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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Psychopharmaka in der Intensivmedizin



kartoffelbrei
22.06.2022, 10:28
Wir haben auf unserer chirurgischen ITS immer wieder Langlieger mit Wundheilungsstörung o.ä., in der Regel bettlägerig, tracheotomiert und häufig auch isoliert bei multiresistentem Keim. Diejenigen, die adäquat sind und alles mitbekommen, sind verständlicherweise irgendwann von dem wochenlangen schleppenden Verlauf frustriert und niedergeschlagen.

Aus der Pflege kommt dann häufig die Forderung nach "Stimmungsaufhellern". Ich bin in solchen Situationen zögerlich, Antidepressiva zu verordnen, da die Patienten aus meiner Sicht keine Depression haben, sondern eine adäquate Reaktion auf eine belastende Situation. Andererseits möchte ich ihnen natürlich auch nichts helfendes vorenthalten. Bei den langen Verläufen ist auch der verzögerte Wirkbeginn vieler Antidepressiva kein richtiges Gegenargument mehr, weil der Klinikaufenthalt inkl. Normalstation absehbar monatelang sein wird.

Wie handhabt ihr das bzw. wie sehen das die Psychiater? Medikation ja oder nein? Falls ja, Antidepressiva oder vielleicht auch Quetiapin? Letzteres würde schneller wirken und ich habe gelesen, dass es häufig in Gefängnissen eingesetzt wird, um den Aufenthalt erträglicher zu machen.

morgoth
23.06.2022, 16:42
Warum stellst du kein psychiatrisches Konsil?
Ich finde diese Fragestellungen sicherlich sinnvoller, als wenn bei absehbaren 3-Tages-Aufenthalten noch schnell der Psychiater seine Einschätzung zu einer (oft dem Patienten bereits langjährig bekannten) Depression oder Angststörung abgeben muss.

davo
23.06.2022, 18:03
Ich würde argumentieren, dass bei einer depressiven Symptomatik eine antidepressive Therapie indiziert ist, ganz egal ob es sich nach ICD-Logik um eine Anpassungsstörung oder um eine depressive Störung handelt.

Bille11
23.06.2022, 18:51
Ich persönlich halte im intensivmedizinischen Setting sehr viel von einer co-analgetisch anxiolytisch thymoleptischer (ja, das ist das Wort dafür) Medikation bei längeren schweren Intensivaufenthalten. Gepaart mit Gespräch-/stherapeutischen Ansätzen und Ansprache, Motivation zu Handlungen des Tagesrhythmus - inklusive TV mit Nachrichten nachverfolgen. Gerne auch mit Psychiatrisch konsiliarischer Stellungnahme/Mitbehandlung und Psychologischer Mitbetreuung.

abcd
23.06.2022, 18:54
Ich finde die Frage auch interessant. Einen psychiatrischen Konsiliarius haben wir nicht nur ne Menge Neurologen. Lange KH-Aufenthalte liegen schon hinter den Pat., wenn sie bei uns auf Intensiv in der Frühreha ankommen. Wir setzen je nach Situation Mirtazapin (+ positiven Effekt auf Schlaf) ein oder eher antriebssteigernd Escitalopram (wenn die Pat. in der Therapie durchhängen).

Bin auf Input gespannt.

kartoffelbrei
23.06.2022, 21:48
Warum stellst du kein psychiatrisches Konsil?
Ich finde diese Fragestellungen sicherlich sinnvoller, als wenn bei absehbaren 3-Tages-Aufenthalten noch schnell der Psychiater seine Einschätzung zu einer (oft dem Patienten bereits langjährig bekannten) Depression oder Angststörung abgeben muss.

Es ist bei uns nicht so einfach, einen Psychiater ins Haus zu bekommen. Denkst du, dass ein Konsil auch dann sinnvoll ist, wenn sich ein Patient noch nicht verbal aktiv äußern kann, weil er noch zu sehr von der Beatmung abhängt?


