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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Völlig normal, wie Fish & Chips



Tse Tse
09.09.2005, 12:53
„Begrüßen sie mit mir ganz herzlich die nächste junge Autorin auf der Bühne. Applaus, bitte.“
„Dankeschön, danke. Ich möchte gern einige Worte verlieren, bevor ich einen Auszug aus meinem Wettbewerbsbeitrag vorlese. Ich habe mir kurz vor diesem Literaturwettbewerb noch ein paar Tipps über Vortragstechniken und Freies Sprechen durchgesehen. Einer scheint mir ganz hilfreich sein zu können: als Einstieg in ein Thema, auch um Nervosität abzubauen, solle man die ersten Sätze seines Manuskriptes wortwörtlich auswendig lernen. Der Rest liefe dann von alleine, hieß es.“
„Fangen sie nun bitte an.“
„Jedenfalls habe ich einige Sätze vorbereitet. Darum könnte es klappen heute Abend. Vom Einstieg und Ausstieg habe ich klare Vorstellungen, nur das Zwischendrin – das Hauptthema, mein Beitrag - bereitet mir noch etwas Kopfzerbrechen. Aber wie bereits erwähnt, den Ausstieg aus dem Thema schaffe ich, notfalls durch das Klofenster. Das war ein Witz, na ja.“
„Würden sie aufhören herum zu labern und ihre Lesung beginnen !“
„Hm, ja. Liebes Publikum, dass hier sind jetzt übrigens meine vorbereiteten Worte von denen ich sprach, ich hoffe sie sehen es mir nach, dass ich im Vorlesen nicht sehr geübt bin. Ich entschuldige mich damit, dass ich noch keine Kinder habe, denen ich hätte vorlesen können. Meinen Kindern werde ich später natürlich nicht meine Geschichten erzählen, so wie ihnen heute Abend, sondern etwas Schöneres. Nachher säßen sie auch irgendwann einmal als Journalisten und Literaturkritiker in solch einem Publikum herum oder gelangweilt in einer Jury und würden sich dann ähnliches Zeugs wie meinen Kram hier anhören.“
„Legen sie endlich los!“
„Ach, ich wollte doch nur…“
„Sie kapieren’s scheinbar nicht ! Oder ?“
„Was ?“
„Dass sie hier zum Lesen sind !“
„Okay, ich hab’s verstanden. Es bleibt kein Raum um mal seine Gedanken auszubreiten. Mal 2 Minuten nicht zu funktionieren. Einfach mal 2 Minuten atmen …wenn das hier so ist, hätte ich genauso gut in ´ner Fabrik schaffen können.“
„Lesen sie, verdammt ! Oder lassen sie es bleiben !“
„Na gut. Ich geh’ noch einen trinken und dann fahr’ ich nach Hause.“
„Was ?“
„Na, ich lass’ es bleiben. Wiedersehen.“
„Tschüss.“

Tse Tse
09.09.2005, 12:56
1
Komisch, früher hatte diese Bushaltestelle hier noch eine Sitzgelegenheit, denkst du, während du auf die 10 wartest und der feine Regen dir unaufhörlich auf den Kopf tröpfelt.

Oder wenigstens ein Dach zum unterstellen. Warum das wohl nicht mehr so ist, fragst du dich. Und stellst dir vor, dass so ein Plastikwartehäuschen jetzt womöglich bei irgendjemandem zu Hause im Wohnzimmer steht und die alte Couch ersetzt hat. Einzelne Wartebänke verschwinden ja auch gerne mal, nur um auf einem fremden Balkon oder in einem Garten in der Nähe wieder aufzutauchen. Diese grünen Bänke machen sich bestimmt ganz gut neben einigen Grünpflanzen. Wenn die nur nicht so schwer zu tragen wären, die müssen die wohl extra mit Blei beschweren. Aber du hast von dem abgesehen eh keinen Balkon und auch keinen Garten, erinnerst du dich. Nicht mal Grünpflanzen, wenn man von den Küchenkräutern absieht.

Verdammt ist das kalt heut’ Abend. Sollte vielleicht doch mal langsam die warmen Sachen anziehen, sinnierst du, aber du weigerst dich mit dieser Art von Klamotten-Protest anzuerkennen, dass der Sommer nun endgültig vorbei ist.

Oh, dir fällt gerade auf, dass du dein Fahrticket gar nicht dabei hast. Und die letzten Münzen hast du nach deinen Einkäufen beim Bäcker für diese 2 leckeren Amerikaner ausgegeben. Manchmal machen sie da kleine Schokostückchen rein, die seltsamerweise nach Kaffee schmecken. Das macht kein anderer Bäcker hier in der Stadt – nur dort machen sie das. Und nur von Zeit zu Zeit, aber du hast noch kein System entdecken können, ob das nur an einem bestimmten Tag ist. Heute waren es jedenfalls Ottonormal-Amerikaner, Donnerstags oder Freitags vielleicht – ich muss da nächstes mal nachfragen – wann, nimmst du dir vor.

