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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Illegale Medikamententests an Patienten



milz
05.06.2004, 22:20
Es gibt Sachen, die gibts nicht:

Universität Gießen suspendiert verdächtigen Chefarzt
Freitag 4 Juni, 2004 18:08 CET

Frankfurt (Reuters) - Die Universität Gießen hat den Chefarzt der Anästhesie an der Uni-Klinik mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert, weil er an Patienten ohne deren Einverständnis Medikamente getestet haben soll.

Zugleich leitete Hochschul-Präsident Professor Stefan Hormuth ein Disziplinarverfahren gegen den 64 Jahre alten Mediziner ein, wie die Universität am Freitag mitteilte. Die Hochschule wolle so ihr Ansehen und ihren wissenschaftlichen Nachwuchs schützen sowie einem Vertrauensverlust der Patienten entgegen wirken.

Die Staatsanwaltschaft Gießen ermittelt wegen des Verdachts der Körperverletzung mit Todesfolge gegen elf Ärzte, unter ihnen den Chefarzt der Anästhesie. Die Ermittler werfen den Medizinern vor, ab Anfang der 90-er Jahre bis heute illegale Medikamententests vorgenommen zu haben. Unter anderem sollen den Patienten in Versuchsreihen ohne medizinische Notwendigkeit Adrenalin-Spritzen verabreicht und Katheder gelegt worden sein, um das Zusammenwirken verschiedener Medikamente zu erproben. Die Versuche seien unter der Ägide des Chefarztes der Anästhesie unternommen worden.

Die Ergebnisse der Tests flossen nach Angaben der Staatsanwaltschaft in Studien ein und wurden für Dissertationen, Habilitationen und andere wissenschaftliche Arbeiten verwendet. Um welche Medikamente es sich handelt und wieviele Patienten betroffen sind, ist nach Aussage der Ermittler noch unklar. Die Staatsanwaltschaft versucht derzeit, über Original-Dokumente zu den Studien betroffene Patienten ausfindig zu machen. Bereits am Mittwoch hatte die Polizei 23 Kliniken und Wohnungen der beschuldigten Ärzte im gesamten Bundesgebiet durchsucht, da ein Teil der Verdächtigen mittlerweile nicht mehr in Gießen arbeitet. Auslöser für die Ermittlungen waren nach Angaben der Staatsanwaltschaft Aussagen von Medizinern. http://www.reuters.de/newsPackageArticle.jhtml?type=panoramaNews&storyID=523621&section=news

Rico
06.06.2004, 00:51
Kaum zu glauben! :-???

Erinnert fast an Anatomie 2.... :-(

DoktorW
06.06.2004, 01:58
Dazu muss man noch viel mehr von der Geschichte kennen. Dieser Ausschnitt reicht nicht aus, um die Story zu verstehen...

Aber ich geh jetzt :-sleppy

Neujahrsrakete
06.06.2004, 10:08
Solche Skandale wirklich so zu begreifen, daß man sich ein abschließendes Urteil über den konkreten Fall erlauben kann, ist mittels der für jeden Menschen zugänglichen Nachrichten und Zeitungsartikel nicht möglich.
Wie man schon an dem kleinen aber feinen Rechtschreibfehler "Katheder", anstatt richtig "Katheter" sieht,


Unter anderem sollen den Patienten in Versuchsreihen ohne medizinische Notwendigkeit Adrenalin-Spritzen verabreicht und Katheder gelegt worden sein, um das Zusammenwirken verschiedener Medikamente zu erproben.

wird in den seltensten Fällen so gut recherchiert, daß man einem simplen Zeitungsartikel einfach glauben darf.
Leider kann ich es mir nicht abgewöhnen, ab einem gewissen "Wichtigkeitsgrad" des Inhaltes eines Textes und ab einer gewissen gehobenen Stellung des Autors (schreibt er z.B. für eine deutschlandweit erscheinende Zeitung, oder ist es "nur" eine Schülerzeitung?) auch auf die Rechtschreibung Wert zu legen, bzw. von schlechter Rechtschreibung auf eine insgesamt schlechte Recherche zu schließen.

Die Niere
06.06.2004, 11:32
Reuters ist eine solche grosse Institution, dass sie sich durchaus erlauben könnte, spezielle Fachjounalisten an spezielle Themen heranzulassen...ich finde dies zeugt schon von einer vielleicht im Anstatz schlechten Recherche.

Aber ich kenne die gesamte Story nicht und frage mich, wie man Artikel mit den Daten veröffentlichen konnte, ohne dass jemand darauf aufmerksam geworden wäre.

Leider werden wir bestimmt in der nächsten Woche in der BILD, auf RTL, Sat.1 und Pro7 und auch in der ARD diesen Fall um Längen schlechter recherchiert und einseitig dargestellt bekommen.

Dies ist kein "Bitte keine Nestbeschmutzer"-Aufruf (wenn der Typ das wirklich so gemacht, gehört er verdammt nochmal verurteilt), sondern nur manchmal der unerfüllbare Wunsch, Medien würden mal versuchen objektiv und allumfassend darstellung aufzutreten...aber das findet man nur noch selten bis garnicht.

gruesse, die niere

DoktorW
06.06.2004, 11:36
Original geschrieben von Die Niere
Leider werden wir bestimmt in der nächsten Woche in der BILD, auf RTL, Sat.1 und Pro7 und auch in der ARD diesen Fall um Längen schlechter recherchiert und einseitig dargestellt bekommen.


