PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Machtlosigkeit und Verzweiflung/Schwere Entscheidungen



Tombow
18.07.2007, 14:31
Eins vorweg - wer mich kennt, weiß, daß ich keiner von denen bin, der Wert auf heilen um jeden Preis legt und pauschal die Gefahr in Kauf nimmt, einen Patienten kaputtzubehandeln. Zu gut weiß ich, daß manchmal weniger mehr ist und wie machtlos manchmal man als Arzt sein kann. Doch manchmal kommt in dem ganzen Dschungel aus Symptomatik, Krankheitsbild, mögliche Behandlung, Befunden, Indikationen und Kontraindikationen zu Fällen, wo einem die Entscheidung gegen eine mögliche Therapie und das Akzeptieren dessen sehr schwerfällt. Wie letzte Nacht im Dienst...

Gerade bin ich mit einem Patienten beschäftigt, meldet sich die Kommunikationszentrale: "RTW im Anfahrt, vom Notarzt als frischer Apoplex angekündigt". Kurz den anderen Patienten (Kopfschmerzen am ehesten supratentorieller Genese ohne organisches Korrelat) nach hinten auf die Prioritätenliste geschoben, schon ist die angekündigte Patientin da. Mitte 70, bisher komplette Selbstversorgerin gewesen, vor ca. 30 minuten Sturz bei plötzlich aufgetretener kompletter linksseitigen Hemiplegie, kein Krampfereignis, kein Bewußtseinsverlust. Vorerkrankungen: Intermittierende AA bei VHF, Hypertonus, hypertensive Herzerkrankung mit Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz, Diabetes....wegen Vorhofflimmern marcumarisiert, doch laut Notarzt vor kurzen Marcumar abgesetzt worden wegen eines kleineren Eingriffs. Labor sofort eingeschickt, kurz untersucht (mehr als eine richtig deftige linksseitige Hemiplegie objektivieren und Patientin orientierend-internistisch abchecken war da nicht), vorher sofort Radiologen angerufen, damit CT schnell läuft (potentielle Lysekandidatin!), Labor angerufen, daß wir alles möglichst gestern brauchen...schon wurde die Patientin zum CT abgeholt. In der gleichen Zeit Lyse-Checkliste herausgekramt und nach und nach Indikationen und Kontraindikationen abgehakt. In der Zwischenzeit CT fertig - richtig dickes Dense-Media-Sign rechts, keine Einblutungen. Labor war noch nicht da, seit Aufnahme 20 Minuten verstrichen. Oberärztin im Hintergrund angerufen und Patientin als Lysekandidatin angekündigt, danach sofort mit der Patientin auf Intensiv gekarrt, verkabelt und alles. Labor kam nach und nach. Thrombos normal, Blutdruck und Glucose normal...immer weniger Punkte zum Abhaken auf der Lyse-Checkliste. Meine Oberärztin kam inzwischen an, hat kurz die Patientin nachuntersucht, zusammen haben wir ein Paar Anamnesedetails nachgeholt (Marcumar wurde wegen einer endoskopischen Dickdarmpolypen-Abtragung vor 5 Tagen abgesetzt, inzwischen wiedereingesetzt worden, Patientin hat in der Nachfolgezeit nach der Abtragung nicht geblutet). Zweiten Zugang gelegt, vorsichtshalber Kreuzblut abgenommen.....und schon liefen wir gegen eine Wand.

INR 1,97. Laut hausinterner Leitlinie kämen Patienten mit einem INR bis 1,7 für eine Lyse in Frage. Beklommenes Nachdenken auf der Intensivstation. Meine Oberärztin hat sich noch einmal das CT angeschaut. Systemische Lyse zu heikel. Radiologen angerufen mit der Fragestellung einer lokalen Lyse, wurde aber eher abgelehnt (langstreckiger Mediaverschluß). Chef der Radiologie nicht zu erreichen, ebenso unser Chefarzt oder unser anderer Oberarzt (der über eine weitaus größere Expertise bzgl. Lysen bei heiklen Indikationen verfügt). Mittlerweile die Hälfte des Lysefensters verstrichen. Banges Überlegen...wenn wir die Patientin nicht lysieren, bleibt sie so oder es wird noch schlimmer (Infarkt hatte schon Potential, maligne zu transformieren). Keine Zeit für eine Verlegung in eine Neuroradiologie zur lokalen Lyse. Andererseits, wenn wir lysieren und es schiefgeht, sähen wir ganz alt aus, da wir wissentlich bei einer Kontraindikation die Lyse vorgenommen haben. Nach einigem Hin und Her sagte dann meine Oberärztin leise: "Tut mir leid, aber wir können das nicht verantworten". Man sah es ihr an, daß ihr die Entscheidung auch nicht leichtgefallen ist. Mehr als zustimmen konnte ich nicht. Patientin in stabilem Zustand auf der Intensivstation zurückgelassen mit weiterbestehender Hemiplegie. Danach ging ich in der Notaufnahme und schloß den anderen Fall ab.

