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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Sicherheit in der Psychiatrie als Frau?



johnsonjackson
29.03.2024, 17:32
Hallo zusammen!

Ich stehe kurz vor meinem dritten PJ-Tertial in der Psychiatrie, überlege jedoch noch kurzfristig mein Wahltertial wo anders zu absolvieren (umsatteln wäre noch möglich).

Ich will eigentlich seit dem 5. Semester in die Psychiatrie - mich hat das Fach einfach direkt gecatched. Ich finde es einfach unendlich faszinierend, mag die viele Zeit mit den Patient*innen und finde die meisten Psychiater*innen sehr sympathisch und angenehm. Ich habe dort bereits Famu und Diss gemacht.

Allerdings kriege ich aktuell größere Zweifel: ich als kleine Frau finde Situationen mit intoxikierten/psychotischen/aggressiven männlichen Patienten teilweise extrem belastend und beängstigend. Eine Freundin von mir hat vor kurzem ihre AA Stelle in der Psych gekündigt, weil sie sich dort nicht sicher gefühlt hat. Ich selber hatte in meiner Famu Situationen, in denen mir mit körperlicher Gewalt gedroht wurde, oder ich beleidigt wurde. Gerade die Akutpsych-Zeit und die Dienste machen mir große Sorgen.

Ich weiß natürlich dass körperliche Gewalt gegenüber psychiatrischem Personal eher selten ist. Drohungen, Beleidigungen, Stalking kommen hingegen schon mal vor. Sind diese Sorgen eher überzogen? Hat jemand ähnliche Erfahrungen bzgl. Sicherheitsempfinden? Wie entwickelt sich das mit der Zeit? Wie geht man damit um?

Trotzdem Psychiatrie? (Es gibt noch 1 anderes kleines, operatives Fach was mit sehr zusagt, wo ich famuliert habe, welches ich mir sonst gut vorstellen könnte. Mir hat grundsätzlich vieles Spaß gemacht, nur nichts so sehr wie Psychiatrie)

PaulaBoston
29.03.2024, 18:13
Also ich mache jetzt seit ca 10 Jahren Psychiatrie und zumindest in meiner letzten Klinik hatten wir auch Deeskalationstrainings usw. Im Dienst habe ich bei bedrohlichen Situationen immer Unterstützung mitgenommen zum Beispiel männliche Pflege und im schlimmsten Fall bringt man sich persönlich in Sicherheit und die anderen Mitarbeitenden auch, lässt den Patienten randalieren und holt sich zur Unterstützung für die Fixierung die Polizei dazu. Ich hatte noch nie Angst, teilweise Respekt ja, aber ich glaube wenn man wirklich Angst hat, lässt es sich nicht gut arbeiten.

morgoth
29.03.2024, 18:57
Ich arbeite als Mann seit 15 Jahren in der Psychiatrie.
Meine vielleicht zu persönliche Meinung zu diesen ganzen Deeskalationstrainings ist: Besser der Teilnehmer oder die Kliniken verbrennen das Geld direkt zu Hause oder schütten es unter ständigem Rühren ins Klo.
Das ist eine einzige gequirlte Kacke mit höchsttheoretischen Überlegungen aus dem Elfenbeinturm, die die Welt nicht braucht!

Ansonsten natürlich volle Zustimmung: Frühzeitig und niederschwellig Unterstützung anfordern und mitnehmen.

rafiki
29.03.2024, 19:27
Genauso ist meine Ansicht zur derartigen Trainings. In Kliniken, wo das exzessiv geübt wurde (kein Witz: in schwarzer Kampfmontur mit Schild proben, wie man Pat. an die Wand drückt), war eine dermaßen ängstliche Anspannung beim Personal, dass es kaum erträglich war. Und diese ängstliche Haltung überträgt sich auf Pat. und treibt potentielle Aggression hoch.

Ich habe als in fast zwanzig Jahren nie ernsthaft gefährliche Situationen erlebt, gegenüber Kollegen jedoch durchaus gesehen, abhängig von deren innerer Haltung. Es kann jedoch sein, dass das Gewaltpotential zunimmt aus verschiedenen, auch gesundheitspolitischen Gründen.

