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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Was mich so traurig machte...



funkytyreese
15.09.2005, 17:48
Vorgestern war ein wunderschöner Sonnentag in Ostwestfalen. Also beschloss ich, in den Garten zu gehen und dort für kleinbürgerliche Ordnung, wie sie meine Eltern so gern haben, zu sorgen. Natürlich waren das Küken „Vogel“ und mein Hund „Titus“ auch mit von der Partie.
Ihr müsst wissen, meine Eltern, mein Bruder und ich, wir wohnen eher ländlich: Wo heute unsere Küche ist, war früher ein Schweinestall, unser Wohnzimmer war ursprünglich eine Hühnerwiese. Darum ist es nicht verwunderlich, dass das Gelände um unser Haus aus einer riesigen Rasenfläche und aus einem beachtlich großen Gemüsegarten besteht.
Nun, genug der ablenkenden Details: Ich ging also nach draußen, mein Gefolge „Vogel“ mitsamt Frau Mama und „Titus“ dicht auf den Fersen und machte mich daran, zunächst das Laub, das bereits unter den Pflaumenbäumen lag, sowie die Nadeln der alten, gekrümmten Kiefer, die meine Mama seit Jahren in einer Nacht- und Nebelaktion gegen den Willen meines Vaters absägen will, zusammenzuharken. Anschließend befreite ich die Blumenbeete von Laub und Unkraut, schnitt welke Blüten und Blätter an der einen oder anderen Pflanze ab, lockerte den Boden mit der Schäufel (Bezeichnung ostwestfälischer Bauern für „kleine Schaufel“, keine Spur von typischen Suffixen wie –lein oder –chen) und harkte schließlich darüber. Als ich mich gerade daran machen wollte, die Brombeeren zu pflücken, hörte ich eine bekannte Stimme. „Hallo“, sprach sie, „wir haben heute in der Zeitung gelesen, dass die Apfelernte angefangen hat. Wir wollten Äpfel pflücken!“
Das war Frau B., eine Nachbarin. Familie B. hatte vor sechs Jahren in unserem Hühnerfreilauf (das ist da, wo die Hühner wegen Vogelgrippegefahr nicht sein dürfen) Obstbäume gepflanzt, weil im B.’schen Garten kein Platz dafür war. Einmal im Jahr schaut Frau B. mit ihrer Tochter Kim nach den Bäumen, nämlich dann, wenn die Zeitung eine Meldung über den Beginn der Apfelernte beinhaltet. Dass dann immer schon die Hälfte der Früchte auf dem Boden liegt und von Wespen und Hühnerkot zerfressen ist, scheint sie nicht zu stören.
Also half ich den beiden beim Pflücken, zuvor aber fragte ich: „Möchtet Ihr was trinken? Oder ein Stück Kuchen?“ (Ich hatte am Vortag Marmorkuchen gebacken, weil mein Papa den so gern isst.) „Au ja, gerne!“ rief die fünfzehnjährige Kim. Ich wollte mich gerade auf den Weg in die Küche machen, da zitierte mich Frau B. zurück: „Nein, lass mal gut sein!“ Total verdattert wollte ich versichern, dass es wirklich überhaupt kein Problem sei, schnell Kuchen und Orangensaft herbeizuholen, doch dann: „Kim, ich hab Dir doch gesagt, Du darfst nur drei Mahlzeiten am Tag essen! Und schon gar keine Süßigkeiten! Haben wir uns verstanden?“
Kim blickte auf den Boden und gab ein leises „Ja, Mama“ von sich. Da schaute ich mir das Mädchen zum ersten Mal richtig an. Groß war sie, einen Meter siebzig schätzungsweise, blass, und so dünn, dass die Nachbarn schon darüber spekulierten, ob die Kleine nun auch, wie so viele Mädchen in ihrem Alter, magersüchtig geworden sei. Mein Blick wanderte zu ihrem Kopf: Kims blonde Haare waren zu einer komplizierten Hochsteckfrisur zusammengefasst, die Augen waren mit blauen Lidschatten und Wimperntusche bearbeitet worden, Rouge hatte sie ebenfalls aufgelegt, wahrscheinlich, um ihre Blässe zu übertünchen. Ich möchte nicht vergessen, die teuren Esprit-Ohrringe, die ich selbst seit langem haben möchte, mir aber nicht leisten kann, zu erwähnen. Lustig baumelten sie, Blättern im Wind gleich, an ihren Ohrläppchen.
Wir begannen zu pflücken.
„Du Kim, wann fängt morgen die Schule an?“ fragte Frau B. nach einer Weile. Sie hatte Kim seit der ersten Klasse mit dem Auto zur Schule gebracht. Ich fragte mich, ob die Kleine überhaupt ein Fahrrad besaß.
„Um viertel vor neun muss ich da sein. Da hab ich Erdkunde.“, antwortete eben jene.
„Sehr gut, dann kannst Du ja vorher noch ne halbe Stunde aufs Laufband. Und Deine Choreographie musst Du auch noch üben!“
Herr und Frau B. hatten damals entschieden, dass ihre Tochter bestimmt gerne tanzen und singen würde. Seitdem ging sie jeden Dienstag und Freitag zum „Dance and Gym“, um dort „Modern Jazzdance“ oder „Modern Ballet“ zu tanzen, mittwochs zum Gesangsunterricht. Ich erinnere mich an einen Tag der offenen Tür, den unsere Schule mal veranstaltet hatte. Da musste Kim vorsingen und –tanzen. Mit dünnem Stimmchen hatte sie den Britney Spears-Hit: „Oops, I Did It Again” vorgetragen und anschließend zu „Barbie Girl“ von Aqua getanzt. Schlaksig, kraftlos und unmotiviert hatte das ausgesehen. Ich war damals gegangen, weil ich in der Aula am Flügel jazzen musste und weil ich nicht länger zuschauen wollte: Das war nicht ihr Traum, den sie da lebte.
Zurück zum Apfelbaum.
Während wir so pflückten, kamen ab und an „Vogel“ und seine Mama vorbei. Kim fragte mich, ob sie das süße kleine Küken einmal auf den Arm nehmen dürfe. Natürlich hätte sie das gedurft, wenn nicht Frau B. mit hochrotem Kopf interveniert hätte: „Kim, Du machst Dir nur Deine Sachen schmutzig. Hilf mir lieber! Und hör auf den Hund zu streicheln, der hat sich eben im Dreck gewälzt!“ Hatte er gar nicht, mein Hund wälzt sich nie im Dreck, mein Hund ist sowieso der sauberste Hund auf der Erde, und warum sollte er sich im Dreck wälzen, das wäre ja völlig unnormal, weil das macht ja kein Hund! Und überhaupt, was ging sie das an, was mein Hund in seiner Freizeit macht!
Langsam aber sicher spürte ich diesen Kloß in meinem Hals, der sich nur dann bemerkbar machte, wenn ich wütend wurde oder heulen musste. Mir war nach beidem zu Mute, so dass ich dafür sorgte, dass wir schnell fertig wurden. Noch einige Male musste ich „Kim, tu dies nicht! Kim, tu das nicht! Und lass jenes endlich sein!“, bis Frau B. endlich entschied, dass sie genug Äpfel habe. „Danke für Deine Hilfe. Tschüss!“, sagte sie mit eiskalter Stimme zum Abschied, um sich dann umzudrehen und, von Kim gefolgt, vom Hof zu stolzieren, die Schubkarre vor sich herschiebend. Ich sah den beiden nach. „Titus“ kam angelaufen und setzte sich dicht an mein Bein. Ich glaube, er verstand, was mich so traurig machte.

