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Sprawl
28.05.2009, 10:21
Hallo!

Ich habe mich kürzlich, aber in oberflächlicher Weise, über das Thema Antipsychiatrie belesen. Dabei kamen mir ein paar Fragen in den Sinn, von denen ich mir erhoffe, dass sie hier beantwortet werden können. :)


Die Diagnose psychischer Krankheiten sei primär das Produkt sozialer, politischer und juristischer Prozesse und damit historisch bedingt.
So lautet eine These der antipsychiatrischen Bewegung. Ich habe mich gefragt, wie relevant diese These heute noch ist. Inwieweit kann sich die Psychiatrie gegen diese These wehren?


Ein Verhalten, das in dem einen Kulturkreis völlig akzeptabel ist, wird in einem anderen als hochgradig deviant angesehen. Thomas Szasz war einer der ersten Psychiater, die die entschiedende Frage stellten: "Wer definiert die Normen und somit auch die Abweichung?" [...] Daher sollten wir uns immer bewußt sein, daß jede Diagnose, ob nun formell oder informell, in einen sozialen Kontext gestellt wird und in der Regel die Werte und Normen einer Gesellschaft widerspiegelt.
(Anschließend wurde auf die Geschichte in Form von Homosexualität als psychische Erkrankung hingewiesen und darauf, dass eine Veränderung der Diagnostik auf Abstimmungen eines geschlossenen Komitees beruht (aber nicht genannt wurde auf welchem))


Jede Gesellschaft, die bereit ist Abweichende als Abnormale hinzustellen, sollte erkennen, daß diagnostische Urteile immer auch Werturteile sind.

Als Beispiele sind mir dazu die histrionische Persönlichkeitsstörung und BPS eingefallen (ich betrachte die beiden Zitate im Zusammenhang). Erstere, vermute ich mal laienhaft, wird zum Beispiel in China eher diagnostiziert als in Europa, da ich vermute, dass ein egozentrisches, theatralisches Verhalten in Europa anerkannter und tolerierter (und somit subtiler) ist als in einem eher konservativem Land wie China?
Eher auf die Thesen eingehend, kam mir BPS in den Sinn: Wenn das Hörensagen um die häufige Diagnose BPS stimmt, stellt sich die Frage, inwieweit BPS mit unserer Sicht auf die Gesellschaft zusammenhängt.

Eine weitere interessante These ist auch diese:


Gesellschaften, die ihren Mitgliedern eine größere Bandbreite an harmlosem Verhalten zugestehen (das heißt ein Verhalten, welches Sicherheit und Wohlbefinden anderer nicht gefährdet), sind wahrscheinlich gesünder und anpassungsfähiger.
Was sagt die Fachschaft dazu?


Anschließend wurde die Qualität der Diagnostik diskutiert. Dabei wurden die Reliabilität und Validität von Diagnosen kritisiert: Die Realiabilität sei kaum gegeben, da es wenig Übereinstimmungen in den Diagnosen gebe (Statistiken von 1962 für DSM-I wurden angegeben). DSM-II zeige zwar eine Verbesserung, erfülle aber nicht die Wünsche. Für die Validität entsprachen, laut Bourne und Ekstrand, DSM-I und DSM-II den Anforderungen nur wenig. Eine Prognose des Verhalten sei nur in wenigen Fällen gegeben. Schließlich wurde der Nutzen der Differenzierung zwischen den Kategorien angesprochen. Der Umfang der Therapien wurde in kritischem Ton abschließend dargestellt, aber nicht weiter diskutiert.
(Sollten Fragen zum originalen Text auftauchen, kann ich ihn auch gerne abtippen und hier einstellen. Aber ich habe mir vorerst die Arbeit erspart, da ich denke, dass es nicht zwangsweise direkt zum Thema gehört, es aber etwas anschärft ^^)

Mit diesen Informationen (oder eher Anregungen) erhalten die oberen Aussagen einen noch bittereren Beigeschmack. Da die Statisken aber Asbach uralt sind und es sicherlich Kritik an diesen Thesen und schlaue Antworten auf meine Fragen gibt, sei der Thread nun für eine Diskussion eröffnet. :)

Antracis
28.05.2009, 10:55
Hallo!

Ich habe mich kürzlich, aber in oberflächlicher Weise, über das Thema Antipsychiatrie belesen. Dabei kamen mir ein paar Fragen in den Sinn, von denen ich mir erhoffe, dass sie hier beantwortet werden können. :)




Das Problem ist, dass man erstmal klären müßte, was genau "Antipsychiatrie" ist. Insgesamt die Kritik an der Psychiatrie ? Eine bestimmte Bewegung der 70er Jahre, die medizinhistorisch untrennbar mit den politischen Ereignissen dieser Zeit verbunden ist ? Die Gesamtheit der aktuellen Antipsychiatriebewegung in Deutschland, oder spezielle, von federführenden Persönlichkeiten nicht zu trennende Gruppierungen ? Nicht zuletzt Scientology, der ich derzeit den medienwirksamsten Status einräumen würde. Es ist schier unglaublich, hinter welchen antipychiatrischen Projekten sich überall Verbindungen zu dieser Organisation ziehen lassen.


Ich habe mich letztlich berufsbedingt damit sehr intensiv beschäftigt und kann nur sagen, dass zum Beispiel einige Schriften von Laing durchaus lesenswert sind und zum Nachdenken anregen. Letztlich sind aber die radikalen Projekte, die aus diesen Ansätzen hervorgegangen sind, alle gescheitert. Wie ich auch den aktuellen Ansätzen, die sowohl komplett auf Psychopharmaka wie auch auf "Pathologisierung" verzichten wollen, einfach keine Zukunft einräume.

