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funkytyreese
19.09.2005, 23:42
Warnung: Wäre dieser Text eine CD, stände etwas von Parental Advisory und Explicit Content drauf.




Seiltänzer
für M.


Ob er sie vermissen würde? Wahrscheinlich nicht, jedenfalls hatte er ihr das zu verstehen gegeben.

Sie dachte an den gestrigen Tag zurück, der sich schon kurz nach dem Aufstehen merkwürdig angefühlt hatte. Beim Frühstücken in ihrer Singleküche, die nichts vorzuweisen hatte als einen alten, verkalkten Wasserkocher sowie eine Elektroherdplatte, mit der man nur noch mit halber Hitze kochen konnte und um die herum sich schwarze Krusten von festgebrannter Milch und übergekochter Tomatensuppe befanden, warf sie nicht nur die Kaffeedose um, so dass ein braunes Sprenkelmuster plötzlich Anrichte und Boden zierten, sondern ließ dann auch noch ihre Tasse fallen.

Resigniert hatte sie den Dreck Dreck sein lassen und war zur Arbeit gefahren. Da war dann alles soweit glattgegangen, außer dass sie 200 Kopien vom falschen Dokument gemacht und den Inhalt zweier Akten komplett durch den Schredder gejagt hatte, die der Chef zehn Minuten später doch noch gebraucht hatte und – ach naja, das war eigentlich halb so wild, dass sie dem Geschäftspartner Kaffee über seine Unterlagen gekippt hatte. Dass Männer auch immer gleich ein Drama aus allem machen mussten...
Kurz vor Feierabend, also kurz vor Sieben, sie hatte ihre Sachen schon zusammengepackt, war dann das Evangelium, die frohe Botschaft, ertönt: Ihr Chef war mit wallendem, blond-glänzendem Haar, zwei gülden schimmernden Flügeln und einem blauen Gewand aus Samt und Seide auf sie zugeflogen gekommen und hatte mit holder, süßer Stimme getönt „Liebe Abteilung C, ihr dürft heute Überstunden machen!“ Sie hatte gespürt, wie ihre Faust sich immer fester zusammengeballt und ihre Fingernägel sich in ihre Handinnenflächen gebohrt hatten. „Ruhig bleiben“, hatte sie sich gesagt, „Zweites Buch Mose, Kapitel 20, Vers 13: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht – Wenn ich ihn jetzt ganz aus Versehen über den Haufen renne, ist das auch Töten?“

Letztendlich hatte sie klein bei gegeben und es tatsächlich geschafft, bis einundzwanzig Uhr fünf in dem kleinen, stickigen Büro auszuharren, aus dem man nicht einmal herausschauen konnte, weil Hilde, ihre 20 Jahre ältere Kollegin sämtliche Fenster mit Window-Color Figuren beklebt hatte. Sie fragte sich ab und an, wie lange sie es wohl noch aushalten würde, täglich in Mickey Mouses grinsende Fratze zu blicken.

Um einundzwanzig Uhr fünf also war sie aus dem Büro gestürmt, fast noch über ein Kabel gefallen, hatte sich auf das formschöne City-Bike ihrer Mutter geschwungen, jenes mit dem extra tiefen Einstieg und der doppelten Sattelfederung, und war dann in Windeseile nach Hause geradelt. Dort hatte alles schnell gehen müssen, denn Matthias legendäre „Grill’n’Chill Party“ hatte schon längst begonnen. Sie war unter die Dusche gesprungen, hatte zunächst vergessen, den Badevorhang (Quietscheentchen-Motiv, fünfzehn Euro fünfundneunzig bei Karstadt) zuzuziehen -Mist, alles nass, bloß gleich nicht ausrutschen- und dann einen neuen Rekord im Slalom-Rasieren aufgestellt. Verdammte Mückenstiche, wenn man da drüber rasierte, hatte man hinterher immer Blutspuren auf dem Schienbein. Und beim nächsten Mal wieder, bis irgendwann eine hässliche Narbe das Schienbein zierte.
Als nächstes hatte sie eine Viertelstunde vor dem Kleiderschrank gestanden und die Jeans mit dem roten Top, dann die Jeans mit dem schwarzen Top, dann die Jeans mit dem weißen T-Shirt, dann den Rock mit dem schwarzen Top und dann den Rock mit dem weißen T-Shirt kombiniert. Dieses Procedere musste sein, egal, wie sehr die Zeit drängte. Schließlich hatte sie das braune Trägerkleid angezogen und war mit dieser Wahl einigermaßen zufrieden gewesen. Nachdem sie ihre Haare hochgesteckt und sich geschminkt hatte, den Lippenstift wieder weggewischt und schließlich doch wieder aufgemalt hatte, packte sie ihre Tasche und ließ die Haustür mit einem lauten Knall hinter sich zufallen.
Ein Blick auf ihr Handy (sie besaß ein Jamba- Sparabo und konnte sich seit gestern über einen Elch auf ihrem Display freuen) hatte ihr verraten, dass sie mal wieder viel zu spät dran war.