Im Gegensatz zur Mensa, deren System hast du längst durchschaut. Gegen Ende des Semesters häufen sich da die Currygerichte. Die ersten beiden Wochen des Semesters gibt’s die nie. Ab der 3. Woche fängt’s dann an, einmal die Woche. Voriges Semester in einer der letzten Wochen gab’s die sogar gleich 3 mal. Erst Currynudeln, danach Curryreis und dann wieder Currynudeln. Der Bauch ist zwar voll, tut aber danach immer so weh. Warum die das wohl machen ? So viel Curry-Fertigmischungen kann’s doch nicht geben ? Um es zu lagern haben sie bestimmt die halbe Stadt untertunnelt mit unterirdischen Currylagern. Oder der Schwager des Kochs betreibt eine Import/Export-Firma in Indien. Obwohl, das Curry gibt’s in Indien gar nicht – das ist dieses deutsche Gewürz.
Ah, der Bus kommt.

Was willst du machen ?
• Mit dem Bus nach Hause fahren, obwohl du kein Ticket hast,dann lies bei
Abschnitt 3 weiter.
• Oder durch den Regen nach Hause laufen, dann geht’s bei
Abschnitt 2 weiter

Tse Tse
09.09.2005, 13:00
2
Du stehst vor den geöffneten Türen des Busses im Eingangsbereich. Die aus- und einsteigenden Leute drängeln sich an dir vorbei, manche schauen dich ärgerlich an, manche fluchen, weil du im Weg stehst.
„Was ist ? Wollen sie nun mitfahren oder nicht ?“
Die Türen schließen sich und der Bus fährt ohne dich davon. Du schaust auf und siehst noch kurz ein paar verschwommene Gesichter hinter den Fensterscheiben, seltsam auseinander gezogen, wie auf diesen lang belichteten Nachtaufnahmen, auf denen die Autoscheinwerfer streifenförmig dem Verlauf der Straße folgen.

Schließlich läufst du „Heim“ durch den Regen. Es ist bereits dunkel geworden. Am Himmel hoch über dir siehst du die blinkenden Signallichter eines Flugzeugs und du stellst dir vor, es sei in Wirklichkeit eine Sternschnuppe. Du bleibst für einen kurzen Augenblick stehen und wünschst dir etwas – ein schöneres Leben.
Ich bin ein Idiot, warum sag’ ich meinem Schatz nicht einfach was ich empfinde. Was mich bewegt und vor was ich Angst habe – weglaufen wäre das richtige Wort.
Wirklichkeit, ha. Für mich scheint es keine zu geben. Oder tausende, immer anders, unberechenbar. Und der Himmel ist so weit; hochhäuserhoch und wolkenverhangen.

• Wenn du das Ende erfahren möchtest, dann lies unter Abschnitt 4 weiter.

Tse Tse
09.09.2005, 13:01
3
Du steigst ein und nimmst gegenüber einem alten Ehepaar platz. Was starren die beiden mich denn so seltsam an ? Ob die meine Gedanken lesen können, so wie die glotzen ? Na gut, dann denk’ ich jetzt mal, was ich von diesen Blödmännern halte. Nein, ich lächle einfach freundlich.
Naja, vielleicht haben sie ja recht und ich seh’ wirklich etwas heruntergekommen aus. Wenn jetzt noch ein Kontrolleur zusteigen würde, sähen sie ihr Bild, dass sie vermutlich von mir haben, vollends bestätigt.
Ach, aber den Busfahrer kenne ich doch – der ist okay. Er trinkt nach Feierabend nichts mehr, wenn er den nächsten Morgen wieder fahren muss. Der würde bestimmt ein gutes Wort für mich einlegen.

Der Bus fährt gleichmäßig mit einem beständigen Dröhnen und Brummen, das etwas beruhigendes an sich hat. Dir fällt auf wie müde du doch geworden bist, dann fallen dir die Augen zu und für einen Augenblick hast du Bilder wie im Traum vor Augen.
Du gehst mit deinem Schatz über einen Jahrmarkt. In der nächsten Szene sitzt ihr in viel zu klein gewordenen Autoscootern und küsst euch. Durch eure Selbstvergessenheit baut ihr einige Unfälle und werdet ziemlich durchgeschüttelt.
„Endstation“, ruft der Busfahrer, während er an deiner Schulter rüttelt.
Du wirst allmählich wach, steigst aus und gehst eine Station zurück, an der du eigentlich hättest aussteigen müssen. Ein etwas kitschiger Traum, denkst du auf dem „Nachhauseweg“.