Wombat
16.09.2005, 08:12
Ich kann mir vorstellen wies dir jetzt geht. Das Mädel kann einem nur Leid tun...

Sabine
16.09.2005, 13:07
Da stellen sich mir echt die Nackenhaare auf!
Meine Kinder dürfen sich jedenfalls dreckig machen, essen eigentlich soviel oder auch mal sowenig sie wollen, treiben den Sport, den sie mögen sind glücklich, lachen, spielen auf der Straße ( wir wohnen auch ländlich) und genießen einfach die Zeit, wo noch noch nicht der große Alltagsstreß von einem Besitz ergriffen hat und einen auffrißt.
Ein Tag, an dem ich nicht mit meinen Kindern gelacht habe, war kein guter Tag; zum Glück gibts nicht viele davon. Auch ich bin eigentlich ein "großes" Kind geblieben.
Bedauernswerterweise gibts immer weniger glückliche Kinder, die, gemanagt von ihren Eltern, alle möglichen Verpflichtungen wahrnehmen müssen. Wie hörte ich mal von einer Mutter, deren Kind einfach nicht mehr zum Reiten und Ballett wollte: "Wir haben doch schon so viel in das Kind investiert...!" Ich fand das eine so lieblose Bemerkung! Ich bin froh und glücklich, daß meine Kinder einfach "sind", mit ihren Macken und Vorlieben liebe ich die beiden Racker und sie danken es mir mit ihrer Anwesenheit jeden Tag.

DjBonsai
16.09.2005, 14:13
ARG...sowas kann einen echt auf die Palme bringen. Kinder sind Kinder. Die MÜSSEN sich dreckig machen und spielen und laut sein und qutasch machen und...und...und...
Solche Eltern kann ich echt nicht ab. Die wissen garnicht, was die ihrem Kind durch sowas antun, wenn sie ihr Kind nicht Kind sein lassen. Was da an Zeit, Spaß und Erfahrungen für das Kind verloren gehen, ist unbeschreiblich.

Lieber arm und glücklich, als so leben zu müssen :-meinung

funkytyreese
16.09.2005, 18:13
Hallo,

seh ich auch so wie ihr, sonst hätt ich das Ganze ja nicht niedergeschrieben.
Schlimm ist halt, dass die Kleine mit soviel Begeisterung für das Leben, mit LebensFREUDE, mit soviel Faszination für ihre Umwelt ausgestattet ist und diese auch zeigt, aber dann jedesmal den verbalen Faustschlag ihrer Mutter kassiert.
Mit der hab ich mich mal fürchterlich angelegt, aber das hat nichts gebracht (Natürlich nicht, wer fähig ist, sein eigenes Kind dermaßen zu maltraitieren, der wird schon gar nicht auf eine Außenstehende wie mich hören).
Es tut so weh, wenn man jedes Mal das Leuchten in ihren Augen erlöschen sehen muss. Naja, nächste Woche kommt sie ohne Frau Mutter zum Birnenplücken vorbei
;-)

DjBonsai
17.09.2005, 11:15
Ich finde es schon schwer sowas zu sehen...gerade bei Kindern...aber auch bei kranken Menschen...irgendwann muss man halt einsehen, dass man (so unangenehm es auch sein mag) nicht jeden retten kann. Manchmal kann man ihnen leider nur helfen und ihnen versuchen ein paar schöne Momente zu geben :-nix

Kackbratze
17.09.2005, 12:54
Jaja, einen Hundeführerschein braucht man, aber Eltern werden kann jeder....