Was ich damit sagen will: Die Weiterentwicklung der Psychiatrie, die natürlich nur durch eine permanente Infragestellung ihrer Methoden möglich war und ist: Das ist eine wertvolle Sache.
Antipsychiatrie aber als Ideologie erinnert mich fatal an gewisse wirtschaftswissenschaftliche Idiologien, die zwar sehr menschenfreundlich klingen, aber der Welt letztlich bisher nur Unglück brachten.
Da werden einfach keine praxistauglichen Antworten auf reale Probleme gefunden. Und so ist es auch mit dem, was ich unter einer, primär ideologisch geprägten Antipsychiatrie verstehe.
Wenn man deren Vorstellungen folgen würde, und plötzlich Zwangseinweisungen/Zwangsbehandlungen, EKT, Psychopharmaka und letztlich Diagnosen und die Psychiatrie ingesamt verbieten würde: Am meisten würden die Kranken darunter leider.

Abschließend ein persönliches Beispiel: Ich durfte mir neulich von einem "Antipsychiater" vorwerfen lassen, dass ich, wenn ich einen Menschen mit einer akuten psychotischen Episode bei Schizophrenie behandele, ich damit das "aktive Ausleben seiner einzigartigen kreativen Begabungen" unterdrücke.
Wenn man jemals einen zutiefst verängstigten, hochgradig suizidgefährdeten jungen Menschen in einer Notaufnahme fixieren mußte, wird man wissen, wie weit diese Träumereien an der Realität vorbeigehen.

So etwas steht bei mir auf der selben Ebene, wie beispielsweise Impfgegner, die glauben, dass ein Kind nicht gegen Masern geimpft werden darf, weil diese Erkrankung wichtig für seine Persönlichkeitsentwicklung sei. Darüber könnte man aus meiner Sicht nur lachen, wenn nicht immer wieder Kinder an einer Masernenzephalitis sterben müßten.

Aber wie es natürlich Gründe gibt, Impfemfehlungen kritisch zu hinterfragen, gibt es auch Gründe, Diagnosen und Therapien der Psychiatrie zu hinterfragen. Das subsummiere ich aber nicht unter dem Begriff "Antipsychiatrie" , sondern unter dem Begriff Medizin. ;-)

lg
Anti

Muriel
28.05.2009, 11:02
Antipsychiatrie aber als Ideologie erinnert mich fatal an gewisse wirtschaftswissenschaftliche Idiologien, die zwar sehr menschenfreundlich klingen, aber der Welt letztlich bisher nur Unglück brachten.

Worauf beziehst Du Dich hier? Stichwort Kommunismus?
Interessantes Thema, wusste bisher nicht einmal, dass es da ganze Bewegungen gibt. Dass es Kritik an psychiatrischen Therapien/Anschauungen etc gibt, klar, aber in dieser Breite war mir das bisher unbekannt.

Antracis
28.05.2009, 11:34
Worauf beziehst Du Dich hier? Stichwort Kommunismus?


Kommunismus ist ja auch ein weites Feld, aber ich hatte tatsächlich etwas aus dieser Richtung im Sinn. Allerdings ist es wohl auch nicht schwer, diese Aussagen aktuell auf den Kapitalismus zu münzen. :-))

Zu den "Bewegungen" ließe sich wirklich vieles schreiben. Die radikalsten, "politischen" Strebungen sind sicher in der Antipsychiatrie der Jahre 1965 bis 1975 zu sehen, die untrennbar mit der "Studentenbewegung" dieser Zeit verbunden ist. Letztlich ist das aber ein zeitlich begrenztes Phänomen gewesen, ohne das aber andererseits die radikalen Impulse der folgenden Jahre nicht denkbar gewesen wären. Gleichwohl muß man feststellen, das die essentielle Grundlage für den wichtigen "Systemwechsel" von großen "Anstalten" außerhalb der Städte zur gemeindenahen Versorgung in normalen Krankenhäusern die Antipsychiotika waren, die ab 1952 nach und nach zur Verfügung standen. (Haloperidol 1958, Clozapin kam schon 1966!)
Man muss es sich auch wirklich so vorstellen, dass damals durchaus junge Assistenzärzte frisch von der Uni in die Psychiatrie kamen, die wesentliche Stützen der Studentenbewegungen waren und nun den Laden kräftig aufmischten.
Aber das ist wie gesagt ein abgeschlossenes Kapitel, wie auch in Amerika einige Stützen der Bewegung, nachdem ihre groß angelegten Alternativprojekte gescheitert waren, letztlich dann eine psychotherapeuthische Praxis eröffneten und in der Versenkung verschwanden.

Aktuell ist in Deutschland sicher Scientology der plakativste Psychiatriekritiker. Derzeit sieht man auch oft Plakate, wo eine blutgetränkte Arztliege mit Fixierungsschnallen abgebildet ist, Werbung für die Ausstellung "Psychiatrie: Tod statt Hilfe". Auch das ist Scientology.
Federführend ist in Deutschland sonst auch noch Peter Lehmann, der sogar einen eigenen Verlag betreibt. Letztlich ist aber diese Bewegung wie gesagt ein recht stilisiertes Phänomen, wenn man auf der anderen Seite den Grad der Etablierung vergleicht, den die Psychiatrie mittlerweile in der breiten Bevölkerung und sogar manchmal auch unter ärztlichen Kollegen findet. ;-)

Das größte Problem ist aus meiner Sicht einfach die Tatsache, dass psychische Erkrankungen immer noch oft ein Tabuthema sind und die Informationen vielfach aus untauglichen Quellen stammen. Ganz ehrlich: Woher bezieht der Durchschnittsbürger sein Wissen über Psychoanalyse ? Richtig, amerikanische Fernsehserien. Und woher weiß er etwas über EKT (Elektrokonvulsionstherapie) ? Genau, er hat "Einer flog über das Kuckucksnest gesehen". Das sind halt nicht immer ideale Voraussetzungen, aber immerhin tut sich langsam etwas. Gerade beim Thema Depressionen hat sich die Bevölkerung schon geöffnet und irgendwann wird man wohl auch mit Schizophrenien nicht mehr so große Geheimniskrämerei betreiben.