• Wenn du das Ende erfahren möchtest, dann lies unter Abschnitt 4 weiter.

Tse Tse
09.09.2005, 13:04
4
„Na, wie war’s in der Stadt ?“
„Danke gut, Schwester.“
„Das Essen von heute Mittag haben wir ihnen aufgehoben. Das können sie ja noch zu Abend essen.“
„Was gibt’s denn ?“
„Curryhühnchen.“
„Ah, ich glaub ich ess’ heut’ nur meine Tabletten. Und diesen Amerikaner“, du greifst in die Tüte und fühlst nur noch ein Stück Matsch, das nicht mehr so vorzeigbar zu sein scheint und belässt es doch lieber an Ort und Stelle.
„Haben sie ihre Besorgungen erledigen können ?“
„Hmm, ich war bei meiner Krankenkasse und danach noch im Supermarkt.“
„Was haben sie denn eingekauft“, fragt die Schwester mit einem Blick auf die Plastiktüte.
„Schnaps natürlich ! Und sie sind gerne nachher eingeladen einen mit mir auf meinem Zimmer zu trinken.“
„Haha, wenn ich nicht im Dienst wäre und sie nicht zur Behandlung bei uns und sie tatsächlich Alkohol dabei hätten, dann würde ich gerne ihr Angebot annehmen.“

Du gehst auf dein Zimmer und es klirrt ziemlich laut in der Plastiktüte; bist bemüht keine Geräusche zu machen, aber es klirrt und klirrt und der Gang ist noch so ewig lang. Du versuchst mit einem gespielten Husten die Geräusche zu übertönen. Und dann musst du lachen, oh es ist so lächerlich und ich bin so erbärmlich, denkst du für einen kurzen Moment mit einem Lächeln um Mund und Augen. Kannst es nicht festhalten - zu schnell wird es zu Tränen. Du bist aufgeregt. Dir läuft die Nase, aber deine Kehle ist im Gegensatz dazu ganz trocken. Du kommst dir vor wie als Kind bei den Bundesjugendspielen, diese Aufregung vorm 100-Meterlauf, abzuwarten bis zum Startsignal; diese verdammte Aufregung – hast dich damals nie wirklich wohl gefühlt.
Achtung, fertig, los…
Ja, gestartet bin ich schon vor Jahren, denkst du. Aber nie wirklich angekommen, hatte auch nie wirklich ein Ziel wo ich hätte hinlaufen können. Alle anderen sind immer vorher angekommen, waren immer toll. Und ich habe es nie auf die Reihe gekriegt – nie auf die Reihe bekommen zu leben. Habe nie was aus mir gemacht. Nichts ist aus mir geworden. Ein Leben in Scherben - wie bald das Gesöff hier in der Tüte, wenn ich nicht bald aufhöre zu zittern.

„Sie haben übrigens Besuch“, ruft die Schwester hinterher. „Wartet schon lange in ihrem Zimmer auf sie.“
Okay, dann kann mein Leben ja doch noch nicht ganz zu Bruch gegangen sein. Außer es ist der Sensemann, der auf meinem Bett auf mich wartet. Der kann so lange warten wie er will, der kriegt mich noch nicht in die Finger. (Oder schlimmer, es ist schon wieder dieser Monsieur Letizi, die alte Knalltüte, will bestimmt wieder eine seiner blöden Geschichten zum Besten geben. Nee, da geh’ ich lieber nicht rein oder vielleicht doch? Muss die Flaschen ja im Schrank verstecken).

Früher oder später kommt’s doch wieder raus.
Und dir fällt dieser Louis-de-Funes-Film ein, in dem er glaubt einen Mord begangen zu haben und die Leiche im Garten unter einem Pavillon vergräbt. Dabei war der Mann an einem Herzinfarkt gestorben, oder so ähnlich. Plötzlicher Sekundentod, nein, wie heißt das, Sekundenschlaf – Herztod.
Ach egal, jedenfalls fängt’s bei einem Gartenfest an zu regnen. Das Wasser weicht diesen frisch zementierten Pavillon auf und die Band die noch immer darauf spielt, als sei’s der Untergang der Titanic, ist zu schwer und – welch’ wunderbare Komik, der Tote kommt allmählich zwischen den Rissen wieder zum Vorschein. So könnt’s dir auch mit den leeren Flaschen gehen, die du bereits hier rausgeschafft und draußen im Beet vergraben hast. Mist, das wäre dann aber nicht mehr so lustig. Hoffentlich regnet es die Nacht über nicht noch stärker.

Gleich bin ich da. Gleich ist’s geschafft. Noch ein paar Schritte. Fühlst schon den Alkohol die Kehle – ach ne, Schluss, ich muss damit aufhören, denkst du und versuchst an gar nichts mehr zu denken…