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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Alternativ geht fast nichts schief - die sogenannte Alltagskreativität



luckyblue
17.11.2002, 20:50
Sorry :-blush der Beitrag wird ein bisschen länger!

"Jetzt sei doch mal kreativ"
Der Satz von der Kreativität im Alltag erinnert mich immer an die "Philosophie des lateralen Denkens", begründet vom Kreativitätsforscher Edward de Bono. Dieser meint:

"Es ist nicht möglich, ein Loch an einen anderen Ort zu verlegen, indem man tiefer gräbt." D. h., man muss den einmal eingeschlagenen Weg nicht geduldig und unbeirrt weiterverfolgen, sondern irgendwo anders einen neuen Ansatz finden. Dies ist allerdings manchmal gar nicht so leicht, wie ein Beispiel verdeutlicht:

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Vor langer, langer Zeit, als man in England noch in den Schuldturm geworfen wurde, wenn man seine Rückstände nicht begleichen konnte, lebte in London ein Kaufmann, der, um seine nicht gerade rosigen Geschäfte in ein ruhigeres Fahrwasser zu bugsieren, einen Kredit nach dem anderen aufnahm. Doch die Talfahrt ging weiter, und der Engrossist trieb in atemberaubender Geschwindigkeit auf den Sturzbach, auf den Konkurs, zu. Als sein Gläubiger ihn irgendwann schließlich zur Kasse bat, stand ihm das Wasser dann auch bis zum Hals, und er fand keinen rettenden Baumstamm, an dem er sich hätte herausziehen können. Doch der Kreditor, ach, britische Noblesse, bot dem Heringsbändiger einen Kuhhandel an: Er erließe ihm die Schulden (und damit entfiele natürlich die Gefangenschaft), wenn er die adrette Tochter des Kaufmanns als Betthupferl bekäme: steiler Zahn contra Turm.

Allein der Gedanke war Vater und Tochter ein Alpdruck. Doch der durchtriebene Kredithai zeigte, o stille Größe, edle Einfalt, sich verständig und schlug vor, die Angelegenheit in Fortunas Hände zu legen: Er erklärte seinen Verhandlungspartnern, er stecke einen schwarzen und einen weißen Kieselstein von dem Kiesweg, auf dem sie gerade standen, in seinen (leeren) Geldbeutel, und dann solle das Mädchen einen der Steine herausfischen. Erwische sie den schwarzen - werde sie seine Gattin und dem Vater die Schuld erlassen. Erwische sie jedoch den weißen, bleibe sie unbehelligt bei ihrem Vater, und der Schuldschein sei obendrein vergessen. Allerdings, so fügte er noch hinzu, dürfe sie sich nicht weigern, einen Stein aus dem Beutel zu nehmen - sonst werde ihr Vater auf der Stelle in den Schuldturm geworfen und der Hungertod sei ihr sicher.

Den beiden blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen. So standen sie also im Garten des Wucherers auf dem kiesbestreuten Weg, und der Gläubiger bückte sich, um die zwei Kiesel aufzuheben. Da Angst aber die Sinneswahrnehmung schärft, bekam das Mädchen sehr wohl mit, dass er, der alte Wurm, zwei schwarze Steine anstatt eines schwarzen und eines weißen in den Geldbeutel legte. Und dann forderte er sie lächelnd auf, jenen Stein herauszunehmen, der ihr und ihres Vaters Schicksal bestimmen sollte.

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Ein abgekartetes Spiel. Wie soll das Mädchen aus dieser Sackgasse herausfinden? Nach "vertikalem Denkmuster" (also das Loch tiefer bohren) bieten sich folgende Auswege an:

Lieber Femme fatale als Lamm total – der Wildfang verweigert seine Teilnahme an diesem makabren Spiel; mit dem Ergebnis, dass ihr Haushaltungsvorstand in Knastologie promoviert und ihr das Auge bricht.
Biene sticht Schweinehund – Miss 0,7-Verhältnis-Taille-Hüfte entlarvt den Methusalem-Playboy, reibt ihm seinen miesen Charakter unter die Nase (und kratzt ihm die Augen aus); auch das kann nur ins Auge gehen. Tja, eine Biene kann nur einmal stechen ...
Gewonnene Schuld statt zerronnene Unschuld – das Teenie-Vamp beißt dem Steinzeit-Adonis die Kehle durch, nimmt ihren Paps huckepack, springt mit ihm in die Temse, schwimmt nach Grönland und gründet ein neues Rom.
Kapitulation (und Kopulation) – das Busenwunder lässt sich über den Tisch ziehen und aufs Kreuz legen, als hätte sie nicht geschnallt, das ihr der bucklige Alte ein X für ein U vormacht, d. h. sie geht auf die Judastour ein und springt mit dem Lustgreis in die Kiste (sie kann sich ja später, wenn dem Zausel die Uhr abgelaufen ist, immer noch revangieren) – ihrem Daddy erspart sie aber die leidige Tütenkleberei.