Im Nachhinein muß ich sagen, egal wie sich meine Oberärztin entschieden hätte, ich wäre bereit, die Entscheidung mitzutragen. So wahnsinnig darauf fixiert, um jeden Preis zu lysieren bin ich nicht, auf der anderen Seite der Waage stand die Möglichkeit und die Schwere der klinischen Symptomatik in Kombination damit, daß wir wissentlich die Patientin mit Ihrer Hemiplegie belassen. Kommt mir vor, als wären gerade solche Fälle ein Graubereich, wo irgendwie keine Entscheidung richtig und keine falsch ist und wo es fast keinerlei Entscheidungshilfen gibt. Wie sieht ihr das? Eure Erfahrungsberichte aus solchen Situationen?

Giant0777
18.07.2007, 14:53
Hallo Tombow!

So, wie Du hier schreibst, hört sich das sehr bedrückend an.
Ich muss das mal für mich zusammenfassen: Du kümmerst Dich um eine akute Patientin ( und nach meinem Dafürhalten sehr umfangreich und fürsorglich ) und kommst zusammen mit einem Deiner Kollegen zu dem Ergebnis, dass ihr einfach machtlos seid, adäquat zu helfen. Vielleicht bin ich jetzt etwas blauäugig, aber ist das Dein erstes Erlebnis von Ohnmacht im Arztleben ? Dies ist keine provokante Frage, ich stelle nur fest, dass Du ganz schön "mitgenommen" bist!

Ich für meinen Teil habe eine solche Situation selbst bisher nicht miterlebt, habe aber auch Patienten kennen gelernt, die mit infausten Prognosen keine Heilungschancen mehr hatten. Und ich empfand immer auch solche Ohnmacht und Traurigkeit. Weil man einfach nichts machen konnte und es bei der nüchternen Aussage blieb:"Nichts geht mehr!"

Kurzum, ich kann Dir leider nichts Aufmunterndes sagen, geschweide denn raten! Aber ich verstehe Dich und denke, dass solche Gefühle eben einen emotionalen und mitfühlenden Menschen ausmachen!

Zoidberg
18.07.2007, 15:20
Keine schöne Situation, aber die Kontraindikationen gibt es nunmal um Benefit und Risiko abzuwägen.
Für mich stellt sich hier die Frage, warum das Marcumar nicht unter Heparinschutz ab- und angesetzt worden ist, dass da jemand mit VHF stroked ist ja kein Wunder, zumal sie von den CHADS² Kriterien bis auf den Stroke alle erfüllt hatte.

Tombow
18.07.2007, 15:31
Keine schöne Situation, aber die Kontraindikationen gibt es nunmal um Benefit und Risiko abzuwägen.
Richtig erkannt. Nur, in dem konkreten Fall habe ich es so empfunden, daß man nicht einfach mit der Kontraindikation seine Hände in Unschuld waschen kann. Forensisch zwar richtig, doch Indikationen und Kontraindikationen (auch wenn sie mit dem Zusatz "absolut" versehen sind) sind nunmal eine Entscheidungshilfe und nicht die ultimative Wahrheit. Und manchmal kommt man eben in einem Graubereich, wo wirklich alles verschwimmt. Ich mache mir keine Illusionen, daß auch weitere Fälle dieser Art kommen. Sind (so denke ich) auch Ereignisse und Erlebnisse, die einen zwar reicher an Erfahrung machen, aber in denen man nie Routine gewinnt (und meiner Meinung nach nicht gewinnen sollte). Denke auch nicht, daß einem Chefarzt mit einer zweistelligen Anzahl an Jahren im Beruf die Entscheidung leichtergefallen wäre.



