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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Reanimieren trotz ethischer Bedenken



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Avalanche
09.02.2008, 18:43
Anders ausgedrückt: Seine von der Natur vorgegebene Zeit war abgelaufen. Durch deine Rea und sonstigen Maßnahmen unterbrichst du einen natürlichen Vorgang, der auf jeden von uns einmal zukommen wird.

Da der Mensch von der ersten Minute seines Lebens "zum Tode" ist, ist das vollkommen klar.
Und nun bitte ich Sie uns doch *ganz genau* die Grenze zu nennen, an der "die Natur" sich derart vollzieht, dass eine Rea unnatürlich ist.
Denn es ist vollkommen natürlich, dass auch ein 30 jähriger an einer Pneumonie sterben kann und ich ihn irgendwann reanimieren muss, wenn ich nur lange genug nix mache.

Insofern ist eine Rea immer unnatürlich. Immer. Egal wann und unter welchen Bedingungen. Sie ist immer wider die Natur.
Wer also mit der Natur argumentiert, müsste denknotwendig auch den sterben lassen der nach einer Rea problemlos weiterleben könnte.

Ich nehme aber scharf an, dass Sie das nicht meinen.

So muss ich dann in solchen Fällen immer nachfragen: Wieviel Natur darf es denn sein, wenn es um den Tod geht?
Die Antwort auf diese Frage scheint mir aber extrem schwierig zu sein und sehr von individuellen Ansichten geprägt.
Das ist in Ordnung.
Da wir Menschen aber als typische Defektflüchter nichts ganz perfekt hinbekommen sondern immer nur "gut genug" oder "stattdessen", sind die Antworten auf diese Individualität auch kaum verbindlich normierbar ohne *immer* Defektbehaftet zu sein. Das ist das ganze Dilemma, dem Sie sich - ganz zurecht! - durch eine Verfügung zu entziehen versuchen.

Sie haben recht: Es ist tatsächlich lediglich ein Ersetzen des Begriffes "Gott" durch "Natur" und diese Ersetzung löst nichts.
Sie löst deswegen nichts, weil wir "der Natur" ja schon längst ein ganzes Stück "Natürlichkeit" abgerungen haben. Das ist die Realität, über die man betrübt sein kann oder nicht. Vermutlich sind wir mal betrübt darüber und meistens nicht, genau dann nicht, wenn weniger "Natur" uns im Grunde viele Überlebensvorteile bietet und unsere Lebensqualität verbessert.

Denn im Grunde geht es nämlich gar nicht um "die Natur", sondern darum, wie der Einzelne sterben will bzw wie er nicht sterben will, also nichtmal um den Tod "an sich".
Kompensationsphilosophisch könnte man noch sagen: Der Bezug auf Gott oder die Natur ist die Kompensation des Verlustes an Gott oder Natur in der Moderne (und das gilt ja nicht nur für die Medizin!).

Aber zu Ihren eigenen Wünschen haben Sie ja klare Statements abgegeben, was ich sehr gut finde, denn es ist nur vernünftig sich darüber rechtzeitig Gedanken zu machen und diese auch festzuhalten. Kämen Sie in einem Zustand, der den detaillierten Aufzählungen in Ihrer Verfügung enstpricht, in meine Hände, ich würde Sie sterben lassen - aber nur dann. Und - wenn möglich - versuchen dafür zu sorgen, dass es sanft geht, wenn Sie das wünschten oder ihr Bevollmächtigter.

liebe Grüsse, Avalanche

actin
09.02.2008, 18:44
Ein Fatalismus a la "Sterben muss jeder mal" - konsequent betrieben - würde die Medizin als solche komplett überflüssig machen.Dass das Argument kommen würde, war mir schon klar. Aber dass meine Aussage nicht so gemeint war, ist hoffentlich auch klar.



Im Endeffekt bleibt doch:
Wenn ich irgendwohin komme, wo ich den Patienten nicht kenne, dann kann ich nur versuchen, nach bestem Wissen (nicht Gewissen) und Ausbildungsstand zu handeln, sprich: zu reanimieren, wenn nicht bereits sichere Todeszeichen vorliegen.So wird es wohl meistens sein. Um das zu verhindern,
müsste man mit seinen Angehörigen vereinbaren, in einem solchen Fall eben die 112 nicht anzurufen.
Wenn kein Anghöriger dabei wäre und die Leitstelle von Fremden angerufen worden wäre, könnte man eine Rea wohl nicht verhindern, sondern nur alle Folgebehandlungen durch seinen Bevollmächtigten unterbinden lassen.