Abschließend eine wahre Anekdote: Nach der Erstausstrahlung von "Einer flog über das Kuckkucksnest" gab es eine offizielle Eil-Anfrage des Berliner Abgeordneten-Hauses an die Universitätspsychiatrie in Berlin, ob man solche Methoden etwa noch in Berlin einsetzen würde mit bitte um schnelle Antwort.
Nur, um sich einfach mal klarzumachen, wie so der Informationsfluss funktioniert.

lg
Anti

Sprawl
28.05.2009, 12:44
@Antracis: Und wie antwortest du auf die Thesen der Antipsychiater (ob einzelne oder Organisationen)? Denn unabhängig von ihrer Ideologie und ihren Plänen haben ihre Fragen und Vorstellungen, in isolierter Betrachtung, durchaus Geltung. Einfache Gegenbeispiele sind keine gute argumentative Ausgangslage, um deren Einwände abzuschmettern. Es sollte also wissensschaftliche Argumente geben, die ihre Argumente derart erschüttern, dass ihnen kein Glauben mehr geschenkt werden kann (und ich denke, die gibt es, sonst hätten sich wohl zwei medizinische Klassen auf dem psychiatrischen Gebiet entwickelt).
Natürlicherweise sind die Argumente der Antipsychiater so aufgezogen, dass sie auch für den Laien einleuchtend klingen. Da ich der Bewegung und den Argumenten aber skeptisch gegenüberstehe, versuche ich meine Skepsis durch Gegenargumente zu bestätigen.

Coxy-Baby
28.05.2009, 13:05
Thesen der Antipsychiater

Was ist denn bitte schön ein Antipsychiater?? Oder meinst du damit einen Philosophen,Soziologen.... mit einer antipsychiatrischen Einstellung??

papiertiger
28.05.2009, 13:12
das is sowas ähnliches wie ein Antichrist *duck und weg*

Sprawl
28.05.2009, 13:32
Was ist denn bitte schön ein Antipsychiater?? Oder meinst du damit einen Philosophen,Soziologen.... mit einer antipsychiatrischen Einstellung??
Ich denke, es ist sprachlich einfacher, diesen Term zu benutzen.
Aber trollige Frage. ^^

Antracis
28.05.2009, 13:40
Was ist denn bitte schön ein Antipsychiater?? Oder meinst du damit einen Philosophen,Soziologen.... mit einer antipsychiatrischen Einstellung??

Ich hielt das in der Tat für ein nicht unwitziges Wortspiel, und mit Anführungsstrichen wäre es ja nicht mehr so lustig gewesen. Aber in der Tat kann man das Missverstehen. Es handelte sich beispielsweise also in der Tat um eine Person, die keinen medizinischen oder psychotherapeutischen Beruf hat, sondern ehrenamtlich in einer Vereinigung tätig ist, die sich zur Aufgabe gestellt hat, die Psychiatrie aus der Welt zu schaffen.

Gruß
Anti

Coxy-Baby
28.05.2009, 14:01
Ich denke, es ist sprachlich einfacher, diesen Term zu benutzen.
Aber trollige Frage. ^^

Nein ist nicht sprachlich einfacher sondern verwirrt mehr, da du damit den Leuten eine ärztliche Ausbildung zuschummelst, aber was weißt du schon von ärztlicher Ausbildung ;-)

@Antracis: THNX.

Sprawl
28.05.2009, 14:34
Nein ist nicht sprachlich einfacher sondern verwirrt mehr, da du damit den Leuten eine ärztliche Ausbildung zuschummelst, aber was weißt du schon von ärztlicher Ausbildung
Erstens gab es in der antipsychiatrischen Bewegung durchaus Psychiater, wie Ronald D. Laing, sodass nicht zwangsweise mit dem Begriff eine ärztliche Ausbildung vorgegaukelt wird. Dass das die überwiegende Anzahl derjenigen betrifft, die sich in diese Bewegung einordnet, will ich damit aber nicht betonen.

Zweitens ist es sprachlich sehr wohl einfacher einen thematisch naheliegenden Begriff als Überbegriff für eine Bewegung zu benutzen, die viele verschiedene Typen von Fachrichtungen vereint. Stets zu betonen, dass eine Bewegung gemeint ist, die eine antipsychiatrische Meinung vertritt, zieht möglicherweise einen Text, der eigentlich aufklären will, wie einen Kaugummi in die Länge und mündet möglicherweise am Ende in Unverständnis. Wenn der eine vom Soziologen spricht, ist für den anderen nicht zwangsweise unmittelbar klar, dass dieser mit der antipsychiatrischen Bewegung assoziiert ist.

