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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Dringend notwendige Strukturveränderung im Gesundheitswesen- alles zu spät?



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Anne1970
06.11.2022, 20:06
Das die Babyboomer unter den Ärzten und Ärztinnen in diesen Zeiten in den Ruhestand wechseln, hätte man schon vor 10 Jahren wissen können. Tatsache ist, dass in unserm Land 5000 Studienplätze fehlen.
Überbordende Bürokratie bindet ärztliche Arbeitszeit täglich 3-4 h, die von der Patienten-Versorgung abgehen und/oder für Überstunden sorgen und dazu beitragen, dass Kollegen und Kolleginnen aus der (stationären) Patienten-Versorgung aussteigen wollen.
Der Bundesgesundheitsminister will das DRG -System „überwinden“ (hat er so in einer Rede in Berlin anlässlich der HV der Ärztegewerkschaft an 4.11.22 formuliert), weil es falsche, ökonomische Anreize geschaffen hat.
Was haltet ihr von den angekündigten Veränderungen/ Verbesserungen in der Pädiatrie? (Budget-Sicherheit für 80-100% des Vorjahres-Budgets)
Und sonst weiß man noch nichts. Die „Expertenkommission“ soll sich seit Monaten mit der Struktur-Veränderung beschäftigen.
Was denkt ihr? Was sollte geändert werden?

Anne1970
06.11.2022, 20:10
Ich denke, dass die Personal-Kosten für Ärzte schonmal zeitnah aus dem DRG oder wie auch immer gearteten „Budget“ herausgerechnet gehören.
Die Länder sollten ihrer Pflicht der Zahlungen der Investitionskosten endlich nachkommen.
Zudem sollten die Vorhalte-Kosten sichergestellt werden. Die Feuerwehr wird sich nicht nur bezahlt, wenn es brennt.

Anne1970
06.11.2022, 20:12
Und noch ein Punkt:
Die Länder sollten die Anzahl der Medizin-Studien-Plätze endlich erhöhen.
Teilweise gibt’s einige lokale Initiativen dazu …

Die Aufzählung soll als „Aufschlag“ mal genügen.
Bin gespannt!

Dooly
07.11.2022, 10:23
Doch, ich würde gerne noch ergänzen, was weiterhin bereits bekannt ist: neben den Bestrebungen zunächst die Pädiatrie und Geburtshilfe vom wirtschaftlichen Druck zu entlasten, gibt’s mittlerweile die zweite Stellungnahme, die die sog. Tagesbehandlungen beinhaltet. Als nächstes soll dann die Stellungnahme zur DRG erfolgen. Ohne Änderung der DRG werden die Tagesbehandlungen nur für eine größere Arbeitsverdichtung sorgen.
Zum Thema Vorhaltekosten hat sich der Gesundheitsminister bereits in mehreren Interviews geäußert. Unterm Strich hab ich für mich mitgenommen, dass diese abhängig von der Versorgungsstufe für verbleibende Häuser besser gedeckt werden sollen. Andere Häuser werden dafür wahrscheinlich geschlossen.
Interessant wird auch, dass dem BMF nun ein Mitspracherecht für die Personalbemessung in der Pflege eingeräumt wurde.

Ja, ich glaub es ist zu spät das Ruder schmerzlos rumzureißen und man wird immer schlechter möglichst viele Interessen sinnvoll unterbringen können. Die Wendepunkte lagen meiner Meinung nach alle in der Vergangenheit. Es gibt derzeit weder personelle noch finanzielle Ressourcen in ausreichender Menge und der Ausbau wird Jahrzehnte dauern, selbst, wenn keine Fehlentscheidungen und Interessenskonflikte dazwischenfunken. Ich finde es darum notwendig, solche Übergangslösungen einzurichten, um kurzfristig mit den vorhandenen Ressourcen weitermachen zu können und parallel müssen auch langfristige Änderungen festgelegt werden, da diese sonst wieder in den Hintergrund rücken. Sinnvolle Ideen für die Aufstockung des Personals gab es vor der BTW21 und zu Pandemiebeginn, zumindest für die Pflege, wie die Reduktion der Vollzeit auf 35 h oder früherer Renteneintritt.
Großes Interesse am Medizinstudium wird immer bestehen. Die ganze Kohle, die ins Ausland geht oder an irgendwelche asoziale Studienplatzunternehmen sollte man besser hier im Staat behalten. Auch hier wird man bei kurzfristigen Lösungen immer einigen Gruppen auf die Füße treten. Studiengebühren bzw. Studiengebühren für bestimmte Gruppen, Verpflichtungen, Quoten sind halt wirklich alle scheiße und benachteiligen immer Leute. Aber die Länder wollen nicht mal die vorhandenen Ärzt*innen ordentlich bezahlen und auf diesem Hintergrund bin ich ganz negativ hinsichtlich der Finanzierung weiterer Studienplätze.