Avalanche
09.02.2008, 19:03
Im Endeffekt bleibt doch:
Wenn ich irgendwohin komme, wo ich den Patienten nicht kenne, dann kann ich nur versuchen, nach bestem Wissen (nicht Gewissen) und Ausbildungsstand zu handeln, sprich: zu reanimieren, wenn nicht bereits sichere Todeszeichen vorliegen.
Wenn ich den Patienten kenne, seine medizinische Verfassung und im Idealfall auch noch seinen Willen, weil ich vorher mit dem Patienten sprechen konnte, dann - und nur dann - ist ggfs eine Entscheidung gegen eine potentiell (zunächst) erfolgreiche Rea möglich.

Ich denke, das ist die Realität. Und wie alles, was Menschen - und besonders bei Grenzentscheidungen wie Leben und Tod - machen, sind die Lösungen nicht perfekt, sondern "menschlich", dh "good enough".

salut, Avalanche

Sebastian1
09.02.2008, 19:13
Dass das Argument kommen würde, war mir schon klar. Aber dass meine Aussage nicht so gemeint war, ist hoffentlich auch klar.
Nur verständnishalber: wie war es denn gemeint, denn wenn nicht so, dann verschließt sich mir der Sinn, ein solches Argument überhaupt zu bringen bzw. der, wie es sonst gemeint gewesen ist.

Feuerblick
09.02.2008, 19:18
Um das zu verhindern,
müsste man mit seinen Angehörigen vereinbaren, in einem solchen Fall eben die 112 nicht anzurufen.
Ein frommer Wunsch, wenn man bedenkt, welchen Stellenwert der Tod heutzutage hat. Der Tod ist für die meisten Meschen heute nicht mehr das selbstverständliche Ende eines Lebens sondern eine furchtbare und gefährliche Sache, die durchzustehen den meisten Angehörigen mehr Kraft abverlangt, als sie zu geben haben oder zu geben bereit sind. Insofern rufen die allermeisten Menschen für Oma oder Opa (mit präfinaler Erkrankung und der eigentlichen Abmachung, dass er oder sie zuhause in Frieden sterben darf) letztlich doch die 112 - damit geben sie die Entscheidung darüber ob ihr Angehöriger stirbt in die Hände anderer. Pontius-Pilatus-Syndrom... *seufz* Und dabei sind die Menschen, die einen Angehörigen zuhause haben, damit er in Frieden sterben kann schon immerhin so weit, dass sie sich mit der Möglichkeit seines Todes (und der eigenen Sterblichkeit) auseinandergesetzt haben. Die meisten ignorieren die Sterblichkeit des Menschen ganz gerne und verlangen von der Medizin, alles zu tun und auch noch Wunder zu ermöglichen.
Ich bin ehrlich gesagt froh, diese Entscheidung nicht mehr für fremde Menschen treffen zu müssen. Ich wüsste nach wie vor nicht, welches schlechte Gewissen mich mehr belasten würde: Das Wissen, einen Menschen nicht gerettet zu haben (auch wenn es für ihn vielleicht die bessere Lösung war) oder das Wissen, einen Menschen gegen seinen Willen reanimiert zu haben und dafür gesorgt zu haben, dass er ein paar Wochen oder Monate weiter vor sich hin vegetiert. Wohl demjenigen, der die Gelegenheit hatte, seinen Patienten rechtzeitig zu diesem Thema zu befragen...:-nix

actin
09.02.2008, 19:27
@Sebastian: Jetzt verstehe ich Dich nicht.

Es geht um diesen Satz:


Ein Fatalismus a la "Sterben muss jeder mal" - konsequent betrieben - würde die Medizin als solche komplett überflüssig machen.
...Durch deine Rea und sonstigen Maßnahmen [bei einem Sterbenden!] unterbrichst du einen natürlichen Vorgang, der auf jeden von uns einmal zukommen wird.Dieser Satz sagt nur, dass ich im Zustand des beginnenden Sterbens nicht mehr behandelt werden möchte. Das heißt aber nicht, dass ich medizinische Behandlungen grundsätzlich für überflüssig halte bzw. ablehne.

