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Adrenalino
07.01.2006, 01:10
Hallo zusammen,

Als Warnung vorweg: jetzt wirds nachdenklich:

Heute ist wieder so ein Abend, an dem ich mich frage, was mich im Leben eigentlich so erfüllt... womit ich mich am liebsten so beschäftige.
Gut, für meinen Teil stehen Menschen doch meist im Zentrum. Aber wenn man mal niemanden um sich herum hat..?
Schnell kommt man da auf "Konsum": Filme, (Computer)Games, Buch, Musik, Essen, INTERNET(!) ... :-music :-party
Selbst mit Menschen um Dich herum: Man spielt zusammen ein Spiel, konsumiert Getränke, konsumiert diesselben Filme...Konsum Konsum Konsum
Häufig wird doch beklagt, dass unsere Gesellschaft dem Konsum verfallen ist um sich zu beschäftigen.
Ich frage mich: Wie beschäftige ich mich alleine, ohne zu konsumieren?
Was ist überhaupt eine sinnvolle Beschäftigung ohne Mitmenschen (Sport und Lernen(...) mal ausgenommen) ?
Es heißt, wir könnten uns in der heutigen Zeit nicht mehr selbst beschäftigen; bei den Kindern fängt es an. Sobald Langeweile aufkommt, muss konsumiert werden!!
Dieser Weg ist natürlich, aber wohin führt der?
Sind wir noch imstande, uns selbst zu beschäftigen ohne zu konsumieren? Wie war das früher? Also sind wir wirklich dem Konsum verfallen?
"Liebe", die konsumiert wird, die Sucht nach Zuneigung...
Hat Konsum nicht auch etwas mit Orientierungslosigkeit im Leben und Antriebsschwäche zu tun? Oder geht das schon zu weit?

Langweile vs. Konsum... ein Teufelskreis?

Bin auf Euer Meinungen gespannt; egal was kommen mag ;-)

DocScarpetta
07.01.2006, 01:22
Der Begriff Konsum (lat.: consumere = verbrauchen) bezeichnet

in der Volkswirtschaftslehre den Erwerb bzw. Verbrauch von Gütern zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse... (usw. usf.)

Konsum per se stellt also m.E. noch kein Problem dar. Ich selbst "konsumiere" auch ´ne Menge Dinge. Ich finde, vielfach wird darunter aber auch eine uneingeschränkte, passive, lähmende, abstumpfende Berieselung durch zB Fernsehen subsummiert. Gerade bei den angesprochenen Kindern und Jugendlichen, die dann eben nicht mehr alle zusammen um den Block rennen und miteinander spielen, sondern alleine oder bestenfalls in der Gruppe nebeneinander passiv aufnehmen.

Recall8
07.01.2006, 10:59
Quatsch, Konsum ist doch was anderes :-))



Mit der Vokabel Konsum verband der DDR-Bürger ein Einzelhandelsgeschäft: Im Konsum konnte man die Waren des täglichen Bedarfs kaufen: Der Konsum war überall: Auch auf dem letzten Dorf. Der Konsum war im allgemeinen Sprachgebrauch der DDR-Bürger das, was man auch nostalgisch "Tante-Emma-Laden" nennt.

Dabei bezeichnet die Vokabel Konsum gleichzeitig eine Genossenschaft: Die Genossenschaft der eingetragenen Käufer. Diese zahlten bei Eintritt in die Genossenschaft eine einmalige Gebühr (50 DDR-M ???) und erhielten bei jedem Kauf Rabattmarken. Diese Rabattmarken wurden in ein Heft geklebt und bei der örtlichen Konsum-Verkaufsstelle jährlich (?) vorgelegt. Das Konsum-Mitglied erhielt daraufhin eine Rückvergütung von (1% ???) der Kaufsumme.

Der Konsum galt in der DDR als Massenorganisation, da er über 4 Miollionen Mitglieder hatte. Die Genossenschaft war in ihrem ursprünglichen Sinn eine Einzelhandels-Genossenschaft, die ihren Mitgliedern Rabbate für Einkäufe über ein Rabattmarkensystem einräumte. In dieser Funktion besaß die Genossenschaft auch diverse Herstellungs- und Verarbeitungsbetriebe, insbesondere für Lebensmittel

GOMER
07.01.2006, 13:43
Ich konsumiere oft und gerne, naja, seitdem ich nicht mehr arbeite deutlich weniger, wie auch immer.