Für mich stellt sich hier die Frage, warum das Marcumar nicht unter Heparinschutz ab- und angesetzt worden ist
Weiß nicht. Und zum Zeitpunkt des Infarktes war sie ja schon wieder suffizient marcumarisiert worden.

horsedoc
18.07.2007, 16:18
Solche Entscheidungen werden nie leichter- ich musste mehr oder weniger seit meinem ersten Arbeitstag "schwimmen", Nacht-/WE-Dienst allein, ohne, dass ich jemand hätte anrufen o. fragen können. Man kann jetzt sicher argumentieren, dass es ja "nur" um Tiere und nicht um Menschen geht, das hat mir aber Entscheidungen nie leichter gemacht... Und das erste mal selbst die Entscheidung zu einer Euthanasie zu treffen und sie dann auch durchzuführen-echt Sch**** und jedes mal wieder sch****, v.a. bei Fällen, bei denen man (für viel Geld, dass die Besitzter evtl. nicht haben) noch "was machen könnte"...
In der Tiermedizin haben wir zudem viel weniger Richtlinien oder "Entscheidungshilfen", was Diagnostik u. Therapie angeht, man muss sich sehr oft überlegen, wie das beste Vorgehen ist (Med.,OP,Eutha...), ist natürlich auch von den Wünschen des Besitzers abhängig aber diese Entscheidungen müssen halt getroffen werden und irgendwann muss man sie auch alleine treffen. Ich frage mich hinterher immer, ob es denn nun die richtige war oder nicht.
Zusammenfassung des Geschwafels:
1. Schwierige Entscheidungen müssen getroffen werden
2. Man darf sie zwar hinterfragen, darf aber sich selbst nicht in Frage stellen (hatte ich auch schon, lähmt einen aber immer mehr)
3. Schwierige Entscheidungen werden nie leichter

LG

Zoidberg
19.07.2007, 10:56
Nur als Offtopic Hinweis zur Bridging Therapie bei OAK und Heparin, in der 2/2007 Ausgabe von "Der Chirurg" gibt es einen klasse Reviewartikel :-) Sehr empfehlenswert für Hausärzte, die durch einfaches Absetzen gerne und oft gesehene Strokes produzieren.

milz
19.07.2007, 11:44
Soweit ich weiß ist das rasche hoch und runter des Quicks die größere Gefahr als das was der absolute Wert suggeriert. Bei der Erst- oder nach der Remakumarisierung ist das thrombotische Risiko sogar erhöht, da zuerst die Synthese der antikoagulatorischen Proteine C und S abfällt, bevor die Faktoren 9, 10, 7, 2 nachziehen.

Medimatze
19.07.2007, 21:35
Man ist Arzt und nicht Gott. Eine Kontraindikation ist Kontraindikation. Der Schaden ist also größer als der Nutzen. Die Wahrscheinlichkeit einen Schaden mit der Therapie anzurichten größer. Also ist das nicht Deine Entscheidung, sondern ein erwiesenermaßener Fehler etwas anders zu machen. Das kann man mal machen, wenn man es aus Erfahrung einfach besser weiß, oder ein breites Kreuz hat. Sowas würde ich nicht an mich ranlassen, und sowas geht auch nicht an mich ran. Eher wenn ich was wirklich falsch mache. Es gibt Grenzen die man akzeptieren muss. Habe gerade auch eine dialysepflichtige Patientin, die einfach nicht dialysefähig ist. Was soll ich machen. Es geht einfach nicht. Emotional gesehen schade, aber medizinisch absoluter Quatsch. Dafür kann ich nichts. Daran kann ich nichts ändern. Tragisch für die Angehörigen, aber nicht für mich. Die meisten Patienten haben ja auch Vorerkrankungen. Ich rede nicht von Einzelfällen, sondern von denen die häufiger vorkommen. Medizin ist Beschränkung. So sehe ich das.