Hypnos
09.02.2008, 19:30
Ein frommer Wunsch, wenn man bedenkt, welchen Stellenwert der Tod heutzutage hat. Der Tod ist für die meisten Meschen heute nicht mehr das selbstverständliche Ende eines Lebens sondern eine furchtbare und gefährliche Sache, die durchzustehen den meisten Angehörigen mehr Kraft abverlangt, als sie zu geben haben oder zu geben bereit sind. Insofern rufen die allermeisten Menschen für Oma oder Opa (mit präfinaler Erkrankung und der eigentlichen Abmachung, dass er oder sie zuhause in Frieden sterben darf) letztlich doch die 112 - damit geben sie die Entscheidung darüber ob ihr Angehöriger stirbt in die Hände anderer. Pontius-Pilatus-Syndrom... *seufz* Und dabei sind die Menschen, die einen Angehörigen zuhause haben, damit er in Frieden sterben kann schon immerhin so weit, dass sie sich mit der Möglichkeit seines Todes (und der eigenen Sterblichkeit) auseinandergesetzt haben. Die meisten ignorieren die Sterblichkeit des Menschen ganz gerne und verlangen von der Medizin, alles zu tun und auch noch Wunder zu ermöglichen.
Ich bin ehrlich gesagt froh, diese Entscheidung nicht mehr für fremde Menschen treffen zu müssen. Ich wüsste nach wie vor nicht, welches schlechte Gewissen mich mehr belasten würde: Das Wissen, einen Menschen nicht gerettet zu haben (auch wenn es für ihn vielleicht die bessere Lösung war) oder das Wissen, einen Menschen gegen seinen Willen reanimiert zu haben und dafür gesorgt zu haben, dass er ein paar Wochen oder Monate weiter vor sich hin vegetiert. Wohl demjenigen, der die Gelegenheit hatte, seinen Patienten rechtzeitig zu diesem Thema zu befragen...:-nix

Nun, es gibt ja Fachbereiche, in denen man mit Reanimationen wenig zu tun hat...wer sich also mit diesen Entscheidungen schwer tut, sollte sich vielleicht für ein solches Fach entscheiden?

Denkt

Hypnos

Strodti
09.02.2008, 19:45
Ich habe mal ein kleine rechtliche Frage:
Auf einer internistischen Station habe ich die Praxis kennengelernt, dass der Stationsarzt ein "NR" in die Anordnungen geschrieben hat. Das hieß für das Pflegepersonal, dass sie auf keinen Fall bei diesem Pat. mit der Reanimation beginnen sollen und den Dienstinternisten (und nicht das Notfallteam) informieren sollen.
Als Prakti hatte ich mit diesen Anordnungen (und der Ausführung derselbigen) natürlich nichts zu tun, aber ist das in Ordnung? Ist das eine Möglichkeit den (hoffentlich vorher erkundeten) Willen des Pat. durchzusetzen?

alley_cat75
09.02.2008, 19:58
Ich bin ehrlich gesagt froh, diese Entscheidung nicht mehr für fremde Menschen treffen zu müssen.

Hast Du Deine Approbation abgegeben?

alley_cat75
09.02.2008, 20:00
"NR" in die Anordnungen geschrieben... Ist das eine Möglichkeit den (hoffentlich vorher erkundeten) Willen des Pat. durchzusetzen?

Schreibe ich auf die Akten meiner Patienten ebenfalls vorn rauf - mit Unterschrift und Stempel. Vorher habe ich das mit dem Patienten/Angehörigen abgeklärt. Das soll dem Diensthabenden gewisse Entscheidungen erleichtern und in der Tat, es funktioniert.

Feuerblick
09.02.2008, 20:04
Hast Du Deine Approbation abgegeben?Nö, bisher nur in eine Fachrichtung gewechselt, in der die Menschen in der Regel recht gesund sind. Wenn bei uns mal eine Rea ansteht, dann sind es nicht die alten, multimorbiden oder präfinalen Menschen sondern welche, die aus scheinbar bester Gesundheit ein Problem bekommen haben. Und bei denen ist die Entscheidung für oder gegen eine Rea nun nicht wirklich schwer. :-nix
Weiterhin plane ich in Zukunft, die klinischen Bereiche gänzlich zu verlassen. Dann werden die kritischen Situationen klar gen Null tendieren. Im Privatleben bin ich bisher noch NIE in die Verlegenheit gekommen, reanimieren zu müssen. :-))

alley_cat75
09.02.2008, 20:06
Interessant und was machst Du, wenn an der Bushaltestelle neben Dir jemand leblos zusammenbricht? Nicht mehr Bus fahren oder eine Entscheidung treffen, die Du für Dich selbst oder Deine Lieben nicht treffen würdest?