Wenn Du nicht konsumieren willst und Lernen/Sport ausnimmst bleiben Dir noch gestalterische Tätigkeiten, wobei die auch schnell in Konsum abdriften können, kommt darauf an auf welche Art und Weise und mit welchen Mitteln Du gestaltest.

Ansonsten kann ich als Beispiele vorschlagen:
-Lesen
-Schreiben
-Malen/Zeichnen
-Gärtnern
-Kochen
-Schlafen
-Bauen (keine Tüten, ich mein z.B. Möbel)
-Onanieren
-Laubsägearbeiten

ehec
07.01.2006, 13:49
konsum rockt!

ich geh mir jetzt bonbons kaufen.




ehec.

DocScarpetta
07.01.2006, 22:07
Quatsch, Konsum ist doch was anderes :-))


Bitte auch die "Konsum-Marken" zum ins-Heft-kleben-und-sammeln nicht vergessen! :-)) :-))

DocScarpetta
08.01.2006, 02:49
Wenn Du nicht konsumieren willst und Lernen/Sport ausnimmst bleiben Dir noch gestalterische Tätigkeiten, wobei die auch schnell in Konsum abdriften können, kommt darauf an auf welche Art und Weise und mit welchen Mitteln Du gestaltest.

Ansonsten kann ich als Beispiele vorschlagen:
-

In der Betrachtung des Themas ist i.m.h.o. zu unterscheiden, ob es sich um primären Konsum zum Zwecke desselben oder um Konsum von irgendetwas zur Freizeitgestaltung oder Beschäftigung handelt.
In diesem Fall wären die Bedenken von Adrenalino erfüllt, dass man sich nicht mehr selbst beschäftigen könne, von mir aus auch mit (QUOTE Gomer "Onan****n"), sondern lieber etwas "verbraucht".

Neely
08.01.2006, 10:50
Warum nicht sagen, dass man ja auch ununterbrochen Sauerstoff konsumiert? :-))

Es gibt wohl keine feste Grenze von "konsumieren" und "nichtkonsumieren", es ist alles eine Frage der Grade. Wenn du Sport machst, hast du ja vorher auch die Sportschuhe "konsumiert" oder wenn du zeichnest, konsumierst du Papier und Zeichengeräte, auch wenn man es nur aufs rudimentärste reduziert. Selbst wenn du nur einen Granitblock aus der Natur holst ist das letztlich Konsum.

Versteh mich nicht falsch, ich bin strikt gegen diese "Berieselung" und Überfluss, aber man kann nicht "lautlos" existieren. Nach dem zweiten Satz der Thermodynamik steigt die Gesamt-Entropie des Universums im Laufe der Zeit. Dadurch dass du existierst erhöhst du die Entropie, verwandelst also geordnete Energie in ungeordnete, und das durch Austausch mit deiner Umwelt, also unweigerlich Konsum. Konsum als Entropiesteigerung ist also die eine Definition.

Du kannst aber auch einen Kompromiss finden und sagen, dass du möglichst "unverarbeitete" Dinge und möglichst wenig (in Zahl und Menge) konsumierst. Inwiefern das aber einen Sinn macht und was sich in unserer globalisierten Welt überhaupt noch als "Rohstoff" qualifiziert ist auch nicht klar bestimmbar, zumindest nicht in jedem Grenzfall. Das macht vielleicht auch keinen Sinn, da es dem Sinne der Arbeitsteilung zuwider liefe.

Ich verstehe dich aber, sagen wir auf einer intuitiven Ebene, dass man denkt, irgendetwas liefe falsch an dieser Weltordnung. Vielleicht sollte man versuchen möglichst jede Tätigkeit und jeden Moment "zielgerichtet" zu verbringen, sprich ich arbeite ode lerne für irgendetwas, sei es nun andere oder das Studium. Man mag einwenden, dass das eine sehr altruistische Lösung ist, aber meiner Meinung nach gründet diese "Konsumwelt" auf Egoismus, dem alten Prinzip des Wirtschaftsliberalismus, nach dem jeder nur seinen eigenen Wohlstand erhöhen muss, um dem Gesamtsystem zu nutzen. Dies ist utilitaristischer Egoismus, den man zum Objektivismus erhebt.

