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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Fall 3/2005 - unklare Verwirrtheit, globale Aphasie



Tombow
01.03.2005, 00:40
Hi ihr lieben,

Mal wieder kann ich es nicht lassen, und da gerade im Trainingscenter nicht viel los ist, lasse ich mit dem nächsten Neurologie-Fall ein Paar schöne Erinnerungen wieder aufleben:

Ein Nachmittag, wo die Zeit zäh wie Melasse fließt, auf Station hat sich nur langweilige Arbeit gestapelt, als der Arzt aus der Notaufnahme anruft und den nächsten Neuzugang des Tages ankündigt:

78-jährige Patientin, wurde in ihrer Wohnung akut verwirrt aufgefunden von ihrer Tochter, zu dem Zeitpunkt habe wohl auch eine globale Aphasie bestanden(soweit beurteilbar). Als der Kollege in der Notaufnahme sie gesehen hat, habe sich die Symptomatik schon teilweise zurückgebildet. Vom sonstigen Untersuchungsbefund bestünde keine akute Gefährdung für die Patientin, also wird sie von euch auf der neurologischen "Normalstation" in Empfang genommen.

Damit wären wohl die Hoffnungen auf nem faulen, trägen Nachmittag bis zum Feierabend erstmal vom Tisch, aber was tun wir jetzt?

Hellequin
01.03.2005, 07:39
Na dann sagen wir der netten alten Dame doch erstmal Hallo.

Ist sie soweit orientiert und ausdrucksfähig, das man eine Anamnese machen kann?
Ist evtl. die Tochter noch mit dabei, so das man an eine Fremdanamnese kommt?
Ist der Hausarzt bekannt? Wenn ja, vielleicht kurze Rücksprache über evtl. Vorerkrankungen.
Wie schauen die Vitalzeichen (RR, Puls, Temp.) aus?
Anzeichen für eine Exzikose (verringerter Hauttugor)?

boarding_girl
01.03.2005, 11:46
Hat die Tochter irgendetwas mitgebracht? Medikamentenzettel oder ähnliches?

Wie geht es der Patientin? Verwirrt? Verängstigt?
Wie ist die Patientin gekleidet? Normal oder verwahrlost?

Hat der Notarzt/Rettsan/RettAss etwas über die häusliche Umgebung zu berichten?

Lava
01.03.2005, 17:59
Ist sowas schon mal vorgekommen? Was heißt denn "akut verwirrt"? War sie denn sonst noch ganz gut beisammen? Wie ist ihr Gedächtnis normalerweise? Lebt sie alleinund versorgt sich selber oder bekommt sie Hilfe von irgendjemandem? Gab es neben der Aphasie noch andere Auffälligkeiten, z.B. motorische (Lähmungen, ...) oder irgendwelche Blickdiagnosen (Fazialislähmung, Ptosis,...)?

Zoidberg
02.03.2005, 23:31
Akut verwirrt und aphasisch, als grobe DD würde ich vor der Anamnese mir erstmal überlegen: Exsikose, Hypo/hyperglykämie, Infekt, TIA, fokaler epileptischer Anfall, Migräneanfall, Elektrolytstörung in unsortierter Reihenfolge.

Als erstes Anamnese, also kann sich die Patientin noch an etwas erinnern, hatte sie das schonmal, ich würde mir einen psychopathologischen Eindruck verschaffen: Langzeit+Kurzzeitgedächtnis testen, Sprichworttest, 100-7 Test.
Sonst Vorerkrankungen erfragen, sonstige Auffälligkeiten erfragen.

Tombow
23.03.2005, 19:15
Okay ihr lieben,

Hat ziemlich lange gedauert, bis es hier weitergeht, hatte aber auch seine Gründe. Zu euren Fragen:

@Hellequin:
Patientin ist zeitlich und örtlich unscharf bis nicht orientiert. Eine Anamnese zum aktuellen Geschehen ist nicht möglich, eine allgemeine Anamnese sehr erschwert, da die Patientin anscheinend die Fragen nicht richtig versteht. Allerdings fällt auf, daß sie teilweise die Fragen über Umwege zu beantworten versucht.

