PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Kontroversen in der Ersten Hilfe



Seiten : [1] 2

ersti
07.05.2008, 20:13
Hi.
Ich habe immer wieder das Gefühl, dass es in der Ersten Hilfe heftige Kontroversen gibt über die Maßnahmen, die unbedingt erforderlich bzw. verboten sind.
Immer wieder höre ich verschiedene Meinungen zu einer Maßnahme, die beide im Extremfall völlig gegensätzlich sind.
Beispielsweise die Lagerung eines bewusstlosen Patienten nach einem Verkehrsunfall, wenn man als Laie anwesend ist:
Meinung A) "Wenn er sichtbare Frakturen hat oder man eine HWS-Beteiligung vermutet darf der Patient auf keinen Fall in die stabile Seitenlage verbracht werden." (Meinung von einem RA)
Meinung B) "Bewusstlose Patienten müssen immer in die stabile Seitenlage verbracht werden, weil sie ersticken wenn sie kotzen. Beim Verkehrsunfall durch eine zweite Person HWS stabilisieren lassen." (Meinung von einem Anästhesisten/NA).


Kennt ihr diese Kontroversen nicht auch?
(Wohlgemerkt gehts mir um einen Ersthelfer, Laien ohne Ausrüstung und nicht speziell das Thema stabile Seitenlage sondern Kontroversen auch bei anderen Massnahmen in der Ersten Hilfe.)

Feuerengelchen
07.05.2008, 20:39
Mh, diese Fragen stellen mir meine Azubis auch immer wieder.

Letztendlich muss man immer die komplette Lage und den individuellen Notfall beurteilen, vieles kann man nicht so einfach pauschalisieren. Das ist in einem Kurs natürlich immer schwer.

Ich überlege mir dann, in was für einer Situation ich mich dann befinde: Bin ich als Ersthelfer (natürlich mit meinen Ausbildungen und Studium im Hintergrund) vor Ort und hab ausser ein paar Mullbinden so gut wie nix, dann muss ich natürlich andere Prioritäten setzen und evtl auch in die stabile Seitenlage drehen, weil mir natürlich weder Tubus noch LaMa noch Absauger oder sonstwas zur Verfügung steht.
Bin ich mit einem "unerfahrenen" Team unterwegs, von dem ich weiß, dass die Kollegen meine Anordnungen nicht so schnell erfüllen können, wie das in diesem Fall geboten wäre, dann entscheide ich mich zB auch gegen bestimmte Maßnahmen.
Der nächste Fall ist dann das eingespielte Team, was natürlich optimal ist. Wenn man sich kennt und weiß wie schnell und gut der Andere die Maßnahmen beherrscht.

Bezüglich zB Bewußtlos und HWS-Trauma-Verdacht: Man kann auch den Pat in stab. SL bringen und den Kopf dabei achsengerecht mitdrehen.
Immer überlegen, was den Pat momentan am meisten gefährdet.

Meine Meinung: Es gibt so gut wie keine ultimativ richtige Aussage, nur Orientierungen, über die man aber im konkreten Einzelfall entscheiden muss. Und mit ein bisschen Hausverstand ist das auch keine Hexerei.

Feuerblick
07.05.2008, 20:51
@Feuerengelchen: Ganz deiner Meinung. Es gibt ja auch immer diese Kontroverse Helm ab vs. Helm drauflassen wegen Wirbelsäulenverletzung. Mal ehrlich: Wenn für mich klar ist, dass der Patient bewusstlos wie er ist in Rückenlage aspirieren und das Atmen aufgeben könnte, dann pfeif ich auf das vermutete Wirbelsäulentrauma (denn eine eindeutig erkennbare Fraktur an der WS hab ich noch nie beim noch lebenden Patienten gesehen...) und sorge dafür, dass der Mensch überhaupt mal überlebt.
Ergo: Patentrezepte gibt es gerade im Bereich Erste Hilfe oder Notfallmedizin überhaupt nicht. Da regiert der gesunde Menschenverstand gepaart mit Instinkt und einem guten Basiswissen. :-top

ersti
07.05.2008, 21:04
Klar, ich als RA habe auch meine eigenen "Erfahrungs-Algorithmen". Kann man dem Laien in so einer Situation ein Basiswissen, klaren Kopf oder einen richtigen Instinkt zutrauen?
Ich denke, dass sich die meisten in so einer Situation eher zurückhalten, weil sie durch diese "das darf man auf KEINEN Fall machen"-Verbote die oft auf diesen Kontroversen beruhen eingeschüchtert werden. Gleichzeitig klagen aber alle über das Problem, dass die Leute oft gar nicht erst Helfen weil sie Angst davor haben, Fehler zu machen.

