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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Erwachsenenpsychiatrie oder Kinderpsychiatrie



Roger1987
26.11.2023, 07:52
Hallo Ihr Lieben,

bin aktuell am überlegen, aufgrund der überbordenden Bürokratie im Berichtswesen, aus einer psychosomatischen Rehaklinik in eine Akutpsychiatrie zu wechseln.
Allerdings könnte ich mir da eher die Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellen, da ich die vielleicht naive Vorstellung habe, dass es hier nicht ganz so heftig zugeht und man auch noch Zeit für Psychotherapie findet.

Wie war denn eure Überlegung sich für die Kinder- und Jugendpsychiatrie zu entscheiden?
Hat es sich gelohnt oder seid ihr inzwischen woanders?
Danke für euren Input!

LG

Nefazodon
26.11.2023, 11:40
Vorab: Ich war nie in der KJP. Bürokratie hast Du aber gerade in den psychiatrischen Fächern überall. Es ist halt zu einem großen Teil auch "Sozialmedizin" und Versorgung.

In der KJP hast Du viel mit den Familien zu tun. Das muss man mögen. Prinzipiell eine weitere Partei, die etwas von einem will.

Sosylos
26.11.2023, 11:56
Nehme dir Zeit und schaue alle Bereiche für eine längere Zeit an. Dann wirst du merken, dass auch KJP nicht immer so einfach ist, wie man es sich vorstellt.

Roadkiller
26.11.2023, 12:10
Ich habe einige Jahre Erwachsenenpsychiatrie-Weiterbildung hinter mir gelassen und wir mussten die Kinderpsychiatrie in den Nacht- und Wochenenddiensten mitversorgen. Es war der absolute Horror sich nicht nur mit psychisch kranken Kindern sondern auch mit den meist noch verückteren Familien auseinandersetzen zu müssen, mal abgesehen von der massiven Bürokratie, die einen dort auch erwarten kann. Allein die Aufnahmemodalitäten mit den notwendigen Papieren und Unterschriften von Eltern, diversen Hilfesystemen (Heime etc.) und die Bürokratie mit den Gerichten ist gruselig. Der Umgang mit Berufsbetreuern in der Erwachsenenpsychiatrie gestaltete sich da oft unkomplizierter. Aber: Selbst schauen und urteilen ist wohl unbezahlbar.

davo
27.11.2023, 05:34
Akutpsychiatrie muss nicht immer automatisch heftig sein. Das hängt extrem stark vom Versorgungsgebiet ab (Großstadt vs. Kleinstadt macht einen riesigen Unterschied), und auch von der Zahl der Betten pro Bevölkerung (je weniger, desto schlimmer) und von der Zahl der Betten an der Abteilung (je mehr, desto anstrengender).

Und auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie kann extrem heftig sein. Ich hatte das Vergnügen, gut ein Jahr lang in den Diensten eine Station mit jugendlichen Akutpatienten mitbetreuen zu dürfen, und so anstrengend wie dort war es auf den erwachsenenpsychiatrischen Akutstationen, die ich bisher erlebt habe, nie. Erstens weil die Patienten fast alle schwerstens persönlichkeitsgestört waren, zweitens weil sie einfach in jeder Hinsicht (nicht nur psychisch, sondern auch in Hinblick auf Kriminalität, Sucht, Umfeld, usw.) extrem krank waren. Außerdem gab es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie noch viel mehr Bürokratie als in der Erwachsenenpsychiatrie, siehe den Beitrag von Roadkiller.

Ich bin natürlich biased, klar, denn sonst würde ich ja nicht das Fach machen, das ich mache, aber ich fand die Kinder- und Jugendpsychiatrie recht frustrierend, da die meisten Probleme der Patienten eben nicht medizinisch sind. Da geht es eher um fehlende Erziehung, broken home Phänomene, Traumatisierung, ein extrem problematisches Umfeld, Delinquenz, etc., und das alles noch gemischt mit der ohnehin nicht unkomplizierten Pubertät. Das was zuhause 15 Jahre lang schiefgelaufen ist, kann man nicht in ein paar Tagen, Wochen oder auch Monaten im stationären Setting wieder reparieren. Man müsste das System behandeln, nicht nur den Patienten. Und vor allem sind dabei Medikamente nur ein kleiner Teil des Ganzen, und selbst Psychotherapie wahrscheinlich viel weniger relevant als Sozialpädagogik (bzw. Reparenting im eigentlichen Sinn des Wortes, nicht in der üblichen Bedeutung). Da ist man als Arzt also nur ein winziger Baustein, und oft eigentlich ziemlich hilflos.

In der Erwachsenenpsychiatrie finde ich das vom Gefühl her sehr anders, da psychische Erkrankungen bei Erwachsenen doch eher separate Entitäten sind, die man auch tatsächlich gut medikamentös und/oder psychotherapeutisch behandeln kann. Natürlich gibt es auch da Ausnahmen (die man an großstädtischen Akutpsychiatrien oft alle paar Wochen oder alle paar Monate wieder sieht), aber im Großen und Ganzen ist mein Eindruck nichtsdestotrotz, dass man in der Erwachsenenpsychiatrie, wenn man den Patienten medikamentös und psychotherapeutisch behandelt, auch wirklich etwas bewirken kann. Außerdem sind Schizophrenien und (Schizo-)Manien einfach unglaublich spannend, und Krankheitsbilder, die ich nicht missen möchte.

Ich kann dir die Erwachsenenpsychiatrie also nur empfehlen.

Aber nachdem jede Jeck anders is, würde ich dir dringend anraten, in beiden Fächern mal eine Woche zu hospitieren. Das ist sehr gut investierte Zeit, um besser beurteilen zu können, was besser zu dir passt.