Erlkönigin
29.03.2024, 21:20
Also ich verstehe das total. Ich habe mich auch mal sehr für Psychiatrie interessiert und ich finde die Arbeit auf offenen Stationen mit psychotherapeutischem Fokus und Vergleichbares auch immer noch cool, aber die Famulatur auf der geschützten (Männer-)Station war für mich eine ziemlich unangenehme Zeit und ich konnte mir nicht vorstellen, dort länger zu arbeiten.

Alternativ wäre vielleicht der FA Psychosomatik und Psychotherapie etwas?

Bandwurm
29.03.2024, 23:15
Zu morgoth und rafiki: Ich finde Deeskalationstraining sehr sinnig. Bei und ist es Prodema; da gefällt mir, dass es auch um strukturelle Voraussetzungen geht, eigene Sicherheit (wie geht man in einen Raum rein und positioniert sich, ect.). Die körperlichen Techniken, na ja, da geb ich euch schon zum teil recht; aber in der KJP durchaus auch zu gebrauchen, in der Erwachsenepsychiatrie evtl. noch bei den Gerontopatienten, weil es eher darum geht jmd. verletzungfrei zu transportieren und festzuhalten. Das geht mit einem 1,80 alkoholisierten Psychotiker nur bedingt...

rafiki
30.03.2024, 05:21
Alternativ wäre vielleicht der FA Psychosomatik und Psychotherapie etwas?

Im Prinzip ja.

Aber: Erstens ist das mMn kein richtiger eigenständiger FA, sondern eine Fortsetzung für einen anderen bereits erworbenen FA. Sämtliche Personen, die ich mit diesem Solo-Titel erlebte, waren nicht fähig, wirkliche somatische und psychische Krisen zu bewältigen, eher eine Art Psychologen mit ärztlicher Approbation. Das wird v. a. deshalb zunehmend schwierig, weil die Psychosomatischen Kliniken zunehmend psychiatrieren, da ein gewisser Shift des Patientenguts stattfindet. Da stehen in der Akutpsychosomatik dann plötzlich schwerst Depressive, Psychotiker, beginnend Demente, völlig Verwahrloste und auch schwer somatisch Kranke vor einem. Auch in der Reha-Psychosomatik nicht selten schizophrene Chroniker.

davo
30.03.2024, 06:59
Du hast ja offenbar schon erkannt, dass deine Ängste nicht auf realen Risiken basieren. Das ist ein guter Start.

Das ist dann IMHO ein Thema, das du intensiv in deinen Balint-Gruppen, in deinen Supervisionen und in deiner Selbsterfahrung bearbeiten solltest. Denn Angst kann viele therapeutische Konsequenzen haben - sie kann zur Vermeidung führen, sie kann zur Aggression führen, sie kann zum Agieren führen. Alles für Patient und Behandler gleichermaßen gefährlich.

Wenn einem Drohungen oder Beleidigungen so nahe gehen, muss man sich IMHO ganz grundsätzlich fragen, ob die Psych-Fächer eine gute Idee sind. Und das gilt ganz genauso für den Facharzt für Psychosomatische Medizin - denn dort ist der Anteil persönlichkeitsgestörter Patienten sicher noch höher, und gerade beim eher psychotherapeutisch orientierten Ansatz ist viel mehr Spielraum für subtile Drohungen und Abwertungen. Man denke nur an die vielen emotional instabilen Patientinnen, bei denen die mehr oder weniger subtile Drohung mit dem Suizid immer mitschwingt. Oder an die vielen Machtkämpfe, die von persönlichkeitsgestörten Patienten in der Therapie inszeniert werden. Wenn einem das so nahe geht, kommt man sofort ins Agieren und kann nicht mehr vernünftig behandeln.