Ich würde argumentieren, dass bei einer depressiven Symptomatik eine antidepressive Therapie indiziert ist, ganz egal ob es sich nach ICD-Logik um eine Anpassungsstörung oder um eine depressive Störung handelt.

Meine Überlegung war, dass bei einer "richtigen" Depression das Neurotransmitter-Gleichgewicht gestört ist und ich dieses mit den Antidepressiva wieder ins Lot bringen möchte. Wenn jemand nur traurig und frustriert ist, weil selten jemand ins Zimmer kommt und es seit Wochen nicht weiter geht, hätte ich gedacht, dass eine solche Dysbalance nicht vorliegt und deshalb der Angriffspunkt für die Antidepressiva nicht wirklich gegeben. Aber vielleicht ist das schon wieder zu theoretisch gedacht von mir...

kartoffelbrei
23.06.2022, 21:54
Doppelpost, weil ich es gerade am Handy nicht anders hinbekomme...Sorry!


Ich persönlich halte im intensivmedizinischen Setting sehr viel von einer co-analgetisch anxiolytisch thymoleptischer (ja, das ist das Wort dafür) Medikation bei längeren schweren Intensivaufenthalten. Gepaart mit Gespräch-/stherapeutischen Ansätzen und Ansprache, Motivation zu Handlungen des Tagesrhythmus - inklusive TV mit Nachrichten nachverfolgen. Gerne auch mit Psychiatrisch konsiliarischer Stellungnahme/Mitbehandlung und Psychologischer Mitbetreuung.

Das nicht-medikamentöse läuft bei uns auch schon ganz gut, denke ich, mit Ausnahme der psychologischen Mitbetreuung, weil bei uns nur die Onkologen und die Palliativstation Psychologen haben. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir unseren Patienten da mehr anbieten könnten als die Krankenhausseelsorgerin. Was sind da bei euch die Standardmedikamente?


Ich finde die Frage auch interessant. Einen psychiatrischen Konsiliarius haben wir nicht nur ne Menge Neurologen. Lange KH-Aufenthalte liegen schon hinter den Pat., wenn sie bei uns auf Intensiv in der Frühreha ankommen. Wir setzen je nach Situation Mirtazapin (+ positiven Effekt auf Schlaf) ein oder eher antriebssteigernd Escitalopram (wenn die Pat. in der Therapie durchhängen).

Bin auf Input gespannt.

Danke auch für das Feedback (und allen anderen natürlich auch ;-))
Wie handhabt ihr das bei dialysepflichtigen Patienten?

rafiki
24.06.2022, 14:14
Meine Überlegung war, dass bei einer "richtigen" Depression das Neurotransmitter-Gleichgewicht gestört ist und ich dieses mit den Antidepressiva wieder ins Lot bringen möchte. Wenn jemand nur traurig und frustriert ist, weil selten jemand ins Zimmer kommt und es seit Wochen nicht weiter geht, hätte ich gedacht, dass eine solche Dysbalance nicht vorliegt und deshalb der Angriffspunkt für die Antidepressiva nicht wirklich gegeben.

Das ist ein Irrtum. Für die Entstehung einer Depression (und damit das Neurotransmittergleichgewicht) gibt es viele Möglichkeiten. Ein Irrtum ist aber auch, dass ausschließlich Antidepressiva da Abhilfe schaffen könnten. Die Wirkung von Antidepressiva gegenüber Placebo ist nicht allzu groß. Andere Maßnahmen führen durchaus ebenso zur Transmitterregulierung und damit zur Verbesserung des psychischen Befindens.

Ein psychiatrisches Konzil ist bei jedem wachen Patienten sinnvoll, bei dem entsprechende Probleme vermutet werden, sprechen können muss er dafür nicht unbedingt.

morgoth
24.06.2022, 16:42
Es ist bei uns nicht so einfach, einen Psychiater ins Haus zu bekommen. Denkst du, dass ein Konsil auch dann sinnvoll ist, wenn sich ein Patient noch nicht verbal aktiv äußern kann, weil er noch zu sehr von der Beatmung abhängt?