Ich habe diesen Begriff nicht weiter definiert, weil es ohne viel Aufwand müßig ist, wie bereits erwähnt, eine klare Abgrenzung zu schaffen. Aber ich habe darauf vertraut, dass die Absicht meiner Postings klar wird: Es geht nicht um die Bewegung an sich (und deshalb auch nicht um die Abrenzung von Begrifflichkeiten), es geht um die Fragen, die diese Bewegung gestellt hat. Eine Diskussion um die Begrifflichkeit ist, so denke ich, in diesem Thread fehl am Platze. Die Diskussion um Inhalte aber steckt noch in den Startlöchern. ;-)

Aber um es letztendlich zu klären: Antipsychiater bilden, zumindest nach meinem Kenntnissstand, keine ärztliche Fachschaft (aber was weiß ich schon von ärztlicher Ausbildung :-))). Es ist lediglich ein Begriff, der in diesem Thread dazu dienen soll, diejenigen Personen, die sich der Bewegung, die eine gegen die Psychiatrie im allgemeinen gerichtete Meinung vertritt, angeschlossen haben, übergeordnet zusammenzufassen. Damit sind nicht konkret einzelne Personen oder Organisationen gemeint.
Der Begriff hat keinen wissenschaftlichen Anspruch und existiert vor allem aufgrund des Ausdrucks, denn überflüssige Hypotaxen nerven und verwirren.

Hoffentlich konnte ich die Gemüter etwas beruhigen. :)

Edit: So, ich habe die Abgrenzung noch etwas deutlicher formuliert. Ich hoffe jetzt gibts endlich Budda bei de Fische...

Evil
28.05.2009, 15:50
Das klingt ja schwer nach Ideologie mit Hang zum Fanatismus, im Falle von Scientology noch gemischt mit monetären Interessen.
Die Erfahrung zeigt leider, daß eine sachliche Diskussion mit solchen Leuten nicht möglich ist.

Erinnert mich an die Impfgegner, selbes Spielchen.
Und leider auch absolut kontraproduktiv, wenn es darum geht, tatsächliche Schwächen auszumachen und zu beheben.

Antracis
28.05.2009, 15:51
Und wie antwortest du auf die Thesen der Antipsychiater (ob einzelne oder Organisationen)? Denn unabhängig von ihrer Ideologie und ihren Plänen haben ihre Fragen und Vorstellungen, in isolierter Betrachtung, durchaus Geltung. Einfache Gegenbeispiele sind keine gute argumentative Ausgangslage, um deren Einwände abzuschmettern. Es sollte also wissensschaftliche Argumente geben, die ihre Argumente derart erschüttern, dass ihnen kein Glauben mehr geschenkt werden kann

Es ist in der Tat nicht so einfach, ich versuche einmal, das Problem zu erläutern:

Der Kern des Problems ist doch nicht die Psychiatrie in Ihrer Gesamtheit, sondern es geht um zwei Phänomene innerhalb der Psychiatrie: Das erste sind die Zwangsmaßnahmen, das andere ist das Stigma der Diagnose "Psychische Krankheit". Das es eine Verbindung zwischen diesen beiden Punkten gibt, sollte einleuchten.
Nehmen wir Krankheiten, wie Angststörungen. Glaubst Du wirklich, dass sich die Antipsychiatrie darum kümmert ? Oder Zwänge ? Oder Depressionen ? Letztere vielleicht, wenn es um Suizidalität geht und daraus resultierende Zwangsmaßnahmen. Aber diese Zwangsmaßnahmen und die aus Diagnosen resultierenden Stigmatisierungen sind die eigentlichen Probleme.

Letztlich ist da trotz aller antipsychiatrischen Argumente der junge Mann, der sich von Außerirdischen verfolgt wähnt und aus dem Fenster springen will. Oder zu verhungern droht, weil er nicht mehr isst aus Angst, vergiftet zu werden. Oder da ist die junge Frau, die sich mal wieder wegen unerträglicher Spannungszustände die Unterarme geritzt hat.
Die Psychiatrie hat diese Tatsachen nicht erfunden, sondern beschrieben und versucht nun, Lösungswege dafür zu finden. Dabei hat sie bisher keine Lösungen finden können, ohne die Betroffenen in Schubladen zu stecken, ohne sie massiven Medikamentnebenwirkungen auszusetzen und in vielen Fällen auch, nicht ohne zumindest kurzzeitig, gegen deren Willen zu behandeln und somit drastisch in die Menschenrechte der Patienten einzugreifen.

Die "klassische" Antipsychiatrie, also Laing und Konsorten, haben einfach die These aufgestellt, dass es so nicht weitergehen kann, darf und muss und alternative Problemlösungen ausprobiert. Keine Schubladen mehr, keine Medikamente, keine Zwangsmaßnahmen. Das ist auch gut vor dem gesellschaftlichem Hintergrund dieser Zeit, also der 70er Jahre, verständlich. Diese Ansätze sind aber sämtlich gescheitert, und haben die Probleme nicht lösen können.
Die aktuelle Antipsychiatrie hingegen speist sich hingegen vor allem aus drei Motivationen: Einerseits (selten) der klassischen, also dass es doch anders gehen muss. Dann gibt es Scientology, über deren Motive sich jeder seine Gedanken machen sollte. Und letztlich handelt es sich auch um Betroffene, meist Opfer von Zwangsmaßnahmen.

Und das kann man nicht argumentativ lösen, weil man akademisch am Kern des Problems vorbei argumentiert. Es ist überhaupt kein Problem, nachzuweisen, dass die Diagnose eine BPS eine absolut willkürlich gezogene Abgrenzung gegenüber der Norm darstellt. Nur was zeigt das ? Das man keine Medikamente verschreiben darf ? Das die Kasse das nicht bezahlen muss ? Das sie gar nicht in ein Krankenhaus kommen darf, weil man sagt: Sie sind gesund!?
Oder wenn der Psychotiker nun stirbt, weil er nichts mehr essen will ? Weil man sagt: Das ist halt total normal, so etwas ? Bitteschön, aber das entscheidet dann kein antipsychiatrisches Tribunal, sondern unser Gesetzgeber.