Bzgl. Psychosomatische Medizin sollte man IMHO außerdem bedenken, dass diese mehrere Diagnosegruppen großteils einfach ausspart - die organischen Störungen, die substanzbezogenen Störungen, die psychotischen Störungen. Wenn man bedenkt, wie oft andere psychische Erkrankungen mit substanzbezogenen Störungen einhergehen, wie oft substanzbezogene Störungen mit anderen psychischen Erkrankungen einhergehen, wie lange psychotische Störungen oft nicht erkannt und deshalb auch nicht behandelt werden, finde ich das durchaus bedenklich. Und nachdem eine akute Krise auch in einer psychosomatischen Klinik, auch in einer Psych-Reha auftreten kann, ist es durchaus sinnvoll, als Arzt in diesen Bereichen Erfahrung im Umgang mit Akutsituationen zu haben. Man sollte sich also aktiv der Akutpsych-Zeit stellen, sich aktiv bemühen, in dieser Zeit und in den Diensten möglichst viel mitzunehmen, um für unangenehme Situationen in der Zeit danach gut gewappnet zu sein.

Sinnvolles Vorgehen aus meiner Sicht: Das PJ-Tertial in der Psychiatrie absolvieren, darum bitten, zumindest die Hälfte der Zeit auf der Akutstation zu verbringen, darum bitten, ein paar Dienste mitmachen zu können. Belastende Situationen ansprechen und nachbesprechen, in dich hören, ob du bereit bist, an deinen Problemen diesbezüglich zu arbeiten. Dass dich kein anderes Fach so sehr begeistert hat wie die Psychiatrie, ist IMHO ein gutes Zeichen.

Zilia
30.03.2024, 08:36
Wenn Du Dich als „kleine Frau“ definierst, brauchst Du da gar nicht erst anzufangen. Ich bin eine „große“ Frau, aber körperlich nicht kräftig, somit hilft das also nur begrenzt. Ich kann nur nicht das „Mäuschen“ spielen, wie „ kleine Frauen“, die problemlos einen Kasten Wasser ins Obergeschoss tragen können, während ich das nicht kann.
Sorry, aber dieser Begriff nervt mich einfach.

Ich habe nicht in der Psychiatrie gearbeitet, aber in Bereichen mit vielen psychisch kranken Menschen. Wichtig ist, an seinem Auftreten zu arbeiten, damit man ernst genommen wird. Hilft zwar auch nicht immer, aber dann ist es wichtig, sich rechtzeitig bei der Pflege oder anderen Ärzten zu melden, damit man nicht mit suspekten Personen allein ist. Auch wenn die Pflege genervt ist. Ansonsten: 1. Blickkontakt halten und wachsam bleiben. 2. Nicht den Rücken zukehren. 3. Das Stethoskop nicht um den Hals tragen, damit es nicht als “Wuergeschlinge” dienen kann. 4. Gefährliche Gegenstände wie Glasflaschen (gibts in Psychiatrie eh eher nicht), Scheren, Briefbeschwerer nicht in Sichtweite des Patienten aufbewahren. 5. Immer auf das Bauchgefuehl hoeren. In der Rettungsstelle ist ja oft noch Polizei dabei, wenn jemand akut gebracht wird. In meiner alten Rettungsstelle hatte der psychiatrische Ordinationsraum eine Panzerglasscheibe.

davo
30.03.2024, 08:51
All diese Tipps sind sicher sinnvoll, und stehen ja nicht ohne Grund in jedem Buch zum Thema drin - aber für mich fällt das etwas in die Kategorie psychiatriebedingte Hypervigilanz.

Ich würde sogar sagen, dass eine Psychiatrie, die sich baulich und gedanklich am Knast orientiert, eher zur Eskalation als zur Deeskalation beiträgt.

Diese Faktoren spielen in 99,9% der Fälle ohnehin nie eine Rolle. Da geht es IMHO vielmehr um ganz andere Dinge - wie man mit dem Patienten spricht, wie man als Team Akutsituationen vor- und nachbespricht, usw.

Es ging ja ganz explizit um Beleidigungen und Drohungen, also um Dinge, die ihre Wirkung erst im Kopf des Empfängers entfalten. Im Umgang mit solchen Dingen bringt einem also weder eine Ausschaltung von Risikofaktoren noch ein Deeskalationstraining etwas. Und mit Beleidigungen und Drohungen wird in der Akutpsychiatrie jeder konfrontiert sein, egal ob kleine Frau oder großer Mann :-p