Felix@112
20.07.2007, 08:55
Was mir hier irgendwie fehlt, ist die Option, den Patienten bzw. die Angehörigen in die Entscheidung mit einzubinden....!?
Wäre es nicht möglich, bei absoluter Zustimmung des Patienten, die Leitlinie zu verlassen? Ich als Patient würde in diesem beschriebenen Kasus das Risiko in Kauf nehmen....

Gruß
Felix

Muriel
20.07.2007, 09:05
Was mir hier irgendwie fehlt, ist die Option, den Patienten bzw. die Angehörigen in die Entscheidung mit einzubinden....!?
Wäre es nicht möglich, bei absoluter Zustimmung des Patienten, die Leitlinie zu verlassen? Ich als Patient würde in diesem beschriebenen Kasus das Risiko in Kauf nehmen....

Gruß
Felix
Nein, ich finde, bei absoluten Kontraindikationen geht das nicht. Man kann nicht dem Patienten den schwarzen Peter zuschieben. So etwas geht bei relativen KI oder bei off-label Therapien, aber nicht, wenn es (begründet) absolute Argumente gibt, weswegen man eben etwas nicht tun sollte/darf.
Ein Patient wird sich sehr häufig an jeden Strohhalm klammern, Risiken, egal wie detailliert ihm diese auch dargelegt werden, wird er versuchen auszublenden "Ach, ich muss ja nicht derjenige sein..." Nein, es gibt einfach Entscheidungen, die der Arzt treffen muss :-meinung

lala
20.07.2007, 18:00
Huhu Tombow
ich kann eure Entscheidung gut nachvollziehen! Ich hätte bei dem INR auf keinen Fall lysiert! Die Gefahr der Einblutung ins Hirn ist die eine, sie könnte aber auch super aus dem Darm bluten...neee auf keinen Fall!
Habe zig gute und einige schlechte Lysen in meinem Neurologen-Dasein hinter mir.Es ist manchmal doch gut, sich an Leitlinien und so zu halten. By the way: was steht im Beipackzettel der Actilyse? Steht da der INR drin?
Angehörige miteinbeziehen ist ganz schlecht - die können Nutzen/Risiko im Normalfall nicht beurteilen.Und wie ist sie geworden?

gossenschlampe76
23.07.2007, 20:10
Der Wert der Thrombolyse beim ischaemischem Insult ist sowieso sehr fragwuerdig.

Und ne Lyse bei einem INR von 1.9 ueberfuehrt einen ischaemischen Insult in eine intracerebrale Blutung.

PS: hatte einen sehr aehnlichen Fall mit ner 45a Dame, massive Hemiplegie, fetter Media-Verschluss, keine Lyse. Nach 4 Wochen mit geringen Residuen entlassen.

Yersinia I.
30.07.2007, 08:25
Zu diesem Fall jetzt, zur Mitbestimmung des Patienten zur Therapie:

Ich schätze mal, eine Patientin mit frischem großem Apoplex ist intellektuell nicht unbedingt in der Lage, mitzuentscheiden. Viele Patienten verstehen ja schon im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte nicht unbedingt, was man da mit ihnen vorhat - selbst wenn mans in denkbar einfache Sätze packt. (Keine Vorurteile, sondern Erfahrung...) Selbstverständlich sollte man Patienten an Entscheidungen mitbeteiligen, keine Frage, aber das sollte sich auf Situationen beschränken, bei denen sie sich zwischen verschiedenen gleich oder ähnlich guten Alternativen entscheiden können und sollen. Im Idealfall mit Ruhe und Bedenkzeit.

Ich würde sagen, "Tut mir leid, Sie haben Kontraindikationen, und ich kann diese oder jene Therapie nicht verantworten." Denn wenn Probleme auftreten, steht dein Name in der Akte, und du trägst die Konsequenzen - beruflich wie persönlich. Und das wäre auch bei Lyse mit der Komplikation Hirnblutung der Fall. Wie würdest du dich dann fühlen? Wissentlich eine kontraindizierte Therapie mit fatalem Ausgang durchgeführt zu haben - und da hat, glaube ich, auch der Anwalt der Klinik ein Problem mit.

Nochmal zum Fall:
Angehörige nachts ausfindig zu machen und zu erreichen - mit der Deadline "Lysefenster" im Nacken - ist auch kein Zuckerschlecken.