Bille11
09.02.2008, 20:10
andere frage: was machst DU in der situation, alley? deinen mini-ambu-beutel rausholen? 911 anrufen? heldin spielen? ich finde, dass du für deinen weiterbildungsstand eine enorm gefestigte meinung und ein ganz schön (über)grosses selbstbewusstsein hast.. & denke, dass es dir live nicht so leicht fällt wie du hiers tust.

alley_cat75
09.02.2008, 20:13
Ich arbeite als Dozentin für Notfallmedizin und unterrichte andere Ärzte darin. Reicht Dir das als Antwort?

Feuerblick
09.02.2008, 20:13
Interessant und was machst Du, wenn an der Bushaltestelle neben Dir jemand leblos zusammenbricht? Nicht mehr Bus fahren oder eine Entscheidung treffen, die Du für Dich selbst oder Deine Lieben nicht treffen würdest?*schulterzuck* Wenn an der Bushaltestelle ein Mensch aus blühendem Leben einfach so umfällt, möchte ich primär mal konstatieren, dass er NICHT präfinal und vom AZ her dem Tode näher als dem Leben ist. Sonst könnte er nicht locker-flockig mit den Öffentlichen fahren, oder? Insofern ist die Entscheidung eben NICHT schwer. Schwer ist sie in den Bereichen, in denen ich die Erkrankung und die Prognose des Patienten kenne, seinen AZ als schlecht ansehen muss und DANN entscheiden soll, ob ich sein Leiden bzw. Leben verlängere. Eine Entscheidung, die mir an keiner Bushaltestelle dieser Welt vor die Füße fallen wird.
Für mich selbst und meine Lieben kann ich Entscheidungen treffen. Warum? Weil ich mit besagten Menschen durchaus über den möglichen Tod und über die Wünsche bezüglich Rea gesprochen habe. Schon bevor ich Medizin studiert habe... Netterweise wird in meiner Familie nämlich der Tod nicht tabuisiert sondern ist Teil des Lebens...

alley_cat75
09.02.2008, 20:16
Wenn an der Bushaltestelle ein Mensch aus blühendem Leben einfach so umfällt, möchte ich primär mal konstatieren, dass er NICHT präfinal und vom AZ her dem Tode näher als dem Leben ist.

Du reisst ihm das Shirt auf und - PEG, Tracheostoma und `ne PM-Narbe? Und zögerst Du?

Bille11
09.02.2008, 20:17
Ich arbeite als Dozentin für Notfallmedizin und unterrichte andere Ärzte darin. Reicht Dir das als Antwort?

nein das reicht mir nicht.

Feuerblick
09.02.2008, 20:17
Du reisst ihm das Shirt auf und - PEG, Tracheostoma und `ne PM-Narbe? Und zögerst Du?Was bei dir so alles an Bushaltestellen rumhängt... verblüffend...Noch viel verblüffender finde ich allerdings die Arroganz, mit der du hier auftrittst. Du kannst hier niemandem weismachen, dass du immer die Antwort weisst und dass du nie schlecht schläfst aufgrund des Gedankens, falsch oder nicht adäquat gehandelt zu haben.
Okay, Antwort auf deine Frage: Nein, ich zögere nicht. Weil ich bei einem Menschen, der mit PEG, Tracheostoma und Co. in den Öffentlichen herumgondelt mal primär nicht davon ausgehe, dass er vor Schmerzen zu nichts mehr in der Lage ist und/oder keine Lebensqualität mehr hat. Wissen kann ich es nicht, ich kann nur aus dem schließen, was ich sehe. Und hoffen, dass ich mit meiner Entscheidung richtig liege.
Aber wie gesagt: Ich bin rein privat noch NIE zu einer Rea oder einem ernsthaften Notfall gekommen. Nur (rettungs-)dienstlich. Und glaub mir, dass ich bei manch einer Entscheidung für oder gegen eine Rea Bauchweh hatte.

alley_cat75
09.02.2008, 20:20
:-)) Ja, okay, solche Leute stehen da sicher nicht zu Hauf, aber mal im Ernst: mein Nachbar hat Kehlkopfkrebs und läuft noch durch die Gegend und fährt Bus. Ernährung geht nur noch über PEG und Atmung durch Tracheostoma unterstützt. Also: was machst Du? Also, wenn er nicht Dein Nachbar wäre und Du seine Meinung zu Rea nicht kennen würdest. :-nix

actin
09.02.2008, 20:21
Wollte auch gerade sagen: Solche Leute dürften an Bushaltestellen selten anzutreffen sein.