Auf der Party waren bereits alle besoffen oder stoned gewesen, mit Ausnahme von Tina, die zum vierten Mal in diesem Jahr eine Grippe hatte, weder trank noch rauchte und wie ein Häuflein Elend auf der Terrasse saß. Tina erinnerte an die hypochondrische Georgette in „Die fabelhafte Welt der Amelie“, anstrengend, also war sie schnell weitergegangen zu Jens, Caro, Matthias und Raffael. „Hi, wie geht’s Euch?“, hatte sie gefragt und als Antwort von Matthias ein Bier in die Hand gedrückt bekommen.
Das war der Anfang vom Ende gewesen, Apoptose, programmierter Zelltod. Vor lauter Stress hatte sie tagsüber völlig vergessen, das obligatorische Mehrkornbrötchen mit Käse und extra viel Tomate zu sich zu nehmen und so nun am eigenen Leibe erfahren dürfen, wie wohlig sich Alkohol in einem leeren Magen ausbreitet. Null komma sechs sechs Liter später hatte sie dann mit den anderen rumgeblödelt, nicht mehr nachvollziehen können, warum man plötzlich über dressierte Hamster sprach –nun, die waren ihr eh egal, sie hatte diese Nager schon immer gehasst- und gespürt, wie ihr Gleichgewicht sie zu einer Karussellfahrt einlud. Caro und Jens hatten sich ein wenig zurückgezogen, da Caro lieber mit Jens allein reden wollte, was diesem wiederum gar nicht passte.

Die beiden gaben ein sehr ungleiches Paar ab: Sie 21, nymphomanisch veranlagt, meist in sehr überraschender Farbzusammenstellung gekleidet (heute: pinke Hose mit apfelgrünen Sandalen, die Fußnägel hellblau lackiert, dazu eine dunkelblaue Bluse mit Rüschen), ernst, mit unglaublich liebem, mitunter aber doch hinterhältigem Wesen; Er 38, Kellner, Freund von CzweiHfünfOH und THC, Spaßvogel, selten ernst, gesellig, promisk, oft in verloddertem Outfit anzutreffen.

Nachdem die Zwei sich eine dreiviertel Stunde mit trauter Zweisamkeit gelangweilt hatten, verließen sie die Party in Richtung trautes Heim, sie überglücklich, er totdraurig.
Plötzlich war sie von Raffael angesprochen worden: „He, Jule, setz Dich doch mal hier rüber!“ Also war sie aufgestanden, schnurstracks und ohne zu wanken, zu Raffael hinübergegangen und hatte sich neben ihn plumpsen lassen.
„Na, wie sieht’s aus bei Dir? Musstest Du heute wieder länger arbeiten?“
„Ja, ich bin auch total K.O., aber sonst geht’s mir ganz gut. Viel ist ja nicht los hier.“
„Nee, sind ja auch schon alle total dicht.“
„Schade, dass Du bald nach Frankfurt ziehst. Ich werde Dich vermissen. Die Abende auf dem Berg.“

Raffael war einer ihrer besten Freunde. Es gab nichts, worüber sie nicht miteinander reden konnten. Im letzten Sommer waren sie immer auf den Berg geklettert, der sich zwei Orte weiter befand, und hatten die Lichter der Städte ringsum angeschaut. Vorgestern hatten sie sich mit einem Megaphon in Raffaels Fenster gesetzt und sich so mit den Leuten auf der Straße, drei Stockwerke tiefer, unterhalten. Sie fanden nicht, dass sie zu alt für solche Aktionen waren.