Idealerweise sollte die Fachentscheidung aber nicht nur eine Flucht sein (nicht Psychosomatik weil zu viel Bürokratie, nicht Akutpsychiatrie weil zu heftig, usw.), sondern vor allem eine positive Entscheidung zu etwas, was einen wirklich fasziniert und begeistert. Ich halte dir die Daumen, dass du diesen Eindruck bei einer deiner Hospitationen haben wirst.

Roger1987
27.11.2023, 19:06
Danke für eure Antworten!
Das ist ja nicht gerade Werbung für die Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Hat jemand von euch auch den direkten Vergleich zur Reha?

Herbstblume90
04.12.2023, 19:49
Ich habe jetzt lange gezögert, zu schreiben, aber irgendwie konnte ich das jetzt doch nicht so stehen lassen :)

Ich finde KJP toll! Die Kinder und Jugendlichen sind oft sehr krank und kommen oft aus einem schwierigen Umfeld , ja. Aber man kann mit ihnen so viel erarbeiten! Es wird nie langweilig. Oft ist es ganz schön laut. Manchmal wird geprügelt. Manchmal geweint. Es ist so viel beziehungsarbeit. Und auch recht viel Pädagogik, das stimmt, aber das macht auch Spaß.

Man muss viel mit dem System rund um arbeiten, Das muss man mögen.
Dafür kann man manchmal zusammen mit Kindern und Eltern nachhaltig Dinge verändern. Und medizinisch gibt’s natürlich im Vergleich zur pädiatrie viel weniger zu tun, aber es ist trotzdem wichtig, Differentialdiagnosen zu kennen, sorgfältig untersuchen zu können, Basic Kinder-Krankheiten behandeln zu können.

ehem-user-04-01-2024-1151
04.12.2023, 22:52
Ich habe jetzt lange gezögert, zu schreiben, aber irgendwie konnte ich das jetzt doch nicht so stehen lassen :)

Ich finde KJP toll! Die Kinder und Jugendlichen sind oft sehr krank und kommen oft aus einem schwierigen Umfeld , ja. Aber man kann mit ihnen so viel erarbeiten! Es wird nie langweilig. Oft ist es ganz schön laut. Manchmal wird geprügelt. Manchmal geweint. Es ist so viel beziehungsarbeit. Und auch recht viel Pädagogik, das stimmt, aber das macht auch Spaß.

Man muss viel mit dem System rund um arbeiten, Das muss man mögen.
Dafür kann man manchmal zusammen mit Kindern und Eltern nachhaltig Dinge verändern. Und medizinisch gibt’s natürlich im Vergleich zur pädiatrie viel weniger zu tun, aber es ist trotzdem wichtig, Differentialdiagnosen zu kennen, sorgfältig untersuchen zu können, Basic Kinder-Krankheiten behandeln zu können.

Das ist wirklich ein interessanter Bereich. Kannst du etwas zu den Diensten sagen? Ich vermute man ist wie in der Somatik als einziger Assistenzarzt für die gesamte Fachabteilung zuständig. Aber es gibt in der Psychiatrie ja z.T. Hoch aggressive Patienten und eine geschlossene Station. Gibt es da irgendwelche Sicherheitskräfte auf der geschlossenen, weil es ja sicherlichgenug aggressive Patienten gibt die gerne „ausbrechen“ würden. Das stelle ich mir schwer vor, wenn ein Arzt für alle diese Patienten zuständig ist, die ihm ja kräftemässig deutlich überlegen sein können. Mich schreckt diese physische Gewalt und die damit verbundenen Gefahren ab. Weil ja auch in geschlossenen Stationen der Stationsarzt zu den Patienten muss und die Tür öffnen muss. Aber da noch nicht famuliert . Das ist nur meine naive Sichtweise der Dinge.

davo
05.12.2023, 15:16
Ich glaub dass es selbst in einer JVA deutlich weniger aggressiv zugeht, als du es dir in einer Psychiatrie vorstellst ;-)

Einfach mal famulieren... die Realität ist dann (zum Glück) doch anders.

Obscura
05.12.2023, 18:25
Auch hier eine weitere Stimme für die KJP. :) Ich mag daran besonders, dass man die ganze Lebensrealität des Kindes oder des Jugendlichen in den Blick zu nehmen versucht - wie kann man therapeutisch bzw. psychiatrisch-medizinisch das Problem lösen? Was lässt sich in den Systemen (Familie, Schule, Jugendamt) bewegen, wie bringt man sie miteinander in Kontakt? Das ist ganz häufig frustran (auch in der KJP gibt es zuhauf Drehtürpatienten, Systemsprenger usw.), keine Frage. Aber genauso oft kann man Dinge spürbar zum Besseren verändern.

Die Dienste in der KJP sind ebenso bunt. Von deeskalierenden Gesprächen, Erster Hilfe bei Schnupfen, dissoziativem Krampfanfall bis zu Fixierungen inkl. Akutmedikation habe ich bis jetzt (2. Weiterbildungsjahr) schon ziemlich viel gesehen.

Herbstblume90
07.12.2023, 17:24
Hast du jemals eine geschlossene psychiatrische Station betreten? Das was du beschreibst, klingt eher nach einem Horror Film :)

Die aggressiven Patienten, die wir haben, sind eher 8. Jugendliche überwiegen Suizidal depressive. Fremdaggressive Jugendliche gibt es schon auch. Respekt ist schon angebracht, grad in 1:1 Situationen, aber Angst habe ich zu keinem Zeitpunkt gehabt bislang.