Natürlich gibt es auch einen Egoismus weit jenseits der Dekadenz, das wäre dann der Übermensch, Dekadenz ist zunächst nur der Ausweg um alte Werte zu zerstören und neue zu bauen, oder zumindest die "Brücke" dafür zu sein (ich liebe Nietzsche). Und letztlich waren es auch die subjektivistischen Existentialisten, die zu den Grundlagen des modernen Humanismus beitrugen. Subjektivismus ist also nicht gleich Egoismus.

Praktisch gesehen sollte man also möglichst alle Werte und Ziele der modernen Gesellschaft boykottieren, vor allem die, die materialistisch ausgelegt sind. Alle Mittel sollten für ein Ziel verwendet werden, nicht diffusen Konsum, der wirklich eine Art "Opium des Volkes" geworden ist. Wir sollten uns ein anderes Opium zulegen, eines, das anders ist als alles bisherige, aber es auf keinen Fall abschaffen (also nichts mit Marxismus).

Wenn wir unsere Gesellschaft so verändert haben, brauchen wir uns auch Fragen wie die obige nicht mehr stellen. Dann gibt es kein Gesamtübel (das meintest du doch mit Konsum?) mehr, an dem wir ständig teilhaben. Letztlich ist es denke ich die Freiheit, die man meint mit Konsum zu verlieren, ich denke es geht niemandem generell um dieses Phänomen an sich.

Ich würde die Frage auch nun umformulieren zu: Verlieren wir durch diese Allgegenwärtigkeit dieses Konsumzwangs unsere Freiheit?

Das kann man, indem man sich einen "Plan" erstellt was genau man denn nun im Leben erreichen will und was die Nachwelt von einem mitbekommen soll, welches "Vermächtnis" man setzen will, das überdauert (jegliche Materie, sprich Konsumgut, ist letztlich vergänglich), nicht mit dem eigenen Namen verbunden in den meisten Fällen, aber doch als überdauernder Nachhall. Wenn man das für sich ausgemacht hat, dann ist man frei. In den meisten Fällen wird man nur, um seine Ziele zu erreichen, seine materielle Fixierung aufgeben müssen, da man es sonst nicht schaffen könnte...

Zugegebenermaßen etwas philosophisch, aber anders konnte ich das Problem nicht angehen, da es einfach zu tief sitzt...es ist wirklich ein enormes Problem.

surfsmurf
08.01.2006, 12:51
Ich finde, vielfach wird darunter aber auch eine uneingeschränkte, passive, lähmende, abstumpfende Berieselung durch zB Fernsehen subsummiert. Genau. Es geht m.E. beim Konsum weniger um das tatsächliche "Konsumierte", sondern um die Intention, die dahinter steckt, stimme hier also mit docscarpetta überein. "Konsum", wie ich ihn verstehe, ist immer in hohem Maße Selbstzweck: Wenn ich mir ein Auto kaufe, NUR um damit herumzufahren, ist das für mich jedenfalls nicht im selben Maße Konsum, als wenn ich mir selbiges Auto kaufe, um damit vor meinem Nachbarn anzugeben. Ob man also konsumiert oder lediglich kauft, ist also imho auch Einstellungssache.

Adrenalino
08.01.2006, 16:52
Vielen Dank für die netten Beiträge! Interessant, was ihr so zu sagen habt.

Besonders Neelys Beitrag hat mich beeindruckt! Du scheinst Dich wohl sehr gut auszukennen! Woher kommt Dein Wissen, Deine Gedanken? Selbst gelesen? Schule? Studium?
Das mit der Entropie find ich einen schönen Gedanken! :-))
Um ehrlich zu sein, habe ich selbst aber auch nicht alles verstanden... utilitaristischer Egoismus, Objektivismus, Dekadenz?
Zum Egoismus: E. ist einfach ein Prinzip des Lebens, ohne das Leben nicht möglich wäre. Ohne Egoismus kein Leben. Ich denke, gänzlich ohne würden wir nicht auskommen. Das kann man sehr wohl auch evolutionär betrachten! Die Aufgabe des Menschen besteht nun vielmehr darin, sich dem Egoismus zu stellen und das beste für sich selbst (mikrokosmos) und der Welt (Makrokosmos) zu machen. DAS leider hat bisher nicht so gut geklappt... So viel zum Egoismus..
Ist ein solcher Mensch, der mit dem "Egoismus" umzugehen weiß, nach Nietzsche also der Übermensch? Habe ich Dich richtig verstanden? Was hat das dann aber mit Subjektivismus zu tun..?
Was meintest Du am Ende mit dem "Plan", die Freiheit zu erlangen?