Feuerblick
07.05.2008, 21:08
Einzige Maxime: Nur wer NICHTS tut, macht garantiert etwas falsch!:-top

vlsime
07.05.2008, 22:18
Hallo!

Wenn man die Leitlinien zur Ausbildung von Laien in der Ersten Hilfe aufmerksam zur Kenntnis nimmt, wird man feststellen, daß es keine Widersprüche oder Kontroversen gibt, unabhängig von der jeweiligen methodisch-didaktischen Aufarbeitung.


Beispielsweise die Lagerung eines bewusstlosen Patienten nach einem Verkehrsunfall, wenn man als Laie anwesend ist:
Meinung A) "Wenn er sichtbare Frakturen hat oder man eine HWS-Beteiligung vermutet darf der Patient auf keinen Fall in die stabile Seitenlage verbracht werden."
Meinung B) "Bewusstlose Patienten müssen immer in die stabile Seitenlage verbracht werden, weil sie ersticken wenn sie kotzen. Beim Verkehrsunfall durch eine zweite Person HWS stabilisieren lassen."

Ersthelfern soll ganz klar vermittelt werden, daß die SIcherung von Vitalfunktionen oberste Priorität hat, d.h.:
1. Patient bewußtlos, keine ausreichende / "normale" Atmung, keine Lebenszeichen --> Herz-Lungen-Wiederbelebung
2. Patient bewußtlos, aber mit "normaler" Spontantmung --> Stabile Seitenlage (dadurch Freihalten der Atemwege, Aspirationsschutz)
3. Patient wach --> Der jeweiligen Situation entsprechende Hilfe leisten (Lagerung, Verbände, Ruhigstellung usw.)

Im konkreten Fall: die schönste HWS hilft nix, wenn man erstickt...

Trotzdem darf man natürlich "mitdenken", d.h. z.B. den Patienten "achsengerecht" in die stabile Seitenlage drehen, wenn er im Rahmen eines Unfallgeschehens bewußtlos geworden ist; auch darf man, trotz laufender HLW, nebenbei blutende Wunden abdecken / verbinden usw. Schließlich ist man ja selten alleine in vergleichbaren Notfallsituationen.


Grüße!

Grübler
07.05.2008, 22:58
Die Atmung ist nun mal das wichtigste hier! Wenn der Patient nachher gelähmt ist, weil er doch ein HWS-Trauma hatte, so hat er wenigstens noch die Möglichkeit sich selbst darüber zu beschweren (krass ausgedrückt). Siehe auch "Crash-Rettung" und dergleichen. Das Überleben steht erst mal vor den möglichen (bleibenden) Schäden. Wenngleich diese natürlich so stark wie möglich ausgeschlossen werden sollten!

tarsus
07.05.2008, 23:23
Leben vor Lähmung- so hab ich's gelernt!

Nemesisthe2nd
07.05.2008, 23:36
kann mich nur anschließen... ich denke man sollte gerade in der laien-erste-hilfe motivieren überhaupt was zu tun...

und eben oberste priorität auf das sichern der vitalfunktionen legen.. und das kann eben auch im zweifelsfall stabile seitenlage trotz potentiell instabiler Wirbelsäule bedeuten...

(bin jetzt nen bischen zynisch, aber die radiologen rupfen die ganze stabilisierung zum röntgen eh wieder runter, da wird die lagerung durch die laien auch nicht mehr schaden anrichten... war nur so die erfahrung die ich mit schienung, stif-neck etc gemacht hab... die radiologen rupfens eh runter... sry avalance...)

ersti
08.05.2008, 01:46
Da ist noch was: Ich bin schon ne Zeit lang nicht in der Lage folgendes zu kapieren:

Im Jahr 2002 starben in Deutschland 6 842 Menschen bei Verkehrsunfällen. Experten schätzen, dass 80 Prozent hätten überleben können, wenn fachmännisch Erste Hilfe geleistet worden wäre.
Quelle: hier (http://www.mdr.de/hauptsache-gesund/980592-hintergrund-976173.html)


Die Verkehrstoten waren mit Sicherheit i.d.R. alle Polytraumen. Ich nehme an, dass hinter dem Gedanken "Erste Hilfe" in dem Fall die Reanimation steckt.
Hat die Reanimation beim Polytrauma selbst als ACLS nicht eine miserable Prognose, mit ca. 2% Erfolgsquote oder verzähl ich mich da grad irgendwie?
Wie kann ein Laienhelfer mit BLS diese Prognose auf 82% steigern?
Ich nehme an, dass das mit den 80% stimmt, aber ich weiß nicht auf was das in der Studie bezogen wurde.