@boarding girl:
Die Frau ist weder verwirrt noch verängstigt, macht subjektiv den Eindruck einer lieben Oma(oder LAD in GAZ, falls jemand die Abkürzung favorisiert). Was die Tochter der Kollegin in der Ambulanz zu berichten hatte:

Ihre Mutter lebe alleine, werde aber einmal täglich von einer Haushaltshilfe besucht und versorgt; Pflegestufe 1, vor einigen Jahren habe sie einen linkshirnigen Infarkt erlitten, Symptomatik habe sich aber fast vollständig zurückgebildet bis auf einer leichtgradigen sensorischen Aphasie. Dies wurde auch von dem(telefonisch kontaktierten) Hausarzt bestätigt. Von ihm bekommen wir auch einen Medikamentenplan zugefaxt, der folgendermaßen aussieht:

Aggrenox(Kombipräparat: Dipyridamol + ASS): 1-0-1
Bezafibrat 200mg: 1-0-0
Hydrochlorthiazid 25mg: 1-0-0
Ramipril 2,5mg: 1-0-0


@Janine:
Laut Angaben der Tochter dem Notarzt gegenüber habe sie ihre Mutter in ihrer Wohnung aufgefunden, wo sie sich absolut nicht zurechtzufinden schien. Die Patientin habe zwar auf Ansprache reagiert, könne sich aber weder artikulieren noch habe sie den Eindruck gemacht, daß sie gezielt auf Ansprache reagiert hat.

@Zoidberg:
Deine Arbeitsliste ist schon nicht schlecht. Zu deinen Fragen, denke ich daß sie schon ausreichend beantwortet worden sind.

Und jetzt für alle der Untersuchungsbefund bei Aufnahme auf Station:

Neurologischer Untersuchungsbefund:
Untersuchung eingeschränkt möglich, Patientin wach, zeitlich und örtlich unscharf orientiert, Verdacht auf sensorischer Aphasie, kein Meningismus, fragliche Hemianopsie nach rechts, fragliche Blickparese nach rechts, diskrete zentralie Fazialisparese rechtsseitig. Muskeltonus normal, Muskeleigenreflexe seitengleich, lebhaft, keine pathologischen Reflexe, keine höhergradigen Paresen erkennbar. Ziel- und Wechselbewegungen der Extremitäten nicht durchführbar.

Allgemeinkörperlicher Untersuchungsbefund:
78jährige Patientin in gutem Allgemein- und Ernährungszustand, Herz-Lungenbefund unauffällig, keine kardialen Insuffizient/Stauungszeichen, keine Verletzungszeichen, Abdomen weich, keine Resistenzen, keine Hepatosplenomegalie, gesteigerte Peristaltikgeräusche.

Notfallabor(nur pathologische Befunde):
Kalium 3.2mmol/l
Natrium 127mmol/l
Kreatinin 0,98mg/dl
Harnsäure 8,56mg/dl
CRP 12,2mg/l

So, und wie geht's weiter? Verdachtsdiagnosen, welche Diagnostik? Stehen wir vor einem Notfall, den wir sofort behandeln müssen oder können wir erst einmal ruhig Kaffee trinken?

hiddl
24.03.2005, 06:17
Das Labor finde ich nicht so beunruhigend, über das Natrium könnte man ja noch mal eine Sekunde nachdenken, aber das diese Symptome daher kommen, denke ich eher nicht. Meine primäre Verdachtsdiagnose wäre eine linkshemisphärieller Schlaganfall (häufiges ist häufig) - aber das wäre hier vielleicht ein bißchen banal. Zweiter Verdacht bei viel Aphasie, wenig Parese wäre eine HSV-Enzephalitis. Ich denke, man sollte die Dame erstmal - noch vorm Kaffeetrinken - ins CT schieben, da würde man einen Infarkt ja hoffentlich sehen, wenn man da (noch) nix sieht, dann entweder MR falls verfügbar (Lyse?!) oder auch LP (Entzündung?).