Ich denke, alles in allem hast Du mich sehr gut verstanden, worauf ich mit meinem Artikel hinausmöchte! :-)
Letzendendes könnte man schon sagen, dass ich auf Deinen Begriff "Gesamtübel" hinausmöchte. Auf die Frage nach der eigenen Freiheit. Tja, schwierig.

Gestern habe ich hierzu ein Buch(/Bücher..) gefunden, was ich mir ev. kaufen werde:
Erich Fromm - Die Furcht vor der Freiheit
Erich Fromm - Haben oder Sein
Erich Fromm - Wege aus einer kranken Gesellschaft
Hm; sich damit ernsthaft zu beschäftigen wäre wirklich eine große Aufgabe. (Geht ja schließlich schon langsam ziemlich in die Tiefe..) Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich das so machen werde, bin schließlich kein Phil.Student (auch wenn es oft sehr reizvoll erscheint) und möchte schon lieber bei der Medizin bleiben. Dennoch interessant sich damit mal ein wenig auseinanderzusetzen!
Hat dennoch jemand die Bücher gelesen?
(Gibt ja auch nicht nur vom gudn Erich was zu lesen... *g*)

Tse Tse
08.01.2006, 18:46
Neely, ich stimm dir in den meisten Teilen zu.

Praktisch gesehen sollte man also möglichst alle Werte und Ziele der modernen Gesellschaft boykottieren, vor allem die, die materialistisch ausgelegt sind. Alle Mittel sollten für ein Ziel verwendet werden, nicht diffusen Konsum, der wirklich eine Art "Opium des Volkes" geworden ist. Wir sollten uns ein anderes Opium zulegen, eines, das anders ist als alles bisherige, aber es auf keinen Fall abschaffen (also nichts mit Marxismus).

Naja, alles ist nicht schlecht.

Die Frage ist ob das gelingen kann. Ich denke, wir können die "Werte und Ziele" wie du sagst bzw. unsere Lebensweise nicht losgelöst von den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen betrachten, sprich der Produktionsweise.

Wenn ich (zunehmend) den Großteil des Tages damit verbringe für meinen Lebensunterhalt arbeiten zu gehen und ein anderer Teil des Tages darin besteht mich zu regenerieren in Form von Nichtstun und leichter Berieselung (dies ist kein moralisch erhobener Zeigefinger – ich mach es oft nicht anders, wie sollte ich auch!?), dann bleibt kein Raum mich um die Verbesserung meiner geistigen (Studenten mal ausgenommen oder die sich sonst in irgendeiner Weise bilden), musischen, gesellschaftlichen etc. Fähigkeiten zu kümmern. Der Fortschritt sollte doch gerade darin bestehen uns von der Arbeit zu befreien, uns mehr Freizeit zu geben, um auch auf anderen Gebieten tätig werden zu können, die uns vorher nicht möglich waren. Aber die Errungenschaften des 8-Stundentages scheinen ja gerade wieder rückgängig gemacht zu werden.

Man könnte vermuten, jeder von uns hat eine andere Lebensweise mit allem drum und dran was dazugehört, der eine trägt seine Schnürsenkel offen und der andere eben geschlossen. Aber dem ist wohl nicht so.
Die Lebensweise hängt in entscheidendem Maße davon ab, was und vielmehr wie wir (unser Leben) produzieren.
Was sollten denn unsere höheren Ideale sein – ein Streben nach eigener Vollkommenheit, das Bestmögliche aus uns zu machen?
Aber wie soll das gelingen, wenn uns die materiellen Vorraussetzungen/die Lebensgrundlage dazu fehlen? Vom Tier unterscheidet uns, dass wir Einfluss auf die Natur nehmen, wir gestalten sie nach unseren Erfordernissen und Vorstellungen, wie den besagten Granitblock (vom Biber jetzt mal abgesehen :-) )
Die Zeit in der wir unser materielles Sein reproduzieren, haben wir durch den Fortschritt bereits erheblich verkürzen können. Die nächste Stufe in der Entwicklung muss es sein, den Werktätigen auch daran teilhaben zu lassen, nur so lässt sich Freiheit gewinnen.