Das ist jetzt vielleicht nicht die Antwort, die Du erwartet hast. Aber aus meiner Sicht ist das der Kern des Problems. Die Behandlungsmethoden und die Diagnoseschemata werden vom Fach selbst oft genug in Frage gestellt und geändert und brauchen natürlich auch die Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit. Aber letztlich ist die Psychiatrie eine Antwort auf praktische Problemstellungen und wer sie in Frage stellt, muß eine Alternative anbieten können - wenn denn diese Fragestellung auf die Existenzberechtigung abzielt.

Im Einzelfall kann man allerdings natürlich auch gut argumentieren. So steht die Beobachtung, dass es angeblich für keine psychische Erkrankung ein physisches Korrelat gäbe im Widerspruch dazu, dass andererseits sämtliche psychopathologischen Phänomene im Rahmen mit klar physiologisch greifbaren Krankheiten auftreten, sei es nun die depressive Episode bei Hypothyreose oder der Beziehungswahn bei einem Hirntumor. das ergibt mit der zulässigen These, dass wir schlicht einfach noch nicht die richtigen Untersuchungstechniken haben, zumindest ein argumentatives unentschieden.

Abschließend noch ein Beispiel aus der Diskussion mit der Vertreterin antipsychiatrischer Thesen: Sie warf mir vor, dass der schizophrene Patient, der Stimmen höre, letztlich nur eine außergewöhnliche Begabung hätte, die ich ihm mit antipsychotischer Behandlung wegnehmen würde. Das sei aus ihrer Sicht ein schwerer Eingriff in die Menschenwürde. Mein Argument, dass sich der Patient ja vor den Stimmen ängstige und deshalb Hilfe suche, konterte sie damit, dass die Angst nur dadurch entstünde, dass die Gesellschaft das Stimmenhören nicht als normal akzeptiere. Ich fragte sie nun, wie man das ändern könne. Die Antwort war: "Wenn die Psychiatrie erst besiegt ist, muss sich die Gesellschaft ändern".
Ich schilderte dann noch den Fall einer Patientin, die sich mit einem schweren Eisengegenstand Ihren Vaginalbereich mit mehreren Schlägen furchtbar verletzt hätte, um angeblichen Stromschlägen auf die Klitoris Einhalt zu gebieten und den jungen Psychotiker, der sich mit einer Bohrmaschine den Schädel angebohrt hatte. Sie warf mir Polemik vor und ich gab ihr Recht. Aber das ändert nichts daran, dass diese Fälle real sind und man dafür eine Lösung anbieten muss.

Gruß aus Bärlin
Anti

surfsmurf
28.05.2009, 16:53
Die Diagnose psychischer Krankheiten sei primär das Produkt sozialer, politischer und juristischer Prozesse und damit historisch bedingt. Die Klassifizierung von Individuen als psychisch krank und der jeweilige Umgang gründe in Prozeduren der Macht, insbesondere der Ausschließung und Verdrängung der als krank klassifizierten Subjekte aus dem gesellschaftlichen Diskurs. Medizin und Psychiatrie seien in diesem Sinne Instrumente, mit deren Hilfe die Ausgrenzung rationalisiert und wissenschaftlich legitimiert werde. Insbesondere durch Mechanismen der Naturalisierung erscheine „Krankheit“ fortan als ein unabhängig von sozialen Bedingungen und Zuschreibungen existierendes Faktum.

Ich denke, wir sind uns einig, dass Wissenschaft und damit auch Medizin konstantem Wandel unterworfen ist - was gut ist und schließlich ja für Wissensmehrung spricht. Daraus kann man der Psychiatrie aber keinen Strick drehen; zumal in den letzten Jahren ja die molekularen-pathologischen Korrelate von psychischen Krankheiten zunehmend entdeckt werden. Aus Irrungen der Vergangenheit allein kann man jedenfalls keine schlüssige Argumentation gegen heutige Zustände ableiten.

Natürlich sind psychiatrische Diagnosen historisch, soziologisch und kulturell bedingt - wie sollte es auch anders sein? Auch die sonstige Medizin, die Rechtswissenschaft und die übrige Wissenschaft sind solche Kontext-Produkte. Was die "Anti-Psychiatrie-Bewegung" leisten kann und auch teilweise geleistet hat, ist das Bewußtsein dafür zu schärfen, dass eine wie auch immer legitimierte Machtausübung gegenüber vermeintlich Schwächeren Anlass dazu geben sollte, vorsichtig, behutsam und gewissenhaft mit eben dieser Macht umzugehen. Eine persönliche Anmerkung: Tatsächlich waren alle Psychiater, die ich kennengelernt, sich dieser Verantwortung mehr als bewußt.

Das entwaffnendste Argument ist in meinen Augen die Frage nach der Alternative. Wie Antracis richtigerweise schrieb (sehr gute Posts, so nebenbei!), sind alle anderen Formen gescheitert. Deswegen ist meine Einstellung gegenüber der Psychiatrie die gleiche wie die gegenüber der Demokratie: Es ist nicht das Optimum, aber das Beste, was wir haben.

Muriel
28.05.2009, 16:56
...sehr gute Posts, so nebenbei!

Kann mich dieser Meinung nur anschließen!

Sprawl
28.05.2009, 19:04
Die Psychiatrie hat diese Tatsachen nicht erfunden, sondern beschrieben und versucht nun, Lösungswege dafür zu finden.
Ich denke, die antipsychiatrische Bewegung greift ethische und kulturelle Umstände an, unter der die Psychiatrie, als Gegenstand der Diskussion, leiden muss.