Sie hatte sich an die Wand gelehnt und vor Erschöpfung die Augen geschlossen. Der Tag war doch ganz schön anstrengend gewesen.
„Hey Kurze, machs gut, ich hau ab!“ Das war Sergej gewesen.
„Wie, Du gehst schon?“ hatte sie wissen wollen.
„Ja, ist doch nichts los hier.“
„OK Großer, wir sehen uns.“
Tatsächlich, so langsam hatten sich die Reihen gelichtet.
„Ich glaub ich geh auch gleich.“ Wieder Raffael.
„Willst Du mitkommen?“
Sie hatte einen Moment lang überlegt, ihren Blick über die Schlafenden und Knutschenden und Halluzinierenden schweifen lassen und war dann aufgestanden. Matthias hatte diese Szene natürlich genauestens überwacht und kam sofort, mit den Armen fuchtelnd, herbei geeilt:
„Ey Leute, ihr wollt doch nicht schon gehen? Bitte, bleibt noch ein bisschen. Hier, wir haben noch Bier und...naja wir haben noch Bier!“
Mit einem Lächeln hatte sie ihm erklärt, dass die Überstunden sie doch ziemlich geschafft hätten, müde blabla, schon Ewigkeiten nicht mehr richtig geschlafen, morgen blablabla und darum früh aufstehen blablabla. Wie kreativ sie doch immer wurde, wenn es um Ausreden ging! Zwölf Verabschiedungen, und sie hatten auf der Straße gestanden. Auf dem Heimweg, der sich hingezogen hatte wie damals in der Schule die fünf Minuten kurz vor dem Pausenklingeln, hatten sie in der Erinnerungskiste gegraben.
„Weißte noch, als wir ins Freibad eingebrochen sind?“
„Ja, dieses scheißkalte Wasser! Ich bin fast gestorben“
„Hehe, wie Tobi splitternackt vor den Bullen geflüchtet ist!“
...
„Stickeralbum.“
„Yo-Yo.“
„Tamagotchi.“
„Amiga.“
...


Als sie am See vorbeigekommen waren, hatte sich einen seltsame Stille zwischen ihnen ausgebreitet. Grillenzirpen.


„Wahnsinn, wie laut so klitzekleine Tierchen sein können!“ hatte sie gesagt, um das minutenlange Schweigen zu brechen. Raffael war stumm geblieben.
Auf einmal, nahe der Straßenlaterne, hatte sie zwei Hände an ihrer Taille gespürt. Lippen auf ihren Lippen, Hände auf ihrem Rücken, warmer Atem. Was...? Warum...?
Raffael konnte verdammt gut küssen. Sie hatte einfach mitgemacht, hatte Spaß daran gefunden, auch wenn sie nichts dabei gefühlt hatte außer Verwirrung und Überraschung.
„Können - wir zu - Dir - gehen? Bei mir - ists grad - unpraktisch“ hatte er unter Küssen gehaucht, ihr dabei in die Augen blickend. Hatte sie richtig gehört? Noch bevor sie antworten hatte können, hatte er den Weg zu ihrer Wohnung eingeschlagen, den Arm fest um sie gelegt. Was hatte er noch neulich gesagt? „Ich habe Angst, dass ich das niemals gebacken bekomme. Matthias schleppt jedes Wochenende ne Frau ab, und ich...?“

Seine Ex-Freundin hatte ihm damals mit der eiskalten Faust ins Gesicht geschlagen, indem sie ihn gleich zwei Mal betrogen hatte. Seitdem hatte er Berührungsängste. Was würde passieren, wenn sie ihn jetzt abstieß? Sie konnte die alte Wunde in seinen Augen sehen.


