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Tse Tse
12.07.2005, 05:16
Die Geschichte des Monsieur Letizi

"Monsieur Letizi, bitte erzählen sie uns eine Geschichte !"
"Na ihr beiden. Also gut, aber nur eine kleine. Es war damals, als ich noch im Hospital arbeitete. Das kennst du doch bestimmt, Alizee. Ihr habt dort immer eure Mutter besucht, in der Zeit, als dein Brüderchen zur Welt kam.
Damals war ich noch jünger. Ha, da braucht ihr euch gar nicht so frech anzuschauen ! Das gab's ! Es war dort meine Aufgabe einen alten Mann zu pflegen. Er war ziemlich alt. Eigentlich war er so alt, dass es ihm selbst schwer fiel, sich an eine Zeit zu erinnern, in der er nicht schon alt gewesen ist. Aber er war zufrieden; mit sich und im Großen und Ganzen auch mit der Welt. Und wenn ihr ihn fragen würdet, was ihn denn so zufrieden mit sich und der Welt macht, so würde er euch antworten, in seiner eigenen, zufriedenen und in sich ruhenden Art, es ist das Rauschen.

Es rauschte nämlich in seinem Ohr, müsst ihr wissen.
Irgendwann einmal hatte das Rauschen angefangen; hatte angefangen und nicht wieder aufgehört. Niemals ! Das linke war's glaube ich.
Wenn er sich abends zum Schlafen ins Bett legte, dann schlief er mit diesem Rauschen ein. Es sei wie Wellen, wunderschön. Und er träumte dann vom Meer, dass er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Und wenn er morgends aufwachte, so stand er mit diesem Rauschen auf. Es sei dann wie ein sanfter Wind, der ihn berührte.
Der alte Mann hatte schon viel erlebt in seinem Leben. Er war - von Stürmen umtost, so wie er sich ausdrückte. Doch das Rauschen, es habe ihm immer Kraft und Frieden geschenkt. Einmal vor Jahren, sagte er, als ich ihn wusch, sei er beim Arzt gewesen, wegen seinem Kopfweh. Die Ärzte hätten ihm gesagt, etwas stimme nicht mit seinem Kopf und den Blutgefäßen darin. Ja, besorgt seien sie gewesen und hätten gemeint, er solle sich operieren lassen, bevor es anfinge zu bluten. Er hatte nicht alles verstanden. Aber das wollte er auch nicht, nicht am Kopf. Er hatte Angst, dass das Rauschen dann verklingen könnte. Dann hat er geweint."

Die Kinder schauten den Monsieur Letizi mit großen Augen an, bedankten sich artig und eilten aus der Wohnung. "Grüßt mir eure Mutter", rief der Monsieur ihnen nach. Dann setzte er sich wieder ans Fenster und betrachtete die Straße. Unten auf dem Trottoir sah er den beiden noch eine Weile nach. Es schien ihm, als neigten sie die Köpfe, um nach Etwas zu lauschen.
Er lächelte und dachte: nächstes Mal, wenn sie mich besuchen kommen und mir einen Korb mit dem köstlichen Wein und Käse vorbeibringen, dann erzähl' ich ihnen eine lustigere Geschichte, die war ja mal richtig merde.
Dann versank er wieder in seinem Sessel und in Gedanken.