Und das kann man nicht argumentativ lösen, weil man akademisch am Kern des Problems vorbei argumentiert. Es ist überhaupt kein Problem, nachzuweisen, dass die Diagnose eine BPS eine absolut willkürlich gezogene Abgrenzung gegenüber der Norm darstellt. Nur was zeigt das ? Das man keine Medikamente verschreiben darf ? Das die Kasse das nicht bezahlen muss ? Das sie gar nicht in ein Krankenhaus kommen darf, weil man sagt: Sie sind gesund!?
Oder wenn der Psychotiker nun stirbt, weil er nichts mehr essen will ? Weil man sagt: Das ist halt total normal, so etwas ? Bitteschön, aber das entscheidet dann kein antipsychiatrisches Tribunal, sondern unser Gesetzgeber.
Aus antipsychiatrischen Sicht (zumindest, wie ich es verstanden habe), zeigt das, wie Normalität bewertet wird. Das wiederum ist ein Richtwert für das Verhalten eines Individuums und schließlich einer Gesellschaft. Diese Bewegung erfragt Grenzen in der Normalität menschlichen Handelns. Dabei ist die Differenzierung von einer einfachen bis zu schweren Einschätzung leicht zu skizzieren: Ist Suizid normales Verhalten? Aus medizinischer Sicht verwerflich, daher zu behandeln. Gehören Autoaggressionen in das Repertoire menschlischen Verhaltens? Auch das ist aus medizinischer Sicht verwerflich, also zu behandeln. Das sind leichte Einschätzung. Aber um so häufiger ein Verhalten wird, desto schwieriger ist die Differenzierung normal-unnormal. Ist Selbsthass zu behandeln oder noch normal? Ist starker Pessimismus zu behandeln oder noch normal? Narzissmus/Egozentrik? Aggression? Freude? Euphorie? Manie?
Soweit ich weiß, benutzt die Psychologie vor allem die Zeit, das heißt die Verweildauer eines Verhaltens, als Indikator für die Normalität jenes Verhaltens. Das Verfahren ist einleuchtend. Aber entscheidend ist die grundsätzliche Frage nach dem Repertoire menschlichen Verhaltens. Es gibt Symptome, die aufgrund ihrer schädigenden Wirkung, behandelt werden müssen. Ab wann sind aber "leichte" Symptome (i.S. von mit der Zeit induzierenden "schädlichen" Symptomen) zu behandeln und sind sie überhaupt zu behandeln? Das anhaltende verzerrte Denken des Depressiven beispielsweise ist ein Symptom seiner Krankheit und kann schließlich dazu führen, dass er Pläne einer Selbsttötung entwirft, die er, möglicherweise nachdem eine depressive Phase abklingt, umsetzen wird. Dabei taucht nun die Frage auf, wann die Psychiatrie eingreifen soll? Sollte man Vorsorgeuntersuchungen einführen, um zu sehen, ob jeder ein normales Verhalten aufzeigt? Muss er erst einen Suizidversuch hinter sich haben, sodass das Suizidverhalten, aber nicht der Pessismus behandelt wird? Wie intensiv muss die Behandlung eines Süchtigen sein? Muss er nur entwöhnt werden oder ist es auch nötig, dass er Arbeit findet?
Und neben der Frage, wann, ist entscheidend, was behandelt wird. Das verzerrte Denken besitzt möglicherweise langfristig schädliche Folgen. Aus welchem Grund wird es aber nun behandelt? Aufgrund der potentiellen Folgen oder deshalb, weil es existiert?
Gilt ersteres, so fragt sich, wie das verifizierbar ist? Statistik?
Gilt letzteres, so fragt sich, ob die Therapie nicht möglicherweise eine Kastration ist? Ist es nötig, verzerrtes Denken zu therapieren, weil es ein Kriterium der Diagnose ist?
Ich denke, die antipsychiatrische Bewegung stellt sich vor allem Fragen darüber, wie der Mensch sein soll und wodurch der Ist-Zustand bestimmt wird. Es sind keine praktischen, sondern philosophische Überlegungen, sondern, welche die Mechanismen unseres Verhalten prüfen.

Natürlich sind psychiatrische Diagnosen historisch, soziologisch und kulturell bedingt - wie sollte es auch anders sein? Auch die sonstige Medizin, die Rechtswissenschaft und die übrige Wissenschaft sind solche Kontext-Produkte. Was die "Anti-Psychiatrie-Bewegung" leisten kann und auch teilweise geleistet hat, ist das Bewußtsein dafür zu schärfen, dass eine wie auch immer legitimierte Machtausübung gegenüber vermeintlich Schwächeren Anlass dazu geben sollte, vorsichtig, behutsam und gewissenhaft mit eben dieser Macht umzugehen. Eine persönliche Anmerkung: Tatsächlich waren alle Psychiater, die ich kennengelernt, sich dieser Verantwortung mehr als bewußt.
Ich denke (bitte stets beachten, dass ich aus meinem Empfinden und meinen Eindrücken das Thema betrachte), dass die antipsychiatrische Bewegung in diesem Punkt ebenfalls einen anderen Ansatz verfolgt: Es geht dabei in erster Linie nicht um Verantwortung für die Entscheidung, sondern um die Methodik. Wie löst sich der Psychiater von dem Vorwurf aus sozialen, juristischen oder kulturellen Gründen entschieden zu haben? Der Mediziner schafft dies, indem er die Krankheitssymptome erkennt und behandelt. Täte er dies nicht, hätte dies unmittelbare Folgen. Der Psychiater mag eine Depression diagnostizieren, kann aber dadurch, dass er diese unbehandelt lässt, keine unmittelbaren Folgen "erzeugen". Die Symptome bleiben bestehen oder verschlimmern sich vielleicht, aber eine genaue Vorbestimmung (Prognose! Siehe Eingangsposting) ist (zumindest ohne Aufsicht) nicht möglich. Der Mediziner, der einem Diabetiker die Medikation verweigert, verursacht höchstwahrscheinlich einen baldigen(!) Tod.