Was ich damit sagen will ist, dass ich mir noch so schöne Sachen ausdenken kann, wie es im Idealfall sein sollte, aber wenn dazu die gesellschaftlichen Vorraussetzungen fehlen, kann das nicht gelingen. Natürlich kann man (kurzzeitig) jemandem Werte aufdrücken, Arbeitsfleiß, Gehorsam, Nationalstolz etc., aber das nimmt einen quasireligiösen Charakter an, der sich spätestens, wenn die Häuser in Schutt und Asche liegen, in Rauch auflöst.

surfsmurf
08.01.2006, 21:08
Was ich bei Neely nicht verstehe, ist (unter anderem) folgendes:


Praktisch gesehen sollte man also möglichst alle Werte und Ziele der modernen Gesellschaft boykottieren Wie darf man das verstehen?

Adrenalino: Erich Fromm kann ich in dem Zusammenhang sehr empfehlen, besonders Haben und Sein. Habe es zwar noch nicht im Original gelesen, sondern nur Sekundärliteratur, aber ist sehr spannend. Ansonsten habe ich immer wieder von Naomi Klein "No Logo" gehört, aber es auch noch nicht gelesen.

DocScarpetta
09.01.2006, 12:27
Was ich bei Neely nicht verstehe, ist (unter anderem) folgendes:

Wie darf man das verstehen?



Anarchie?

Tuana
09.01.2006, 12:34
Ein kleiner Bücher-Tip zu der Thematik: Haben oder Sein von Erich Fromm.
Stammt zwar nicht aus unserem Jahrzehnt, aber manche Menschen bemerken gewisse Entwicklungen sehr früh...
geniales Buch!!! :-top

DocScarpetta
09.01.2006, 12:36
Neely, ich stimm dir in den meisten Teilen zu.

Wenn ich (zunehmend) den Großteil des Tages damit verbringe für meinen Lebensunterhalt arbeiten zu gehen und ein anderer Teil des Tages darin besteht mich zu regenerieren in Form von Nichtstun und leichter Berieselung (dies ist kein moralisch erhobener Zeigefinger – ich mach es oft nicht anders, wie sollte ich auch!?), dann bleibt kein Raum mich um die Verbesserung meiner geistigen (Studenten mal ausgenommen oder die sich sonst in irgendeiner Weise bilden), musischen, gesellschaftlichen etc. Fähigkeiten zu kümmern.

Jo, geht mir doch genauso. Wofür ich jedoch plädiere, ist eine gewisse Selbstkontrolle. Wenn ich immer noch in der Lage bin, mein eigenes Verhalten einzusehen und zu steuern, kein Problem. Wer berieselt sich nach 8 bis 12h Arbeit pro Tag nicht gerne mal. :-))

Aber, wenn in der heutigen Zeit nicht mehr "Religion das Opium des Volkes" (Danke fürs Zitat) sondern Status und dessen Symbole, Konsum, mediale Hypomanie usw zur Religion erkoren werden, ist das eine fatale Entwicklung. Niemand denkt dann überhaupt noch daran, sich in irgendeiner Weise um


die Verbesserung meiner geistigen (Studenten mal ausgenommen oder die sich sonst in irgendeiner Weise bilden), musischen, gesellschaftlichen etc. Fähigkeiten

zu kümmern. Außer die, die über solche Themen diskutieren. ;-)

Neely
10.01.2006, 08:54
Ich meinte sicher keine Anarchie im klassischen Sinne, in der jeder handelt wie es ihm gefällt, da sonst ein Naturzustand nach Hobbes, ein Kampf aller gegen aller, beginnen würde und dieser Kampf die eigene Freiheit ja wieder einschränken würde.

Ich meinte mit Werten viel mehr, dass sozialer Status und "Glück" in den meisten Fällen in materiellen Dingen gesucht wird, sprich der Chefarzt, Richter oder Manager (bitte keine Diskussion über Stereotypen, das ist hier nicht der Punkt) kompensiert seine Arbeit und vielleicht durch Zeitmangel schlecht entwickelten menschlichen Beziehungen mit einem dicken und teuren Auto oder den neuesten Elektronikgeräten, die eigentlich niemand braucht. Uns wird eingeredet, hart für Produkte schuften zu müssen, die wir nicht brauchen und nicht wollen, in Jobs die wir eben auch nicht in der Form wollen (8 Stunden Tag). Man mag einwenden dass das teilweise andere Ursachen hat, die sich aber alle wieder auf kapitalistische Überlegungen zurückführen lassen, sei es nun die des Staates, der Politik oder des Individuums. Teilhaben können ja dank Globalisierung und billiger Produktschwemme auf Fernost fast alle, nur zu welchem Preis. Hier herrscht Arbeitslosigkeit, weil jeder lieber importierten Wohlstand gegen exportierte Arbeit tauscht. Aber der innige Wunsch teilzuhaben ist ja wieder nur Symptom der Krankheit Konsumabhängigkeit.