Bonnerin
07.11.2022, 11:04
Ich stelle mal eine andere These auf: Es fehlen keine 5.000 Studienplätze. Vielleicht fehlen sogar nicht einmal 2.000.

Es fehlt aber an einer korrekten Verteilung. Nein, ich rede nicht von einer Landarztquote 2.0.
Wenn man als Arzt/Ärztin nicht nur gefühlt 2h seiner Arbeitszeit mit wirklich ärztlichen Tätigkeiten verbringt, sondern ca. 6h+ wird bei gleicher Personenanzahl eine Vielzahl ärztlicher Tätigkeitsstunden wie aus dem Nichts heraus geschaffen. Trotz Teilzeit und Frauenanteil.

Dinge wie DRG-Kodierung, Briefe tippen (das Kontrollieren des Endproduktes ausgenommen), Patientenbetten organisieren, aber auch Blutabnahmen sind keine ärztlichen Tätigkeiten. Nichts davon setzt auch nur ansatzweise einen universitären Abschluss voraus.
Ähnlich wie bei den Pflegekräften Zimmer putzen und Essen austeilen nicht als Tätigkeitsfeld gesehen werden sollen/dürfen.

Stattdessen lässt man sich als Arzt/Ärztin aktuell von den Deppen der Personalabteilungen und Kliniksverwaltungen nach Strich und Faden verarschen und übernimmt immer mehr Tätigkeiten, für die man nicht verantwortlich ist. Es muss enden, dass man sich von Kliniksleitungen und Politiker:innen - vor allem von so Fachfremden wie der SPD-Religionspädagogin - mit "Patientenwohl" erpressen lässt. Niemandem von denen geht es um irgendeinen Patienten in diesem Land, sie wollen nur gegenüber den Wähler:innen gut aussehen und Akademiker-Bashing im Naturwissenschaftsbereich ist in D ja eh immer sehr "in".

Der Exodus aus den Kliniken wie jetzt wird aktuell so weitergehen, weil die Arbeitsbedingungen dort so unterirdisch sind. Das trifft sich aber so gut mit den politisch gewollten Klinikschließungen.

Dooly
07.11.2022, 11:28
Das kann man vermutlich annähernd ausrechnen, wie viele ärztliche Stunden man bereitstellen könnte, wenn die nicht-ärztlichen Tätigkeiten konsequent wegfallen würden. Ich glaube, dass man dennoch nicht um eine deutliche Erhöhung der Studienplätze herumkommt.
Ein Teil der Pflege bemüht sich, die Pflegekammern zu stärken, und ich glaube auch, dass das ein guter Weg ist für das berufliche Selbstverständnis. Eine weitere, relativ neue, Änderung im Gesundheitswesen hab ich oben vergessen: die Entbindungspflege wird aus dem Pflegebudget genommen werden. Mein Eindruck ist, dass das die Bevölkerung sehr empört, aber ich befürworte tendenziell auch eher einen weniger schwammigen Übergang von Kompetenzen und Verantwortungsbereichen und finde es daher besser, das Pflegebudget der Pflege vorzuenthalten. Als Lösung könnte ich mir beispielsweise vorstellen analog ein Entbindungspflege Budget einzurichten oder Wöchnerinnenstationen an Kreißsäle anzuschließen oder ähnliches.

Choranaptyxis
07.11.2022, 11:50
Dazu hatte der MB die Tage einen Post. (https://www.instagram.com/p/Ckk5xiDq8-a/?igshid=YmMyMTA2M2Y=)


Halbierung des täglichen Bürokratieaufwands entspräche zusätzlicher Arbeitskraft von 32.000 vollzeitbeschäftigten Ärztinnen und Ärzten

Bonnerin
07.11.2022, 12:01
Die Pflege ist ja nicht mal selbst wirklich für eine Pflegekammer (zumindest ist ein Teil dagegen)... :/

@Choranaptyxis: Vielen Dank. Und das wäre ja sogar nur bei einer "Halbierung".