Lg, Ute

...die gerade auf einer neurologischen Intensiv hockt und sehnsüchtig auf den Frühdienst wartet...

lala
24.03.2005, 07:33
Sehe das ähnlich wie hiddl:
Verdachtsdiagnosen:
1. "Re-Apoplex" (Lieblingseinweisungsdiagnose der Hausärzte gerade vor WE und Feiertagen)
2. Verschlechterung einer vrbestehenden Symptomatik unter Infekt/Exsikkose
3. Postiktaler Zustand mit Toddscher Symptoamtik (hatte ja mal nen linkshirnigen Infarkt)
4. HSV-Encephalitis
5. non-konvulsiver Status

Ich würde jetzt mal machen:
Zuerst EEG (Status? postiktales EEG? Encephalitis-typisch?)
Liquor
nebenbei natürlich mal U-Status (Lieblings-Fokus) und Fieber messen und alte Unterlagen besorgen

Bildgebung würde ich zurückstellen denn eine Lyse verbietet sich hier eigentlich schon: NIHS-Score zu niedrig (nur faciale Parese und Aphasie) und zudem Zeitfenster völlig unklar! Natürlich wenn o.g. Diagnostik ohne Ergebnis macht MRT Sinn (auch wegen DD der Encephalitis) - falls die Patientin ruhig liegen bleiben kann *g*

Zoidberg
24.03.2005, 11:36
Könnte außerdem auch eine akute Tumoreinblutung die Ursache sein?

lala
05.04.2005, 18:29
Tombow???
Weitermachen!!!!

Tombow
18.06.2005, 14:02
So ihr lieben....nach langer langer Abstinenz wird der Fall doch wieder zu Ende geführt...und hier zu ihren Fragen und Anregungen:

@hiddl:
Das Natrium haben wir schon etwas merkwürdig gefunden, doch nichts akut beunruhigendes, Patientin bekam zu ihrer normalen Medikation auch noch Kalinor- und Slow-Sodium Brausetabletten und für den nächsten Tag eine Elektrolyten-, BB- und Krea-Kontrolle verordnet, da war sie wieder im Normbereich.

CCT war schon über die Notaufnahme angeordnet und gelaufen, Notfallbefund: Alte Infarktnarbe linkshirnig hochparietal, keine Anzeichen einer Raumforderung oder einer akuten Hirnblutung, deutliche Sklerose der Hirnbasisarterien, keine anderen Auffälligkeiten. Mit dem MR haben wir das ähnlich wie doclala gesehen - Wenn sich die Lyse aufgrund der Umstände von selbst verbietet, brauchen wir nicht die alte Dame nochmal in die Röhre zu schieben.

@doclala:
Wieder einmal eine hervorragende Differentialdiagnosen-Liste. EEG könnten wir erst am nächsten Tag machen, ergab aber bis auf die Hemisphärenveränderung links hochparietal keine Zeichen einer erhöhten zerebralen Erregbarkeit. U-Status war unauffällig, Fiebermessungen fielen insgesamt um die 37° (mal 1-2 Zehntel darüber, mal darunter), CRP sank leicht und war dann bestenfalls(oder schlimmstenfalls) grenzwertig normal. Die neurologische Symptomatik war bis auf die (laut Fremdnanamnese der Tochter) bekannten Infarkt-Residui(leichte Aphasie) rückläufig.

Nun, wie geht's weiter?

lala
18.06.2005, 15:00
Nun da sich Laborparameter in der Kontrolle dann normal darstellen und die Klinik komplett (?) rückläufig ist,spricht vieles für einen Anfall. Das EEG am nächsten Tag mus ja nun nichts epileptisches mehr zeigen. Man KÖNNTE natürlich noch ein bißchen provozieren und Schlafentzugs-EEG und so machen - aber angesichts des Alters....eher nicht. Da das ganze nicht sicher ist, würde ICH auch sowieso nicht antikonvulsiv behandeln.

Die zweite Möglichkeit wäre alles auf Exsikkose/E`lytstörung zu schieben....auch das hätte keine weitere Konsequenz. Von daher würde ich auf weitere Diagnostik (MRT, Liquor etc.) verzichten.

Also ich würde die Patientin nach Hause schicken, die Diagnose offen lassen und als Anfall verschlüsseln ;-)
:-party