Mit Gesamtübel war eben dieser Aufbau der Gesellschaft auf materiellen Werten gemeint, oder besser gesagt materialistischen (Marx wollte ja auch eine auf materiellen, sprich nicht "jenseitigen" Werten basierende Gesellschaft, die aber zumindest noch das Gemeinschaftsgefühl als "Ersatzreligion" anbieten konnte). Sie scheint teilweise einfach nur so falsch konstruiert und als ob sie sich in eine noch schiefere Richtung entwickelt hätte. Wenn man sich ansieht was alles auf der Welt passiert, so stellt sich doch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Ganzen (wenn beispielsweise mit Mitteln, mit denen man tausende Kinder vor dem Tod durch einfache Krankheit schützen könnte, eine neunzigjährige im Wachkoma an Maschinen hängt). Dies soll nicht gegen einzelne Personengruppen gerichtet sein, sondern nur als Beispiel für die teilweise Verkommenheit dienen. Wir leben in einer Art Vakuum oder Insel der Glückseligen, mit dem dummen Gefühl im Hinterkopf dass das nicht für alle so gehen kann und auch nicht für ewig.

Das gleitet aber fast schon wieder zu weit vom Thema ab, obwohl hier die Grenzen sehr fließend sind.

Jedenfalls glaubt man im Buddhismus, dass der Sinn im Leben ist, sich von allem, was man im Leben geliebt hat, sich lösen zu können. Das Leben ist an sich Leid und das Verhaftetsein an bestimmte Dinge, sei es nun Menschen oder Besitztümer, vergrößert dieses Leid nur. Dies ist samsara, eine Art "Teufelskreis" des Lebens. Daraus ausbrechen bedeutet Erleuchtung, aber es gibt auch Individuen, die ihre individuelle Gestalt, ihr Dasein, bereits überwunden haben, aber zurückkommen, um anderen zur Erleuchtung zu helfen. Ich glaube dass diese extreme Betonung auf anderen helfen und Mitleid darauf beruht, dass diese es letztlich sind, die das "Vermächtnis" weitertragen. Besitz ist letztlich namenlos, sobald man tot ist, aber in den Gedanken der Menschen lebt man weiter und indem man einen Teil seiner Persönlichkeit und Mühen in sie "ausgelagert" hat, verliert der Tod seinen Schrecken. Klebt man nur am Besitz, so wird man für diese Welt, vielleicht auch alle anderen, ausgelöscht. Vielleicht ist das der Grund, warum man Angst hat, sich an Besitz zu verlieren. Das ist aber kein so neues Problem, dieses besteht bereits seit es Menschen und Besitz gibt. Sobald man jedoch für sich einen immateriellen Lebenssinn gefunden hat und die Gesellschaft zielgerichtet funktioniert, also für Fortschritt und Gerechtigkeit zwischen Menschen und Nationen(nicht jeder kann sich selbst einen Sinn stiften, vielen wäre es hilfreich diesen direkt zugewiesen zu bekommen), hat man nicht mehr das Gefühl an einer "Krankheit" teilzuhaben, wenn man sich gehenlässt, dann stellt sich diese Frage eben wirklich nicht mehr.

Mit Nietzsche meinte ich, dass man diese derzeitigen Werte nur dann überwinden kann, wenn man sie in ihren Grundfesten zerstört, sprich neue Werte schafft. Diese können weiterhin auf den abstrakten Idealen, die gerne als überzeitlich bezeichnet werden, geprägt sein, nur nicht von "Opium des Volkes", egal in welcher Form, sondern Verantwortung und Vernunft. Aber um so weit zu kommen, muss man erst einmal diese über Bord werfen, um neu anfangen zu können. Seine Vision war das "Gesamtkunstwerk Menschheit", dass diese eine Form annimmt, und das bezeichnete er als Übermensch. Um so weit zu kommen braucht es aber jetzt schon außergewöhnliche Menschen, die als "Brücke" dazu dienen sollten, indem sie erst einmal von den jetzigen Werten dekadenterweise abfallen. Und im Moment ist dies ja wohl eindeutig auch Fixiertheit auf Autos, Uhren und elektronisches "Spielzeug".