Irgendwann war ihr bewusst geworden, dass sie in ihrem Zimmer standen, kurz später auf ihrem Bett lagen, dass alles einfach passierte. Seine Hände auf ihrer Brust, auf ihrem Po, überall, ihre Hände auf seinem Rücken, ihr Mund an seinem Hals, sein Atem, sein Stöhnen.
„Was machst Du hier?“, hatte es in ihrem Kopf geschrillt, „Ihr seid Freunde, mehr nicht! Du kannst nicht mit einem Deiner besten Freunde ins Bett gehen. Du liebst ihn nicht, willst das gar nicht. Wie kommst Du da jetzt raus, ohne ihn zu verletzen? Wie machst Du ihm klar, dass es nicht an ihm liegt, dass Dich das hier kein bisschen antörnt?“
„Du, Raffa, ich nehm die Pille nicht.“ Gott sei Dank, nicht mal gelogen. Dass im Nachtschrank Kondome lagen, hatte sie ja nicht erwähnen müssen.


Stille. Dunkelheit. Ruhiges Atmen.


Nach vier Stunden war sie wieder wach geworden. Acht Uhr morgens. Sie hatte zur Seite geblickt. Tatsächlich, das alles war wirklich geschehen. Zentimeter für Zentimeter hatte ihre Pupille seinen Körper abgetastet. Er war überhaupt nicht ihr Typ. Nach dem, was vorgefallen war, hatte sie sich ausgesprochen unwohl neben ihm gefühlt.

Wieso hatte sie das mit sich machen lassen? Wieso hatte sie mitgemacht? Wie sollte es jetzt weitergehen? Was versprach er sich von der letzten Nacht? Hatte sie innerhalb von eineinhalb Stunden Raffael als Freund verloren? Sie brauchte frische Luft.

Schnell war sie aus dem Bett gehuscht, hatte ihren Slip aus der Kaffee-Scherben-Kaffeepulver-Lache vom gestrigen Morgen gefischt, ihn in die Wäschetonne geworfen, sich schnell das Kleid vom vorhergegangenen Abend angezogen und sich an der Tür vorbei gewunden, die sie diesmal nicht ins Schloss hatte fallen lassen.

Nachdem sie zwei Stunden durch den Park gelaufen war, immer in dem Kreis, in welchem sich auch ihre Gedanken drehten, war sie zu ihrer kleinen Wohnung zurückgekehrt. Auf dem Weg ins vierte Stockwerk hatte sie in den Briefkasten geschaut und zwei Briefe –mal wieder Mahnungen- sowie Unmengen an Werbung vorgefunden. Mit einem Seufzer hatte sie sich die Stufen hochgeschleppt, war den Flur entlang geschlichen, hatte den Schlüssel aus der Tasche geholt, diesen ins Schlüsselloch gesteckt und dann eine kleine Ewigkeit lang gezögert aus Angst vor dem, was nun passieren würde.

Warum hatte sie es noch immer nicht geschafft, Zeit und Raum zu überwinden? Zack – gestern Abend, der Engel kommt ins Büro geflattert, Überstunden. Zack – Raffael bringt sie nicht nach Hause. Zack – sie kuschelt sich in ihre Decke und schläft allein ein...

Sie hatte Anlauf genommen, war über die Türschwelle gesprungen und direkt vor Raffaels Nase gelandet. Er war wach.
„Guten Morgen. Kaffee?“, hatte sie geflüstert.
„Morgen. Nee, ich trink nur nachmittags Kaffee.“, hatte er gesagt, dabei gelächelt und seine Arme wie zu einer Umarmung ausgebreitet. Sie hatte sich neben ihn gelegt.
„Du“, hatte sie begonnen.
„Ja?“, hatte er sonor in ihr Ohr gebrummt, sich dann unerwartet über sie gebeugt und sie zart geküsst. Wieder diese wunderbar weichen Lippen. Diese warmen, braunen Augen.
„Du, ich hab Deine Zahnbürste mal benutzt. Ich hoffe das ist kein Problem.“
„Überhaupt nicht.“

Er war anscheinend wirklich verliebt. Verdammt, was sollte sie jetzt machen? Sie musste darüber reden. Jetzt. Los, raus damit. Jetzt.

„Du, was ist das jetzt zwischen uns?“
„Ja, weiß nicht.“
„Also, ich mein, Du gehst in zwei Wochen nach Frankfurt. Ich will nicht, dass ich mich jetzt so richtig in Dich verliebe und dann, wenn Du weg bist, wie ein Hund leide.“

Was hatte sie da gesagt?! Das klang ja so, als würde sie ihn lieben, vergöttern!