Alle diese "Auswege" sind nur Holzwege, die mit Sicherheit nur in eine sehr, sehr ungemütliche Situation führen. Dem "vertikalen Denker" geht, so de Bono, schnell die Puste aus, weil er sich nur darauf konzentriert, was unmittelbar von ihm verlangt wird, weil er sich nur mit der Tatsache befasst, dass das Mädchen einen der Steine nehmen muss. "Laterale Denker" (also jene, die daran denken, ganz woanders mal zu graben) fokussieren ihre Gedanken zum Beispiel auf den Stein, der im Geldbeutel verbleibt.
Wie löst die Wuchtbrumme den gordischen Knoten? Wie macht sie den Glöckner-von-Notre-Dame-Verschnitt zur Krücke? Ist sie mit dem Rüstzeug lateralen Denkens bestückt?

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Die Beauty fährt tatsächlich mit den Griffeln in den Geldsack und fingert`ne Klamotte raus. Doch in vorgeschützter Aufregung lässt sie den Kiesel - o Schreck, shit happens - ganz zufällig - wer hätte das auch vorhersehen können - aus der Hand fallen, bevor noch irgendjemand die Physiognomie des quarzreichen Gesteins in Augenschein nehmen kann. Einen Kieselstein in einem Kiesweg wiederzufinden dürfte aber von ähnlichem Erfolg gekrönt sein, wie die Stecknadel im Heuhaufen zu suchen. Doch Jungfer Naseweis meint, das sei ja kein großes Malheur und man brauche jetzt nicht den ganzen Kiesweg auf den Kopf zu stellen. Denn in der Geldbörse sei ja noch ein zweiter, und der werde ihnen Auskunft über die Farbe des verlorengegangenen Steines geben: Wenn ein schwarzer Stein zurückgeblieben sei, habe sie also unweigerlich den weißen ans Tageslicht befördert ...

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Man muss de Bonos Erzählung jetzt nicht unbedingt weiterverfolgen, aber das Mädchen hat zweifellos das Spiel mit den gezinkten Karten, das von seinen Regeln her als unfehlbar erschien, auf legitime Art verändert und für sich entschieden. Das Girlie hat sich bemüht, ein anderes Schachbrett zu kreieren, hat sich bemüht, eine Alternative zu finden. Eine Alternative, die das vernünftige Kalkül nicht bereithält. Genau hier sieht der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick den Ausweg für manche innerpsychische Kalamität: "Die Leidenden (seien es nun Einzelmenschen, Paare, Familien oder noch größere menschliche Systeme wie zum Beispiel Nationen) sind in ihrem eigenen Weltbild gefangen; sie spielen, was wir in der Kommunikationsforschung ein Spiel ohne Ende nennen, das heißt ein Spiel, das keine Regeln für die Änderung seiner Regeln oder für seine Beendigung hat; ein Spiel, dessen erste Regel – in Allan Watts Worten – lautet: dies ist kein Spiel, dies ist todernst."
Diese Gefangenheit im eigenen Weltbild führt denn auch dazu, dass sich die meisten Menschen angesichts eines Problemes wie eine hungrige Henne verhalten, die hinter einem zehn Meter langen Maschendrahtzaun einen Körnerhaufen entdeckt hat – sie rennt aufgeregt vor dem Zaun hin und her und nur so weit nach links und nach rechts, wie sie dabei die Nahrung im Auge behalten kann. So bringt sie sich durch ihre verbissene Fixierung auf das Ziel selbst um die Chance, das Hindernis an seinen äußeren Enden zu umgehen.

Aber hat das Ganze was mit Kreativität zu tun? Ein kategorisches Jein. Wie jurij schon monierte: Der Begriff ist ein wenig "ausgelutscht". Ich meine, man sollte Kreativität nicht mit Produktivität oder Toughness (gibt's das Wort?) verwechseln und diesen Begriff für besondere Leistungen vorbehalten.

cu, luckyblue

aione
17.11.2002, 22:54
Hi Luckyblue,
nun weiß ich es, Du bist ein Mann ;-) !!

Wer sonst würde so viele ( fast zu viele..) Synonyma für das schlichte Wort "Frau" finden können ;-))

Ich möchte Dir übrigens noch für deine wirklich lehrreiche Erläuterung der Versmaße meines Gedichtes danken ( ich könnte mich, auch wenn ich wollte, nicht mehr daran erinnern, obwohl ich das auch alles mal gelernt habe. Nur der gute alte Jambus, der war mir doch noch vertraut) !

Und nun noch kurz zu Deinem Text: Du hast wirklich eine wunderbar sarkastische Sprache und auch inhaltlich finde ich den Text ziemlich gelungen, auch wenn es einige Stellen gibt, die mir zu überspitzt und überladen sind. Aber dennoch: toll geschrieben ( aber das weißt Du auch, wenn Du weißt, was ich meine- klingt irgendwie durch ;-) )

Ich freue mich auf weitere Texte von Dir, wird sicher lesenswert!

Viele Grüße, aione :-top

luckyblue
17.11.2002, 23:43
Original geschrieben von aione
Hi Luckyblue,
nun weiß ich es, Du bist ein Mann ;-) !!

Wer sonst würde so viele ( fast zu viele..) Synonyma für das schlichte Wort "Frau" finden können ;-))


Shit, habe ich mich selbst entlarvt :-sleppy

Für den Beitrag habe ich übrigens einen alten Schulaufsatz reanimiert. Mittlerweile schlage ich doch meistens einen etwas gemäßigteren Ton an. Man wird ja auch älter.

cu, luckyblue