Wie ich darauf komme? Philosophie ist ein riesiger Interessengebiet, ich liebe eben auch "Konsum" von Büchern, virtueller Information, Word und Papier und Kugelschreiber ;-) wahrhaft verhaftet wird man dem ganzen auch durch krankhafte Abstinenz, da man, indem man immer krankhaft versucht, es immer und überall zu vermeiden sein Leben davon auch bestimmt sein lässt, nur in negativer Art und Weise. Vielleicht solltest du (Adrenalino) dich jetzt einfach nur mal wieder ein bisschen entspannt durchs Internet klicken um den Kopf frei zu kriegen ;-) mach ich auch extrem gerne

surfsmurf
10.01.2006, 13:25
Ok, Neely, dann haben wir uns nur falsch verstanden.


Praktisch gesehen sollte man also möglichst alle Werte und Ziele der modernen Gesellschaft boykottieren

Ich hatte dich so verstanden, dass du generell Werte und Ziele abschaffungswert findest, während du wahrscheinlich eher die heutigen Ziele und Werte der Gesellschaft kritisieren wolltest. D'accord? Auf ne Anarchiediskussion hatte ich nämlich auch überhaupt keine Lust. ;-)

Dass die heutigen kapitalistischen Werte zu unguten Auswüchsen geführt haben, darin sind wir uns einig, denke ich. Zu klären bleibt dann allerdings noch, wie denn die "neuen Werte" auszusehen hätten; darauf gibt Nietzsche meines Wissens auch keine Antwort. (Sonst müsste ich nochmal nachlesen :-lesen )

Fragen sollte man sich aber auch, warum sich denn ausgerechnet der Kapitalismus gegen so viele andere Ideologien durchgesetzt hat (vorausgesetzt, man betrachtet den Kapitalismus als Ideologie im engeren Sinne). Und wenn man sich diese Frage stellt, dann landet man ganz schnell beim Menschenbild bzw. bei den eigentlichen und ursprünglichen Motiven von Menschen. Ich glaube, dass Menschen generell kein Interesse an Gleichheit haben. Marion Gräfin Döhnhoff hat ja schon ganz richtig geschrieben, dass sich Freiheit und Gleichheit ausschließen und sich Menschen - vor dieses Dilemma gestellt - in meinen Augen immer für die Freiheit entscheiden werden. Und der Kapitalismus ist nunmal ein System, das genau hierauf seinen Schwerpunkt setzt: Freiheit und damit verbunden dann leider auch Ungleichheit.

Tse Tse
10.01.2006, 16:54
Fragen sollte man sich aber auch, warum sich denn ausgerechnet der Kapitalismus gegen so viele andere Ideologien durchgesetzt hat...
Durchgesetzt ist gut. Es war wohl eher eine geschichtliche Entwicklung die dahin führen musste. Das ist erstmal nichts verwerfliches, sondern hat einen ungeheuren Fortschritt für die Menschheit gebracht, aber auch Leid.

Ich glaub Geschichtswissenschaftler nennen die Zeit in der wir heute leben die Neuzeit (od. neuere, neueste Neuzeit), die hat schon 14-hundert-noch-so-was angefangen. Davor gab's das Mittelalter.
Aber was haben wir gemeinsam mit den Leuten die im ausgehenden 15. Jahrhundert gelebt haben? Warum sollen die auch in der selben Epoche wie wir, der (frühen) Neuzeit leben und was unterscheidet diese vom Mittelalter?

Ein wichtiger Punkt ist, dass die im Mittelalter in Feudalgesellschaften lebenden Menschen, mit ihren eigenen Werkzeugen fremden Grund und Boden bearbeitet haben. Die Werkzeuge haben ihnen gehört, die Erträge/Produkte auch, der Boden in der Regel nicht und so haben sie (nur) einen Teil ihrer Ware abgegeben.
Im Handwerk war das ähnlich. Die erzeugten Produkte waren im Besitz der einzelnen Leute, die sie schließlich auch hergestellt hatten. Hätte man den Leuten von damals erzählt, dass wäre unrecht, hätten sie es nicht verstanden, weil es zu diesem Zeitpunkt nicht zu verstehen war.
Sie haben die Produkte hergestellt, also gehörten sie auch ihnen allein.