Ich konnte diesen Post gedanklich nicht wirklich ausreifen, da ich mich aus Zeitgründen´kurz halten musste.

John Silver
28.05.2009, 21:04
Ich denke (bitte stets beachten, dass ich aus meinem Empfinden und meinen Eindrücken das Thema betrachte), dass die antipsychiatrische Bewegung in diesem Punkt ebenfalls einen anderen Ansatz verfolgt: Es geht dabei in erster Linie nicht um Verantwortung für die Entscheidung, sondern um die Methodik. Wie löst sich der Psychiater von dem Vorwurf aus sozialen, juristischen oder kulturellen Gründen entschieden zu haben? Der Mediziner schafft dies, indem er die Krankheitssymptome erkennt und behandelt. Täte er dies nicht, hätte dies unmittelbare Folgen. Der Psychiater mag eine Depression diagnostizieren, kann aber dadurch, dass er diese unbehandelt lässt, keine unmittelbaren Folgen "erzeugen". Die Symptome bleiben bestehen oder verschlimmern sich vielleicht, aber eine genaue Vorbestimmung (Prognose! Siehe Eingangsposting) ist (zumindest ohne Aufsicht) nicht möglich. Der Mediziner, der einem Diabetiker die Medikation verweigert, verursacht höchstwahrscheinlich einen baldigen(!) Tod.

Wenn die "Anti-Psychiatrie" tatsächlich so argumentiert, dann kann man darüber nur herzlich :-))

Zunächst zu der Behauptung, dieses oder jenes hätte unmittelbare bzw. langfristige Folgen. Diese Aussage ist so falsch, weil Du Äpfel mit Birnen vergleichst. Man muß schon zwischen Langzeit-Problemen und akuten Problemen unterscheiden.
Nehmen wir Dein Diabetes-Beispiel: angenommen, ein Patient (Typ 2) hat einen BZ von 1000 mg/dl und befindet sich im hyperosmolaren Koma. Klare Sache: wenn er nicht sofort behandelt wird, kratzt er mit hoher Wahrscheinlichkeit recht schnell ab. Nehmen wir jedoch an, daß der Patient einen BZ von 300 hat. Ist bei ausbleibender Behandlung ein baldiger Tod zu erwarten? Wohl kaum. Diese Hyperglykämie wird sicher ihre Folgen haben, jedoch erst nach längerer Zeit.
Genauso verhält es sich auch mit der Depression: ein Patient kann eine larvierte mittelschwere Depression haben; dann ist auch ohne Therapie ein baldiger Tod als Folge der Depression nicht zu erwarten. Wenn der Patient jedoch glaubhaft Suizidabsichten äußert oder gar nach einem Suizidversuch eingeliefert wird, so kann man sehr wohl davon ausgehen, daß dieser Mensch ohne eine adäquate Therapie recht bald als Folge der Depression stirbt.

Nun zu der Behauptung, eine Prognose sei nicht möglich. Wie stelle ich die Prognose eines Diabetikers? Aufgrund bereits vorhandener Daten anderer Patienten, die zusammengetragen und statistisch ausgewertet wurden. Warum kann ich die Prognose eines Depressiven nicht genauso erstellen? Man muß lediglich valide Parameter verwenden - diese zu finden, ist aber auch bei Diabetikern nicht so einfach. Eine persönliche Einschätzung des Patienten seitens des Psychiaters wäre sicher nicht valide - das Ergebnis eines validierten Scores dagegen schon.

Klar, die Geschichte der Medizin kennt viele Fälle, in denen gesellschaftlich unerwünschte Menschen zu psychisch Kranken erklärt wurden, um sie auszugrenzen. Und auch unsere heutige Gesellschaft ist davor alles andere als gefeit. Beispiele gibt es mehr als genug. Jedoch ist es mehr als schwachsinnig, die Psychiatrie dafür zu diffamieren und als Wissenschaft nicht anzuerkennen. Das ist eine sehr infantile Sicht der Dinge. Wenn ich mir den Fuß an einem Bordstein stoße, kann ich den Bordstein verfluchen - aber ist es die Schuld des Bordsteins, daß ich mich daran gestoßen habe? Die Psychiatrie ist eine Wissenschaft, und als solche auch vor Mißbrauch nicht geschützt. Doch nach der Logik der "Anti-Psychiater" müßte man beispielsweise auch die Physik verbannen. Wer hat schon jemals ein Atom gesehen? Es gibt nur indirekte Beweise für deren Existenz. Aber die Physiker haben Atombomben entwickelt, und diese wurden verwendet, um Tausende Menschen zu töten. Nieder mit der Physik!

Antracis
28.05.2009, 21:09
Der Psychiater mag eine Depression diagnostizieren, kann aber dadurch, dass er diese unbehandelt lässt, keine unmittelbaren Folgen "erzeugen". Die Symptome bleiben bestehen oder verschlimmern sich vielleicht, aber eine genaue Vorbestimmung (Prognose! Siehe Eingangsposting) ist (zumindest ohne Aufsicht) nicht möglich. Der Mediziner, der einem Diabetiker die Medikation verweigert, verursacht höchstwahrscheinlich einen baldigen(!) Tod.