Aktuell verlassen ja auch tendenziell mehr Ärzt:innen die Medizin, sei es nach dem Studium oder dem FA. Für viele ist sicher genau dieser Teil mit vielen nicht-ärztlichen Tätigkeiten zumindest großer Bestandteil der Frustration. Dementsprechend wage ich zu behaupten, dass wir sogar noch mehr Stellenbesetzung aus dem Nichts generieren, weil vielleicht weniger gewechselt wird. Denn wenn man x Plätze mehr schafft, aber trotzdem ein Prozentsatz y nie arbeitet bringt das wenig außer Geldverschwendung...

Dazu kommt, dass sich durch mehr Plätze sicher trotzdem nicht die FA-Problematik ändern wird (viele Derma, wenige Innere)...

Dooly
07.11.2022, 15:38
Der MB mahnt auch ständig zu mehr Studienplätzen, kürzlich forderten sie 400 nur für Nds. https://www.stern.de/amp/gesellschaft/regional/niedersachsen-bremen/studium--aerztevereinigung-marburger-bund-fordert-medizincampus--32833748.html
Was wäre euer Ansatz? Halbierung oder sogar noch größere Reduzierung des „bürokratischen Aufwands“ realistisch? Und führt das dann zu einer Entzerrung der Arbeitsdichte?
Meine Einschränkung ist bei der Einschätzung sicher auch die geringe Erfahrung mit den großen bettenführenden und notfallversorgenden Fächern, für mich ist das nicht vorstellbar.

izzy17
07.11.2022, 20:52
Wer auch gerade "hart aber fair" schaut, da hat Karl Lauterbach auch noch einmal bekräftigt, dass sie die DRGs abschaffen wollen, sogar schon in den nächsten Monaten
In der 2. novemberhälfte soll der Entwurf vorgestellt werden wenn ich's richtig mitbekommen habe

Da kann man ja gespannt sein :-)


Finde es aber auch interessant, dass es vor allem (oder eigentlich ausschließlich) um Pflegekräfte geht :-/ (nicht dass es da keinen Verbesserungsbedarf gibt aber ich denke bei den Ärzten sieht's auch nicht besser aus)

Choranaptyxis
07.11.2022, 21:06
Finde es aber auch interessant, dass es vor allem (oder eigentlich ausschließlich) um Pflegekräfte geht :-/ (nicht dass es da keinen Verbesserungsbedarf gibt aber ich denke bei den Ärzten sieht's auch nicht besser aus)

Ich glaube, vielen ist einfach nicht bewusst (zumindest, wenn sie nicht selbst häufiger im Krankenhaus sind), wie knapp die Ressource Arzt/Ärztin oft aus ökonomischen Gründen gefahren wird.
Hatte es zumindest häufiger, dass man total überrascht war, dass es keine Richtlinien gibt, wie die Ratio Patient/-in : Arzt/Ärztin sein muss und dass so Konstrukte mit Zuständigkeit ZNA plus 70-100 (oder noch viel mehr) Patienten auf Normalstation nachts erlaubt ist.

izzy17
07.11.2022, 21:10
Ja da hast du Recht

Bin ja noch im Studium aber mir wurde gestern auch entgeistert von einem Bekannten erzählt dass er vor kurzem in der NA war und die Ärztin ihm erzählte, dass sie die einzige Ärztin dort ist

Dass das "normal" ist ist wohl wirklich vielen nicht bewusst



Und dass die Omas die ich kenne sich drüber aufregen, dass der Arzt keine Zeit mehr zum Reden hat 😅 und dann geschimpft wird dass Arzt xy ja unfreundlich ist
Da fehlt halt auch der Einblick, dass die Patientenmasse anders nicht bewältigt werden kann

Feuerblick
08.11.2022, 08:44
*schmunzel* Soso, man will die DRG in den nächsten Monaten abschaffen. Welches Konzept soll denn stattdessen verwendet werden? Steht das denn schon? Irgendwie habe ich davon noch nichts Belastbares gelesen.

Auch Lauterbachs Vorgänger wollte kurz vor Ende seiner Amtszeit noch ein paar Dinge ändern und schuf sogar ein Gesetz. Seither streiten sich Kommissionen darum, wie die Änderungen umgesetzt werden können und sollen. Passiert ist effektiv nichts. :-nix

Kackbratze
08.11.2022, 10:50
Bürgergeld, Bürgerversicherung, Bürgersozialmedizin.
NHS lässt grüssen.