„Ich dachte, Du bist so richtig in mich verliebt.“
„Also, so richtig verknallt. Das wird doch stärker, das Gefühl.“

Warum erzählte sie so was? Warum lieferte sie ihm einen so falschen Eindruck von ihrem Seelenleben?

„Ja, also, wir können jetzt sagen, dass das eine einmalige Sache war, oder wir lassen es drauf ankommen und haben in den nächsten zwei Wochen Spaß miteinander.“
Am liebsten hatte sie ihm „einmalige Sache“ entgegendonnern und aufatmen wollen, aber das war ihr eine Spur zu unsensibel erschienen.
„Verdammt dumme Situation jetzt.“, sagte sie statt dessen.
„Ja.“, erwiderte er.
Nach genau fünf Minuten und fünfundzwanzig Sekunden Stille meinte er:
„Naja, ich hab schon gemerkt, dass Du dich in mich verknallt hast.“

Wie bitte?! Sie hatte nichts unternommen, nichts gesagt, nichts angedeutet. Er war doch derjenige gewesen, der dauernd anrief, der sie länger als nötig zur Begrüßung umarmte!

„Die anderen haben das auch alle geahnt. Matthias hat gesagt: ‚Hey, vögel die! Endlich kannst Du mal wieder mit einer ins Bett steigen!’“

Ganz falscher Film, oder? Das hatte er nicht wirklich gesagt?! Doch, und es kam noch besser.

„Naja, ich weiß ja nicht, wie das von Deiner Seite aus ist, aber ich hätte auch gestern einfach nach Hause gehen können und es wär nichts passiert. Aber ich wollte Sex, und wenn ich ehrlich bin will ich den immer noch.“

Wollte er jetzt nur nicht zugeben, dass er verliebt war, um den harten Kerl raushängen lassen zu können oder hatte er sie tatsächlich nur rumkriegen wollen?

„Wenn wir Sex hätten, dann würde ich Dir einen Teil von mir geben, und den würdest Du dann mit nach Frankfurt nehmen. Das will ich nicht. Für mich ist das mehr als nur ein Fick.“, hörte sie sich reden.
„Ja, ich will auch nicht mit jeder X-Beliebigen schlafen.“

Und was hieß das jetzt wieder? Dass sie ihm doch mehr bedeutete? Verdammt, hatte sie sich heute nicht schon genug im Kreis bewegt?

„Dreihundertsechzig Grad.“, sagte sie.
Er antwortete nicht.
„Naja und außerdem hab ich Angst, dass ich Dir dann irgendwann nicht mehr in die Augen schauen kann, dass wir voreinander stehen und kein Wort rausbringen können.“
„Das wird uns jetzt auch passieren“, hatte er gemeint.

Sie hatte tatsächlich die Freundschaft mit ihrer Unentschlossenheit geschlagen und getreten.


Eine halbe Stunde Schweigen. Atmen. Das Geräusch von Seiten, die umgeblättert werden. Der neue Ikea-Katalog.


„Ich muss gleich gehen.“ Seine Worte durchschnitten die Ruhe, die sich dick und zäh im Zimmer ausgebreitet hatte.
„Und wir sind noch kein Stück weiter.“, murmelte sie.
„Pass auf, entweder wir belassen es dabei und es war eine Nacht unter vielen oder wir machen uns zwei schöne Wochen und schauen dann weiter.“
„Ach, und Du meinst, das funktioniert, Du in Frankfurt, ich in Rostock?“ Sie hatte gemerkt, wie sie wütend wurde.
„Naja, wir müssten schon in den nächsten zwei Wochen eine Beziehung aufbauen, die so eng und fest ist, dass wir uns nicht gegenseitig betrügen. Und das schaffen wir nicht.“

Das tat weh. Sie hatte noch Rücksicht auf ihn genommen, hatte ihn in keiner Sekunde vor den Kopf stoßen wollen. Aber jetzt wurde ihr klar, dass sie genau das hätte tun sollen, weil sie ihm nichts zu bedeuten schien. Oder spielte er ihr nur was vor?