Klar, Psychiater können auch mit (taub-)stummen, schwer geistig behinderten und intubierten Patienten arbeiten. :-)

Die Möglichkeiten mögen begrenzter sein, aber sagen wir so, wenn innerhalb des chirurgischen ITS-Teams schon (ähnlich der Spitze des Eisberges) Symptome bemerkt werden, dann sollte da auch eine Fachperson draufschauen.

Es kommt dann ein bisschen darauf an, wie der Psychiater arbeitet und die ITS-Bedingungen es zulassen - das kann gehen von einer kurzen Kurvenvisite (ohne „Gespräch“ im üblichen Sinn) und Anpassung der medikamentösen Therapie, über eine gründlichere Erhebung der Fremdanamnese (Kontaktaufnahme Psychiater -> Angehörige/Hausarzt), über Verordnung/Vorschlag von ergänzenden Massnahmen bzw. Optimierung des Aufenthaltes im konkreten Einzelfall bis hin zu einer grundsätzlicheren Teamfortbildung (1-2 ITS-Mitarbeiter schulen im Hinblick auf Screening/Management von depressiven Erkrankungen).

Ich war eben auf dem DGPM-Kongress (psychosomatische Medizin), da haben Engländer insbesondere die dortigen Modelle bezüglich collaborative care/consultant&liaison vorgestellt - da sollten in Deutschland doch zumindest Konsile möglich sein…

Bille11
24.06.2022, 18:56
Klar, es gibt sehr viele beatmete Patienten, die ‚wach‘ sind und… ich sags dann auch ganz freundlich dem Patienten.. ‚ vielleicht Lagerkoller‘ haben. Auch gern bei stationären Langliegern, die mit zB gefässchirurgisch gern mal gesehen Aneurysma spuriae (zB als Komplikation.) oder nach komplexen thorakalen/abdominellen Aktionen einfach lang da (und jetzt zufällig bei Dir) sind oder einfach COVID-Pat, Zn Beatmung oder NIV Therapie Lagerung (bestenfalls auch komplett selbstständig, das hat mir jedesmal sehr imponiert, wie tapfer die das durchgezogen haben, auf Zuruf oder selbstständig stundenweise Lagerung in Bauch-, Seite- whatever-Position) und eigentlich ‚alles‘ könnten, aber ‚einfach nicht können‘ - ein zwei Tage kann man das ja mitmachen, aber irgendwann muss halt wieder was gehen. Und wenn man dann im Gespräch niedrigschwellig auf sowas kommt.. gebe ich gerne schlafanstossend Melperon (Melatonin ist idR eh drin, seit Wochen) und/oder bin bei ‚mir tut alles nuuuuur weh, Hinweis auf Schmerzchronifizierung‘ gerne mit Gabapentin und/oder Pregabalin dabei. Bei einfach „nur“ ‚Antriebslosigkeit, negativen Gedankenspiralen, Unlust und Appetitlosigkeit trotz Bemühungen, etwas zu organisieren, wirklich Wunschkost aufzubauen, die Möglichkeiten zu generieren, Dinge selbst bestimmen zu können: Mirtazapin, bzw (Es)Citalopram.
Sehr klassisches Patientengut sind ja auch Ösophagus-Resektionen oder Lungen die fisteln - da bemühe ich mich sehr, die Schlaf/Wach-Rhythmus Kontrolle nicht unbedingt mit Propofol herstellen zu lassen, bin da auch ziemlich zickig-nervig geworden, wenn das morgens als die Möglichkeit dargestellt wurde, dem/der Patienten/in einen ruhige Nacht zu verschaffen. Mittlerweile sehe ich das gelassener und bemühe mich, Anstösse zu geben, was man stattdessen eindosieren kann, um dieses zu vermeiden. Hier geht es nicht um ‚die ein - zwei Nächte‘ akut sondern um einen Substanzienabusus.