß niemand.

Unabhängig davon: nur wenige machen am Ende das Fach, das sie mit Eintritt in das Studium möchten. Ich selbst hatte im Studium mehrere Wechsel des Wunschfachs und dann einen Jobwechsel nach 1 Jahr Assistenzarztzeit. Eigentlich ist bei uns keiner von Beginn geplant in der Laboratoriumsmedizin, Mibi oder Hygiene gelandet. Solche Planungen haben/machen regelhaft die Leute, die im Familienumfeld die Perspektive haben, eine entsprechende Praxis zu übernehmen. Versteif dich nicht auf irgendeine Fachrichtung, die dir am Ende vielleicht nicht langfristig gefällt.

P.S. Genau wegen der Berufserfahrung bei deinem Vater solltest du dir nochmal dringend überlegen, wie gut der Markt wirklich ist. Aktuell ist die Versorgungslage noch so, dass man in den MVZ/Großpraxen wirklich adäquat bezahlt wird bei in der Medizin verhältnisweise guten Arbeitsbedingungen. Mehr Geld macht man natürlich in der Niederlassung mit eigenem KV-Sitz, da kommt es aber auch etwas auf das Fach an, wie leicht das ist.
Wie der Markt aber dann aussieht, wenn es für dich initial relevant wird, nämlich zu Beginn der Weiterbildungszeit in 7 Jahren, oder gar am Ende davon, in 12+ Jahren, ist nicht absehbar. Eventuell baut Helios sein MVZ-Netzwerk weiter auf und kann dann durch die Stellung im stationären und ambulanten Sektor fröhlich die Löhne drücken und/oder die Arbeitszeit erhöhen.
Unabhängigkeit von der Wirtschaft ist eine Illusion. Der Großteil in Deutschland ist GKV-versichert und wenn die alle durch Kurzarbeit, Jobverlust etc. nur noch Minimalbeiträge einzahlen, dann bekommen auch wir ein Problem mit dem Einkommen.

davo
14.04.2022, 13:51
Unabhängigkeit von der Wirtschaft ist eine Illusion. Der Großteil in Deutschland ist GKV-versichert und wenn die alle durch Kurzarbeit, Jobverlust etc. nur noch Minimalbeiträge einzahlen, dann bekommen auch wir ein Problem mit dem Einkommen.

Das halte ich für Schwarzmalerei - selbst wenn es dazu kommt, mache ich mir keine Sorgen.

Gerade in wenig wahrscheinlichen Katastrophenszenarien ist man als Mediziner stets überdurchschnittlich gut dran, das zeigt auch die Geschichte oder der Blick ins Ausland.

Da hat man es als (Medizin-)Informatiker sicher schwerer.

Meine Sicht der Dinge:

Wenn du einen (krisen-)sicheren Job willst, ist Medizin sicher die (deutlich) bessere Wahl als (Medizin-)Informatik. Das mit dem 40-Stunden-Job ist in beiden Berufen unüblich, ist aber, wenn man sein Fach richtig wählt, in der Medizin sicher gut möglich.

Dass dein Studiengang großteils aus Informatik besteht, ist aber gut so. Das spricht IMHO gerade für einen guten Medizininformatik-Studiengang.

Und wenn du nach dem Studium wider Erwarten doch in einem klinischen Fach in einem Krankenhaus arbeiten willst, aber dennoch was vom Leben haben willst, dann gehst du, falls du geographisch flexibel bist, einfach nach Österreich - da sind die Arbeitsbedingungen für Krankenhausärzte deutlich besser als in Deutschland. Der Unterschied ist IMHO auch einfach durch eine unterschiedliche Mentalität und Arbeitskultur bedingt.