Die Geschichte zieht sich schon seit Monaten (!) hin... Ich glaube kaum, dass Bild da jetzt nochmal im großen Stil berichten wird.

Die Niere
06.06.2004, 11:39
Original geschrieben von DoktorW
Die Geschichte zieht sich schon seit Monaten (!) hin... Ich glaube kaum, dass Bild da jetzt nochmal im großen Stil berichten wird.
Ohh, ist an mir vorbei gegangen...dann habe ich ja die objektive Berichterstattung schon verpasst :-))

DoktorW
06.06.2004, 11:47
Bei Spiegel online wird schon seit Monaten von dem Ganzen Theater berichtet. Erst der Abrechnungsbetrug, und wie das dann so ist, jeder zeigt den anderen an und die StA ermittelt gegen jeden. Ganz großes Tennis.

Daher hat mich diese Meldung überhaupt nicht mehr beeindruckt :-sleppy

Feuerblick
06.06.2004, 11:58
Tja, das was in den überregionalen Nachrichten über diesen Fall berichtet wird, ist leider immer aus dem Zusammenhang gerissen und ziemlich wirr. Nun hocke ich ja, wie der W auch, in Gießen und wir können uns das Drama aus allernächster Nähe anschauen. Und unsere Tageszeitungen (die leider die betreffenden Artikel nicht mehr im Archiv haben...) berichten fast täglich über die laufenden Verfahren...

Kurzer Abriß gefällig?

- Wie viele wahrscheinlich mitbekommen haben, sollen ja die Unikliniken Marburg und Gießen zusammengelegt werden (über das "Wie" streiten die oberen Chargen von Klinik, Landkreis etc.) - ob das in Zusammenhang mit der kleinen Schlammschlacht hier in Gießen steht....wer weiß...

- Beginn des lustigen Anzeigenreigens machte der Chef der Herz- und Gefäßchirurgie, der den Boß der Anästhesie des Abrechnungsbetruges bezichtigte. Die Staatsanwaltschaft durchsuchte daraufhin sämtliche Räumlichkeiten der Abteilung und das Haus des Beklagten und ermittelt seither.

- Keine Actio ohne Reactio: Die Herzchirurgen hätten sich der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht. Diese Beschuldigung kam anscheinend aus den Reihen der Anästhesie - Fall inzwischen eingestellt.

- Als Zwischenspiel folgte die Anklage (auch wieder aus der Riege der Herz- und Gefäßchirurgen), der Chef des Klinikums habe insbesondere die Ärzte der Herz- und Gefäßchirurgie quasi angestiftet, nicht rentable Patienten, bei denen die Kassen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Kosten übernähmen, aus wirtschaftlichen Gründen abzulehnen - inzwischen eingestellt, weil der alte Fuchs das natürlich nie so formuliert hat (es gab einen Gesprächsmitschnitt...).

- Als nächstes (und bisher letztes) Highlight kam dann der Vorwurf mit den illegalen Tests an Patienten, bei denen auch Patienten zu Schaden gekommen seien... Gestern oder vorgestern gab es dann wohl eine Stellungnahme des Anästhesieprofs, in der er darauf beharrt, daß niemals illegale Tests bzw. Tests ohne Einverständnis des Patienten durchgeführt wurden. Allerdings seien teilweise Tests ohne Zustimmung der Ethikkommission begonnen worden (natürlich mit Patienten, die man darüber aufgeklärt habe), wenn diese Zustimmung nur noch eine Frage der Zeit gewesen sei. Er sei sich sicher (das hat er wohl auch dem Klinikumsvorstand gegenüber geäußert), daß er alle diesbezüglichen Vorwürfe entkräften könne.

Hmm, ich hoffe, der zeitliche Ablauf stimmt einigermaßen. Kann auch sein, daß ich die Reihenfolge nicht mehr ganz zusammenbekommen habe, aber wir wurden hier eine Zeitlang täglich mit neuen Vorwürfen bombardiert. Da konnte einem schon mal der Überblick verloren gehen.

Leider kommt überregional mal wieder nur "Betrug!!!" und "illegale Tests" rüber. Besonders gutes Beispiel auch die Stern-TV-Sendung, die derart grottig recherchiert war, daß ich mich auf meinem Sessel gekringelt habe.
Ich will nun wirklich niemanden verteidigen, denn wenn auch nur ein Bruchteil der Anklagepunkte der Wahrheit entsprechen, dann sollten sie dafür auch den Kopf hinhalten müssen, aber die Berichterstattung läßt leider arg zu wünschen übrig!

Das Funkelauge

Shutt
06.06.2004, 13:59
na toll, Herzchirurgen und Anästhesisten in der dicken Schlammschlacht, im OP der Herzchirurgie kann man als Patient fast nur auf der hoffentlich immer noch vorhandenden Professionalität am Arbeitsplatz hoffen. *kopfschüttel* Ohne Worte!

Kackbratze
07.06.2004, 07:37
Wenn die Klinikne zusammengelegt werden, ist dann noch eine so große Anästhesie nötig?

Und hat Marburg auch eine Kardiologie die größer (und potentiell Besser) ist als die in Gießen?

Das wäre mal interessant zu wissen...

ToolKing
06.07.2004, 22:00
Kann ich dir nicht sagen. Bleibt nur abzuwarten, wie die Sache nun ausgeht - Fusion? Kooperation?

Ich glaube nicht daran, daß eine der Kliniken eingestampft wird, an denen hängt eigentlich zu viel dran. Daß eine Uni-Klinik zu einem Lehrkrankenhaus herabgestuft wird, halte ich für ein Schreckensszenario...