][truba][
08.11.2022, 14:38
Wer hat denn eine Idee, wie man es gestalten könnte oder sollte?
Wäre mal interessant ein paar Gedankenspiele zu hören.

abcd
08.11.2022, 16:29
Was ist eigentlich aus dem "Gesundheits-Kiosk" geworden?

Shairon
08.11.2022, 20:12
[truba][;2247728']Wer hat denn eine Idee, wie man es gestalten könnte oder sollte?
Wäre mal interessant ein paar Gedankenspiele zu hören.

Eigentlich gibt es ja nur zwei Stellschrauben. Entweder über das Angebot oder über den Preis. Wenn man mehr ärztliches und pflegerisches Personal möchte (beispielsweise über ein verbindliches Arzt-Pfleger-Patienten-Verhältnis pro Station), kann man also die Krankenkassenbeiträge hierfür erhöhen, um dies zu finanzieren. Oder aber man spart dafür an anderer Stelle Geld ein. Am teuersten für das Gesundheitssystem ist ja die letzte Lebenszeit vor dem Tod, hier gibt es auch viel Übertherapien. Das ist natürlich für Politiker ein ethisches Minenfeld... wer will ü80 Jährigen mit metastasiertem Krebs die teure Chemo verwehren? Aber vielleicht ließe sich durch die Verpflichtung, ab 60 eine verbindliche Patientenverfügung zu haben, auch schon viel unnötige/ungewollte Medizin am Lebensende einsparen. Angesichts der größeren Lebenserwartung und der immer besseren - aber auch immer teureren - Möglichkeiten der Medizin finde ich solch eine Diskussion eigentlich unausweichlich. Allerdings glaube ich nicht, dass es je zu solch einer ernsthaften Diskussion kommen wird, eben weil dieses Thema politisch für jeden einen Todesstoß wäre (vor allem bei der Stimmkraft der Rentner im Land).

Heerestorte
08.11.2022, 20:49
Oder die Anzahl der Krankenkassen reduzieren... Oder jeder unnötige Besuch einer Notaufnahme muss mit 50€ bezahlt werden... Nach einem Monat wären die Geldsorgen gelöst :-))

Anne1970
09.11.2022, 06:41
Dazu heute die Meldung vom D-Funk;
„ Mit der geplanten Krankenhausreform wolle man Patienten die stationäre Aufnahme ersparen und gleichzeitig das Personal dort entlasten, sagte der SPD-Politiker der „Rheinischen Post“. Dafür wolle er das System so umstellen, dass sich ein unnötiger Klinik-Aufenthalt bei einfachen Eingriffen künftig nicht mehr lohne und die medizinische Versorgung in solchen Fällen stattdessen ambulant erfolge. Der Anteil vollstationärer Behandlungen sei in Deutschland im internationalen Vergleich immer noch viel zu hoch, betonte Lauterbach. Das müsse sich ändern.
Auch für stationäre Patienten könnte die Übernachtung nach Ansicht des Gesundheitsministers entfallen, wenn der Patient dies wünsche und medizinisch nichts dagegen spreche. Der Aufenthalt im Krankenhaus über Nacht sei nicht zwangsläufig Teil guter Medizin.“

Wie das in COVID-19-Zeiten umsetzbar sein soll, erschließt sich mir nicht ganz. Zudem: die, die ambulant behandelt werden können, sind ja nicht die „Vollpflegefälle“, die die Pflege belasten; die bleiben müssen, bis Geri/Frühreha oder Kurzzeitpflege Platz hat … ( jedenfalls aus meiner Sicht als Neurologin).
Ob das insgesamt zum Bürokratie- Abbau für uns ÄrztInnen führen kann? Oder nicht nur den Patienten-Umsatz steigert: Aktenführung, Dokumentation und Arztbriefe werden doch trotzdem anfallen?
Was denkt ihr?

Anne1970
09.11.2022, 06:45
Oder die Anzahl der Krankenkassen reduzieren... Oder jeder unnötige Besuch einer Notaufnahme muss mit 50€ bezahlt werden... Nach einem Monat wären die Geldsorgen gelöst :-))

Würde dann dazu führen, dass ärmere Menschen möglicherweise zu lange mit dem Vorstellen warten, denkst du nicht?
Die hohe KK- Verwaltungen/Gebäude/Vorstände böten schon Einsparpotenzial; ich zweifele jedoch sehr daran, dass eine „Einheitskasse“ die Lösung wäre.