Leise wisperte sie:
„Rein rational gesehen hast Du Recht. Es würde nicht funktionieren.“
„Weißt Du, ich hab ja eben schon gesagt, ich bin sehr wählerisch, was Frauen angeht. Aber in Frankfurt ist einfach das Material da, wenn ich Euch Frauen jetzt mal verdingliche.“

Hatte er nicht einfach die Klappe halten können? Sie musste sich zusammenreißen.

„Gut, das war ne einmalige Sache, Du gehst jetzt nach Hause...“
„...und ich verliere kein Wort über das, was passiert ist. Wird schon genug Gerüchte geben, nachdem wir gestern Abend zusammen verschwunden sind. Ich werde mich in den nächsten Tagen erst mal nicht melden, denke ich.“

Sie war unfähig gewesen, etwas zu äußern. Seine Handlungen und Worte hatten zu widersprüchlich geklungen, als dass sie für diesen Moment hätte schlau daraus werden können. Wie betäubt hatte sie dagesessen und ihm dabei zugesehen, wie er sich anzog. Dann waren sie zusammen zur Tür gegangen und hatten sich zum Abschied kurz umarmt, innerlich vor jeder weiteren Berührung zurückschreckend. Nachdenklich hatte sie ihm nach geschaut, wie er schwerfällig über den Flur geschlurft, abgebogen und hinter der Wand verschwunden war. Sie hatte die Tür geschlossen und erneut die Scherben auf dem Boden erblickt. Als sie diese aufgehoben hatte, hatte sie sich in den Zeigefinger geschnitten. Es war ihr egal gewesen, dass sie dunkelrote Blutstropfen quer über die ursprünglich weißen, aber aufgrund ihres Alters mittlerweile vergilbten Fliesen verteilt hatte. Innerlich zu bluten war weitaus schlimmer.

War er nun in sie verliebt und hatte dies nicht zeigen wollen, als er gemerkt hatte, dass sie rein freundschaftliche Gefühle für ihn hegte? Hatte er sich durch sein Reden aus einer gefühlten Opferposition befreien wollen? „Der Ungeliebte ist immer der Einflusslose.“
Oder aber hatte er in den letzten Wochen so getan, als möge er sie besonders, um sie am gestrigen Abend, ganz geplant und willkürlich, abschleppen zu können?

Plötzlich wusste sie nicht mehr, ob sie Raffael jemals richtig gekannt hatte, ob ihm ihre Freundschaft überhaupt je etwas bedeutet hatte, ob er wirklich der ehrliche, humorvolle und vertrauenswürdige, verlässliche Mensch war, für den sie ihn bisher gehalten hatte.
Diese Ungewissheit, die ihr nun keiner mehr nehmen konnte, machte sie wahnsinnig.


Ob er sie vermissen würde? Wahrscheinlich nicht, jedenfalls hatte er ihr das zu verstehen gegeben.

Da haftet noch sein Geruch an ihr, hängt wie Nebel in ihrer Wohnung, klebt in ihrer Bettwäsche. Wo er sie berührt hat, beginnt ihre Haut zu brennen. Sie will duschen, auf der Stelle. Als sie das Bad in Richtung Dusche durchquert, fällt ihr Blick auf das Waschbecken, auf dessen Rand ihre Zahnbürste liegt.
„Du, ich hab Deine Zahnbürste mal benutzt. Ich hoffe das ist kein Problem.
Überhaupt nicht.“, hallt es in Ihrem Kopf.
Sie nimmt die Zahnbürste und schleudert sie in den kleinen weißen Mülleimer. Dass die Borsten über seinen Rand hinausragen, sieht sie nicht mehr.

Leggo1
20.09.2005, 15:26
Wenn du Bücher schreiben würdest, ich würde sie mir alle kaufen - auf der Stelle!

funkytyreese
20.09.2005, 17:11
Ui,
das ist mal ein Kompliment :-wow , Danke schön!

Hoppla-Daisy
27.09.2005, 20:07
Wieso kommen mir manche Passagen so bekannt vor?

SidVicious
17.11.2005, 10:24
HI,
sehr schöner Text. Wer sich für weitere Privat geschriebene Texte interessiert, dem empfehle ich:

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Gruß und viel SPaß
SidVicious