Also, ca. 80% aller Patienten mit Depressionen haben Suizidgedanken, 15-20% davon sterben an Suizid. Da sehe ich schon erheblichen Handlungsbedarf. Vom aktuen Leidensdruck auf den Patienten und die kurz- und langfristigen Folgen ganz zu schweigen. Hast Du je einen Patienten mit einer akuten manischen Episode erlebt ? Es dauert meist nur wenige Tage, bis eine Zwangseinweisung wegen Eigen- oder Fremdgefährdung erfolgt. Oft haben sich die Patienten davor schon finanziell ruiniert oder anderweitg geschadet. Wenn man das nicht behandelt, landen sie entweder im Knast oder in einem Sarg. In der Praxis sind aber gerade diese Patienten, deren Erkrankung man gut behandeln kann, schon zwei Wochen danach unendlich dankbar, dass nix schlimmeres passiert ist und aufgrund der psychiatrischen Diagnose auch rückwirkend durch die Feststellung nicht vorliegender Geschäftsfähigkeit die Existenzgrundlage gerettet wird.
Die Antipsychiatrie aber versucht zu verharmlosen, diese Leute seien halt nur etwas besser gelaunt, als der Durchschnitt. Das ist einfach nur absurd.
Auch die allermeisten Psychotiker leiden extrem und werden nicht umsonst auch wegen Eigen- oder Fremdgefährdung zwangseingewiesen - bevor etwas passiert. Weiterhin steigt das Risiko einer Chronifizierung der Krankheit - und damit die negativen Folgen für den Patienten - mit jedem Tag, an dem nicht behandelt wird.
Du scheinst mir da doch die Folgen psychischer Erkrankungen gravierend zu unterschätzen. Auch Essstörungen wie Anorexia nervosa haben eine Letalität von 15-20%. Vom Alkohol will ich erst gar nicht reden. Soll ich dem Süchtigen nicht helfen, weil ich mir einreden lasse, ich nehme ihm nur sein Hobby weg ?

Die Antipsychiatrie geht einfach von einer romantisch anmutenden Vorstellung der Leiden psychisch kranker Menschen aus. Und weil die Gesellschaft leider oft wenig Ahnung hat, wie man unter psychischen Erkrankungen leiden kann, finden diese Thesen auch durchaus ein Publikum. Leider!

Gruß
Anti

wanci
28.05.2009, 23:11
Kurzer Einwurf: Der Vergleich der Psychiatrie mit anderen Fachgebieten hinkt aber am Punkt der Zwangsmaßnahmen. In anderen Bereichen ist es nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, gegen den Willen des Patienten zu handeln. Und genau das ist glaube ich ein Punkt, an dem es zwangsweise viele Reibungen gibt.

Antracis
28.05.2009, 23:53
Kurzer Einwurf: Der Vergleich der Psychiatrie mit anderen Fachgebieten hinkt aber am Punkt der Zwangsmaßnahmen. In anderen Bereichen ist es nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, gegen den Willen des Patienten zu handeln. Und genau das ist glaube ich ein Punkt, an dem es zwangsweise viele Reibungen gibt.

Natürlich. Aber das liegt halt in der Natur der Sache, wenn wir von Krankheiten des Geistes reden. Nur ist es doch erstmal eine Tatsache, dass viele psychiatrische Behandlungen ohne Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden. Und eine weitere Tatsache ist, dass auch in sehr vielen Fällen die Zwangsmaßnahmen von den Patienten im Nachhinein als unvermeidlich akzeptiert oder zumindest toleriert werden. Weder Arzt noch Patient ist glücklich, dass es dazu kam. Aber die - nach erlangter Krankheitseinsicht - als unerwünscht artikulierte Selbsttötung, Eigen- oder Fremdgefährdung war in diesem Fall leider das größere Übel.

Eine vollkommen andere - und aus meiner Sicht sinnvolle - Diskussion ist beispielsweise die Frage, in welcher Weise es in solchen Situationen zwangsläufig zu Machtmißbrauch kommt und inwieweit dieser eingeschränkt werden kann. Oder, inwieweit beispielsweise Personalmangel dazu führt, dass Zwangsmaßnahmen im konkreten Fall unnötig angewendet werden. Oder wie man scheinbar unausweichliche Eingriffe in die Menschenwürde möglichst klein halten kann.

Aber wenn die These lautet, man könne jede akute psychotische Episode ohne Haldol und Fixierung behandeln, wenn man nur genug Einfühlsamkeit im persönlichen Gespräch zeige, dann zweifel ich daran, dass diese Person Erfahrungen in der Akutpsychiatrie sammeln durfte. Und erwarte dann zumindest ein tragfähiges Konzept als Alternative. Aber meist ist die erste Bedingung von antipsychiatrischen Einrichtungen, dass die Betroffenen, denen man helfen wolle "sich dem psychiatrischen System zu entziehen" , keine Fremdgefährdung oder eine "sich der Kontrolle des Patienten entziehende Suchterkrankung" (Ein Pleonasmus!) aufweisen dürfen.

Letztlich lohnt es auch einfach mal, sich mit Originaltexten der aktuellen Antipsychiatrieszene auseinanderzusetzen. Das heisst es dann beispielsweise, dass die Psychiatrie "Zwangsdiagnostizierte" fortwährend gegen ihren Willen "Nervengifte" einflöße und "Elektroschocks" verabreiche.

Wessen Geistes Kind solche Aussagen sind, sollte jeder für sich bewerten. Aber ich stimme da Evil zu, dass sie einer Auseinandersetzung, die immer wichtig zu führen sein wird, eher unproduktiv den Weg verstellen. Der Vergleich mit den Impfgegnern ist da recht treffend. Ich sage ja auch nicht, das man jede Empfehlung des RKIs einfach kritiklos schlucken sollte. Aber man sollte dann schon bessere Argumente haben, als anthroposophisches Geschwurbsel über eventuelle Persönlichkeitsveränderungen.

Gruß aus Bärlin
Anti