Vielleicht bin ich einfach zu blind,:-blush aber ich kann meinen Denkfehler nicht finden. Wo isser?

astrophys
08.05.2008, 08:01
Diese Problematik führt ja auch dazu, dass der Inhalt der Erste Hilfe Kurse häufiger mal geändert wird. Um die Kursteilnehmer nicht zu überfrachten, wird immer das gelehrt, was momentan statistisch am sinnvollsten ist.

THawk
08.05.2008, 09:50
zu dem oben genannten Problem gibt es übrigens noch den schönen (wenn auch englischen) Merkspruch
"Kill first what kills first".

Ich glaube, das ist der Grundsatz, mit dem man einen Großteil der Teilnehmer-Fragen auf Erste-Hilfe-Kursen beantworten kann.

christo
08.05.2008, 10:02
Schließe mich der Meinung an dass es hier keine Kontroverse gibt:
Bewusstloser der schnauft kommt in die stabile Seitenlage. Wenn möglich, achsengerecht.

Avalanche
08.05.2008, 12:54
(bin jetzt nen bischen zynisch, aber die radiologen rupfen die ganze stabilisierung zum röntgen eh wieder runter, da wird die lagerung durch die laien auch nicht mehr schaden anrichten... war nur so die erfahrung die ich mit schienung, stif-neck etc gemacht hab... die radiologen rupfens eh runter... sry avalance...)

Das geht schon ok, denn das stimmt ja auch im Wesentlichen: meist rupfen wir das ganze Zeugs runter. Allerdings - so hab ich das zumindest gelernt: Pat kommt mit allem Brimborium auf den Tisch. Dann wird am Bucky die WS ap geschossen, die Bilders dem Radiodoc gezeigt: Klare Kompressionsfrakturen oder Berstungsbrüche sieht man auch ap. Densfrakturen sind da schon kniffliger.

Jedenfalls: Sind die ap Bilder ok - und erst dann - fangen wir meistens an irgendwelche Fixierungen abzumontieren - heute sollte das beim aktuellen Fixierungsmaterial eher seltener notwendig werden, früher ging es oft nicht anders. Ist halt leider so, dass manches Fixiermaterial einem so gut wie jede seitliche Aufnahme versaut(e) oder sogar den Versuch verhindert. Diese tollen Matrazen können immer noch ein Problem sein, bei digi Anlagen wieder weniger als bei alten konventionellen etc ...
Hauptproblem bei solchem Vorgehen: Isolierte Hinterkantenabbrüche mit mobilem Fragment, die gehen einem ap durchaus durch die Lappen, können aber recht fies sein/werden, auch Bogenwurzelbrüche können einem auf einer nicht optimalen "Unfall ap" Aufnahme durchgehen.

Daher vor allem f die HWS (LWS und BWS bekommt man seitlich auch mit Fixierung immer irgendwie hin, bis auf ca BWK 1-3(4), je nach Patient): Falls die Klinik das wirklich hergibt und falls Fixierung aus Kunststoffen oder zumindest wenig Metall: Schnelles, gezieltes Spiral Ct mit dem ganzen Klump dran und Pat immer in Rückenlage und fixiert und fertig ist. Denn die meisten WS Frakturen, die auf einer orientierenden ap Aufnahme auffallen, (bis auf die reinen Vorderkantenabbrüche) landen ja doch meist nach dem konv Rö im Ct, also kann man es auch gleich machen und dann ist auch - meist - Ende aller Diskussionen wie es mit dem Spinalkanal ausschaut und wie stabil welche Fraktur nun ist oder nicht ist.

ciao, Avalanche :)

Gichin_Funakoshi
08.05.2008, 23:44
Mal ne Frage:

Unsere erste Hilfe Lehrer ist Unfallchirurg. Er war der Meinung eine Fraktur, die eine starke Fehlstellung aufweist solle von Ersthelfern "gerade gezogen werden". Ich kann doch nicht anfangen an den Extremitäten ohne Anästhesie und ohne Ahnung rumzuziehen. Gut, sein Argument mit der Blutversorgung war dann doch nicht schlecht. Aber würdet ihr das empfehlen?

joe-gando
08.05.2008, 23:53
Als EH-Trainer und ALS-Instructor mal kurz ein paar hoffentlich klärende Worte:

Ein bewusstloser, normal atmender Patient wird -wenn möglich- unter Stabilisierung der HWS in die SSL gedreht.

Eine # sollte miner Meinung nach von Ersthelfern in Ruhe gelassen werden - Von Fachpersonal kann man nach vorangegangener Analgosedierung in bestimmten Fällen eine Reposition verlangen.

astrophys
09.05.2008, 09:23
Mal ne Frage:

Unsere erste Hilfe Lehrer ist Unfallchirurg. Er war der Meinung eine Fraktur, die eine starke Fehlstellung aufweist solle von Ersthelfern "gerade gezogen werden". Ich kann doch nicht anfangen an den Extremitäten ohne Anästhesie und ohne Ahnung rumzuziehen. Gut, sein Argument mit der Blutversorgung war dann doch nicht schlecht. Aber würdet ihr das empfehlen?

Das entspricht jedenfalls nicht dem, was aktuell in den EH Kursen gelehrt wird.

THawk
09.05.2008, 10:15
Genau, die Laienausbildung stellt ganz klar heraus: Keine Repositionsmaßnahmen durch den Ersthelfer.

Als Notarzt ist das sicherlich was anderes, da wird bei DMS-Ausfällen die Reposition (unter Analgesie) ganz klar gefordert. Wofür leisten wir uns auch das ganze Notarzt-Wesen wenn die dann sowas nicht machen würden?!

Ich erlebe es häufig, dass Ärzte (mit ihrer Therapiefreiheit) sich in den Grenzen der Ersten Hilfe wenig auskennen und häufig zu viel von den Ersthelfern verlangen. Sicherlich ist das fachlich alles irgendwo richtig, aber es hat auch schon seine Gründe, dass z.B. die Reposition kein Lehrinhalt für Ersthelfer ist (Überforderung etc.)

Und die gut 10-Minuten bis Eintreffen RD / NA kann die Extremität auch noch ohne Durchblutung sein. Ischämiezeiten liegen da schließlich reichlich über 60 Minuten. Und im normalen EH-Kurs ist auch der DMS-Test - soweit ich weiß - kein Lehrinhalt. Damit können die Ersthelfer die Gefäßverletzung gar nicht bemerken.

Ciao, Lars

Feuerengelchen
09.05.2008, 14:14
Und im normalen EH-Kurs ist auch der DMS-Test - soweit ich weiß - kein Lehrinhalt. Damit können die Ersthelfer die Gefäßverletzung gar nicht bemerken.

Wenn nicht mal mehr die Pulskontrolle an der Carotis bei der Rea von Laienhelfern verlangt wird, weil die Fehlerquote selbst unter medizinschem Personal nachgewiesenermaßen groß ist, dann kann ich erst recht nicht verlangen bzw. erwarten, dass sie den viel schwierigeren Puls an einer A. tibialis posterior oder A. dorsalis pedis finden.
Tun sich ja schon manche Krankenschwestern bei der Überwachung nach Coro damit schwer ;-)

_Garfield_
10.05.2008, 21:27
Nabend!

Zum Thema "Erste Hilfe" hatte der Spiegel neulich einen ganz schönen Artikel, der mit so einigen Erste-Hilfe-Mythen aufräumen will und auch ein Problem aufzeigt: Viele Maßnahmen (insb. die Seitenlage) werden einfach viel zu kompliziert gelehrt. Und der Durchschnitts-Ersthelfer, der bestimmt nicht alle zwei Jahre einen Auffrischkurs besucht, versucht dann womöglich verzweifelt, die einzelnen Schritte zur Seitenlage zu rekonstruieren ("hier 90° anwinkeln, dort Bein aufstellen") und vergisst nachher, den Kopf zu überstrecken.

Den Artikel gibt's hier:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,546172,00.html

Grüße
Garfield