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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Obesity paradox / Reverse epidemiology



Antracis
06.11.2008, 22:09
Hallo zusammen,

mich würde mal interessieren, was Ihr vom "obesity paradox" haltet.

Das Thema ist mir in letzter Zeit häufiger über den Weg gelaufen, scheint aber noch nicht so richtig im Fokus der medizinischen Debatte zu stehen.
Gemeint ist die Tatsache, dass bei chronischen Erkrankungen wie z.B. Herzinsuffizienz die Adipositas hinsichtlich der Mortalität einen signifikant günstigeren Prognosefaktor darstellt, als es das Normal- bzw. Idealgewicht tut.
Paradox natürlich deshalb, weil die Erkenntnis im direkten Gegensatz zu allem steht, was man in der Primärprävention eben dieser chronischen Krankheiten anstrebt.

Ich hab dazu auch einen recht überzeugenden Vortrag gehört, der eine ziemlich wasserdichte Studienlage vorzuweisen hatte. Sogar nicht nur für Herzinsuffizienz, sondern auch mit chronischen Komorbiditäten wie Diabetes, Bluthochdruck und KHK. Im Prinzip resultiert irgendwie die zynische Message: Solange Du noch nicht krank bist, tu alles, um Dein Gewicht optimal zu halten. Wenn Du aber erstmal Deine chronische Krankheit hast, lebst Du länger, wenn Du richtig fett bist. Es wurden dabei auch Studien gemacht bezüglich des absichtlichen Gewichtsverlustes und sozusagen krankheitsbedingter Kachexie. Da war die Datenlage wohl nicht ganz so klar aus Mangel an Studien, die Tendenz geht aber auch dahin, das bewusstes Abnehmen keine Änderung an der Tatsache bringt, das die hohen BMI ein besseres outcome haben. Soweit mir bekannt ist, gibts auch (noch?) keine Studien, ob man das Leben von Leuten mit chronischen Krankheiten verlängert, wenn man sie nur fleißig zu McDoof schickt.

Eine Erklärung hat man bisher nicht. Die Hypothesen gehen in die Richtung, dass chronische Erkrankungen den Patienten in rezidivierend katabole Stoffwechsellagen versetzen, die letztlich von Patienten mit Adipositas besser bewältigt werden können.

Ich finde das Ganze echt höchst interessant, stelle aber natürlich kritische Überlegungen an und frage mich nach der Relevanz hinsichtlich der Praxis. Erstmal ist zu bedenken, das fast alle Studien den BMI als Maß für die Adipositas zu Grunde legen, der ja in seiner Aussagekraft nicht unumstritten ist. Weiterhin wurden in allen Studien nur definitive Endpunkte, wie Sterblichkeit betrachtet. Das Risiko beispielsweise für weitere kardiovaskuläre Ereignisse bei den chronischen Krankheiten ist ja unbestritten. Und obwohl es sich offenbar nicht direkt in der Mortalität widerspiegelt, ist ja die Frage nach
der Lebensqualität, beispielsweise hinsichtlich Pflegebedürftigkeit eine wichtige. Auch orthopädische Krankheiten bleiben dabei ja unberücksichtigt, wobei da der BMI 35 sicher deutlich mehr Probleme hat, als der 25 BMI.

Wenn also der herzinsuffiziente Patient vor uns steht mit seinem 35er BMI, sollte man Ihm also auf die Schulter klopfen und sagen: Bleiben sie unbedingt so fett, das garantiert Ihnen ein langes Leben ? :-nix

Gruß
Anti

PS: Die Krönung an dem Ganzen ist wohl, dass es sogar erste Hinweise (aber nicht mehr!) für eine Art "HBA1c"-Paradoxon gibt. Sprich, Diabetiker mit optimalem HBA1C leben kürzer, als die entgleisten... :-music

Die Niere
07.11.2008, 08:23
Wo sind die von dir angesprochenen Quellen?

gruesse, die niere

hypnose-kroete.de
07.11.2008, 09:52
ZB. hier (http://http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18929704?ordinalpos=3&itool=EntrezSystem2.PEntrez.Pubmed.Pubmed_ResultsP anel.Pubmed_DefaultReportPanel.Pubmed_RVDocSum)


In conclusion, both increased exercise capacity and BMI were associated with lower mortality in patients with an intermediate to high likelihood of CAD after controlling for confounding variables, supporting an inverse impact of BMI on mortality. The origin for this "obesity paradox" is unclear.

oder hier (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18983332?ordinalpos=1&itool=EntrezSystem2.PEntrez.Pubmed.Pubmed_ResultsP anel.Pubmed_DefaultReportPanel.Pubmed_RVDocSum)


Numerous studies have demonstrated an "obesity paradox" regarding prognosis, however, in that obese patients with established HF tend to have a more favorable prognosis than do lean patients.

oder hier (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18654066?ordinalpos=1&itool=EntrezSystem2.PEntrez.Pubmed.Pubmed_ResultsP anel.Pubmed_DiscoveryPanel.Pubmed_Discovery_RA&linkpos=1&log$=relatedreviews&logdbfrom=pubmed)

Leider (zumindest für mich) keine Volltexte, die ja zumindest bei den Reviews mal interessant wären, auch wegen der Quellen.

Vorstellen, das ein moderates(!) Übergewicht als metabolische Reserve im Erkrankungsfall besser ist als eine Kachexie kann ich mir schon aber das wird vermutlich auch nur bis zu einem gewissen Grad gelten.