Dann im Übergang zur Neuzeit, mit Aufkommen von Manufakturen/Fabriken und dem technischem Fortschritt kam es zu erheblichen Produktionssteigerungen. Die feudalen Gesellschaften mit ihrer unterlegenen Produktionsweise waren im Niedergang begriffen, denn gegen die gemeinschaftlich effektiver hergestellten, günstigeren Produkte konnten sie nicht mehr mithalten. Damals gab es wohl auch Geburtswehen und hat sich nicht gleichmäßig in ganz Europa vollzogen. So gab es bestimmt noch einige Ecken in Europa, die nach alter Weise herstellten, aber das war nur noch eine Frage der Zeit.

Die nun auf neue Art und Weise fabrizierten Produkte wurden nicht mehr wie zuvor von einem Einzelnen hergestellt, sondern sie mussten durch die Hände vieler Arbeiter gehen. Diese Produkte können nun nicht mehr dem Einzelnen zugeordnet werden, es war jetzt ein gesellschaftliches Produkt entstanden. Das was aber bis heute nicht aufgelöst wurde ist, dass dieses gesellschaftliche Produkt nicht der Allgemeinheit oder den Produzenten gehört, sondern dem Eigentümer der Fabrik. Ein Witz.

Wenn z.B. ein DVD-Spieler hergestellt wird, so gibt es jemanden der sich die Technik ausdenkt, ein anderer stellt die einzelnen Bauteile her, der nächste schraubt alles zusammen usw. usf.
Am Tag macht er hunderte dieser Geräte. Die Arbeit von, in diesem Fall 3 Leuten, geht in hunderte dieser Geräte ein. Wie war das aber mit der Summe seiner Teile? In der Summe ist jetzt ein Produkt entstanden, welches einen höheren Wert besitzt. Dieser Wert der hundert DVD-Player wird aber nicht den hier drei Arbeitern gehören, sondern dem, der sie eingestellt hat und ihnen die Arbeitszeit entlohnt (die ja nicht mit dem Wert des Produktes gleich ist).

Die Forderungen die sich hieraus entwickeln hat nichts mit Demokratie abschaffen oder Unrechtsstaaten errichten od. jemanden seinen Kühlschrank wegzunehmen zu tun.

Die Probleme, die sich aber aus dieser Produktionsweise ergeben, u.a. dass die öffentlichen/gesellschaftlichen Kassen leer sind, können m.E. nicht durch ein daran herumdoktern gelöst werden.
So kam neulich erst der Gedanke auf, ich mein' der Bundespräsident (?) hätt's in die Runde gebracht, dass die Angestellten am Gewinn der Unternehmen beteiligt werden sollten oder um ein anderes Bsp. aus einem anderen Gebiet zu nennen: in Frankreich soll ein Gesetz eingebracht werden, dass die Textilhersteller dazu verpflichten soll, pro fabriziertem Kleidungsstück 1 Cent in eine Kasse einzubezahlen. Mit den Einnahmen sollen dann Secondhandgeschäfte für Bedürftige (in Frankreich) finanziert werden. Aber das ändert ja nichts am Kern der Sache, dem ungelösten Problem der Besitzverhältnisse.

Jetzt hör ich mal auf, nachher steht noch 'banned' unter meinem Namen… :-((
Oder schlimmer 'Langweiler' :-D

Doktor_No
10.01.2006, 17:18
oder "der hat "das kapital" aber wirklich gelesen!!!" :-D

Tse Tse
10.01.2006, 17:44
Na, das ist mir viel zu dick und langweilig. Mir langen schon die sogenannten Chirurgie Kurzlehrbücher, die trotzdem 1000 Seiten haben :-((

Nein, ich möchte hier ja nicht als der ewig Gestrige oder so was da stehen.
Nur um dann elendig ausgegrenzt zu werden *schnief* :-keks
Aber interessant find ich die Themen schon.
Ausserdem hab ich keinen Kopf aus Beton und lass mit mir über andere Möglichkeiten reden. Ich denke auch, dass nicht mehr jede Vorstellung aus marxschen Zeiten einfach so kritiklos nachgebetet werden kann, als wenn's die Bibel wär und auch gar nicht geht, weil wir vor neuen Herausforderungen/Problemen stehen (naja ich weniger, aber die Politik)

Nö, wir schreiben 2006, vieles hat sich bestimmt verändert und alles auf der Welt ist nicht schlecht.