Ich galub auch die Aussage


Solange Du noch nicht krank bist, tu alles, um Dein Gewicht optimal zu halten. Wenn Du aber erstmal Deine chronische Krankheit hast, lebst Du länger, wenn Du richtig fett bist

ist so nicht ganz richtig, wenn ich mich recht entsinne, ging es eher darum, das man wenn man kardiovaskulär erkrankt der Outcome unabhängig davon sein soll, ob bei bestehnder Adipositas Gewicht reduziert wird oder nicht, nicht daß der Pat. dann noch zunehmen soll.

Dazu gabs vor längerem schon mal einen Artikel im Ärztblatt, den finde ich aber gerade auf die Schnelle nicht....

Edith hat bösen Typo korrigiert.

Antracis
07.11.2008, 10:18
Die verlinkten Artikel sind einige von denen, die diese Aussage stützen. Wie gesagt habe ich einige neue Studien im Rahmen einer Fortbildung der Charite Berlin vorgestellt bekommen, die das "Obesity Paradox" stützten. Das Stichwort ist natürlich die kardiale Kachexie, wobei man davon ausgeht, das hier einfach andere metabolische Gesetze herschen.


Hypnose-koete schrieb
Vorstellen, das ein moderates(!) Übergewicht als metabolische Reserve im Erkrankungsfall besser ist als eine Kachexie kann ich mir schon aber das wird vermutlich auch nur bis zu einem gewissen Grad gelten.

Die Daten sahen ungefähr so aus, dass Patienten bis zu einem BMI von 35 eine signifikant höhere Überlebensrate hatten, als beispielsweise Patienten Patienten mit BMI 22-25. Höhere BMIs waren nicht aussagekräftig erfasst, allerdings meinte der Referent auch, dass man das sicher nicht linear weiterdenken dürfe.

Interessant ist diese Folie, die von der entsprechenden Arbeitsgruppe stammt, die fasst das Paradoxon ganz gut zusammen, ist aber schon älter:

http://www.knhi.de/Kompetenznetz/Veranstaltungen/Kardiologischer_Mittwoch/2003/KM200307.pdf

Allerdings sind da keine neueren Studien verlinkt, weil das ja ein älteres pdf ist. Allerdings war das entsprechende Fazit ähnlich, nämlich das


6) Niedriges Cholesterol und erhöhte Harnsäure sind Marker für erhöhte Mortalität bei herzinsuffizienten Patienten.
7) Adipositas : Bei Patienten mit fortgeschrittener chronischer Herzinsuffizienz:
• besteht eine Verschiebung des optimalen Gewichts nach oben im Vergleich zu Herzgesunden;
• ist Adipositas nicht assoziiert mit erhöhter Mortalität;
• gibt es keine Evidenz, dass Gewichtsverlust angeraten werden sollte.




Hypnose-kroete
...ist so nicht ganz richtig, wenn ich mich recht entsinne, ging es eher darum, das man wenn man kardiovaskulär erkrankt der Outcome unabhängig davon sein soll, ob bei bestehnder Adipositas Gewicht reduziert wird oder nicht, nicht daß der Pat. dann noch zunehmen soll.

Für die Gewichtszunahme gab es keine Daten, allerdings eine deutliche Datenlage dafür, dass die Patienten mit BMI > 30 halt die besseren Überlebensraten hatten. Das Gewicht spielte also sehr wohl eine Rolle, aber in "paradoxer Richtung".
Wichtig ist halt auch einfach, das sich die kardiale Kachexie sich jetzt nicht auf total ausgemergelte Patienten bezieht, sondern dass die BMIs der entsprechenden Patienten durchaus im oberen Normalbereich liegen können, also so um die 25.
Wenn ich am WE Zeit hab, werd ich mal schauen, ob ich einige von den besprochenen Studien finde.

Aber wie gesagt, ich will diese Thesen auch nicht überzeugt verteidigen, sondern nur erstmal zur Diskussion stellen. ;-)


Gruß
Anti

Antracis
14.11.2008, 09:12
Hab hier nochmal einen Artikel über den Vortrag von Herrn Doehner gefunden.

http://www.medical-tribune.at/dynasite.cfm?dssid=4170&dsmid=65229&dspaid=733503

Da sind zumindest viele der Studien erwähnt, auf die er sich bezieht. Wer interessiert ist, kann da also nochmal nachspüren.
Wichtig ist wie gesagt, dass es in allen Studien nur um definierte Endpunkte ging, also meist die Mortalität gemessen wurde. Auch, wenn das nun ein wichtiger Faktor ist, bleibt natürlich doch einiges unberücksichtigt. So bleibt natürlich bei erhöhten Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit für weitere kardivaskuläre Ereignisse erhöht, auch wenn sich das offensichtlich nicht auf die Lebenswartung auswirkt. Inwieweit aber ggf. die Lebensqualität nach wiederholtem Infarkt oder Apoplex absinkt, und wie das in einem Vergleich zum quantitativem Wert der Lebensverlängerung im Verhältnis steht, wäre interessant.
Weiterhin sind ja orthopädische Probleme, die im Alter eine wichtige Rolle spielen und mit einem hohen BMI korrelieren, nicht berücksichtigt.

Gruß
Anti

nevenchi
24.04.2009, 12:41
Hallo Anti,

ist jetzt vielleicht nicht der ideale Zeitpunkt, ich weiß :-)), deshalb erstmal nur eine kurze Antwort, falls Dich das weiter interessiert, kann ich ja später mal mehr schreiben.

Jedenfalls, je adipöser, desto gringer der Sympatikotonus.

Übrigens Paradoxe find ich super, dann ist man der Wahrheit sehr nah...