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enja
20.12.2002, 16:47
"Heilig Abend mit Familie Klaviatur"


(1) Narzisse beim Einkauf

"Geben sie mir auch noch zwei Hummer, bitte, damit werde ich meine Familie heute abend überraschen. Schließlich muß es ein außergewöhnliches Fest werden, nicht, und das werde ich meiner Familie schon zu bereiten wissen..." Ein selbstbewußtes Lächeln huscht über ihre exakt gemalten, weihnachtsroten Lippen. "Danke und ihnen auch einen guten Rutsch ins neue Jahr!" Energischen Schrittes verläßt sie das Feinkostgeschäft, nicht ohne jedoch im Vorbeigehen einen prüfenden, selbstgefälligen Blick ins spiegelnde Schaufenster zu werfen (nach den Feiertagen werde ich meine Diätziele noch tiefer setzen, denn irgendwann muß er doch mal merken, wie dünn und schön ich geworden bin!) Getrieben von allerlei Vorstellungen vom neu- und einzigartigen Weihnachtsfest betritt sie ein Geschenkegeschäft, um noch ein paar letzte Kleinigkeiten für die Bescherung zu besorgen (doch natürlich auch etwas für mich, schließlich kann ich mir ruhig etwas gönnen.) "Wie werden sie denn dieses Jahr Heilig Abend verbringen, Frau Klaviatur?" wird sie sogleich von der Seite angesprochen. "Oh, Frohes Fest, Frau Plasger, nett, daß sie fragen, ja dieses Mal habe ich mir etwas ganz Besonderes ausgedacht: erst eine Kutschfahrt durch den Wald, die Kinder sitzen natürlich vorne und mein Mann und ich hinten, dann werden wir gemeinsam den Baum schmücken und Weihnachtslieder singen und mein Mann muß uns auf dem Klavier begleiten, und als Höhepunkt werde ich sie mit einem wunderbaren Fünf-Gänge-Menü verwöhnen, natürlich auch etwas Neues - und den ganzen Abend werde ich mein kürzlich ersteigertes Chanel-Kostüm tragen... Das habe ich mir doch nett ausgedacht, oder?" Doch vergeblich wartet sie auf eine Antwort und sucht zunehmend beunruhigt im Gesicht der anderen nach Zustimmung (sollte sie etwa Aufregenderes geplant haben?)


(2) Spaziergang mit dem Schizoiden

Konstantes Stimmengewirr und knirschender Schnee verklingen scheinbar ungehört, während seine Augen teilnahmslos über weiße Nässe mit Fußspuren gleiten (reden sie jetzt etwa schon wieder über mich... die sollen mich einfach nur in Ruhe lassen!) Heftig stampft er voraus, um seine aufsteigenden Tränen vom eisigen Wind trocknen zu lassen, und überhört beinahe die verschwörerisch leise gestellte Frage des Freundes seiner Schwester: "Möchtest du heute nacht mit uns kommen? Wir schleichen uns zu ner super geilen Christmas-Party, nachdem deine Eltern schlafen gegangen sind!" Als hätte er sich an heißem Glühwein verbrannt, zuckt er zusammen, weicht dem Blick des anderen aus und sucht unauffällig nach seiner Schwester. "Nee, ich glaube nicht, ich würde zwar echt gerne, das wird bestimmt ne tolle Party, doch wenn meine Eltern das erfahren würden... Ich bleib lieber zu Hause und spiel mein neues Computerspiel." Ausdruckslos nimmt er seinen schnellen Schritt wieder auf und läßt den anderen hinter sich (wieso fragt der mich denn? bestimmt nur weil meine Schwester ihn gebeten hat...)


(3) Hysteria singt Lieder

"Der Baum steht!" Ausgelassen tanzt sie um das Symbol des Festes der Liebe (es ist wirklich zu schön, daß mein Haar jetzt wieder lang genug ist, es richtig fliegen zu lassen...) Außer Atem und scheinbar schwach läßt sie sich mit einem wolligen Schnurren in die Arme ihres Freundes fallen, der sich ein wenig verlegen nach seinen potentiellen Schwiegereltern umsieht (sei nicht so schrecklich unsicher und küß mich, Junge!) Unbefriedigt und leicht genervt befreit sie sich und hängt sich schmollend an den Hals ihres Vaters. "Du hast dieses Jahr echt den perfektesten Baum ausgesucht, Daddy; wollen wir jetzt alle singen?" Und schon beginnt sie mit heller, klarer Stimme 'Ihr Kinderlein kommet', ohne auf die Einsätze der anderen Anwesenden zu warten. Ab und zu wirft sie ihrem Freund einen koketten Blick hinüber, der mehr und mehr Erotikbände spricht (wie süß er doch ist, wenn er verlegen ist! zum Glück beginnt keiner mitzusingen, so daß er nur mich hört! dann erzählt er hoffentlich seinen Kumpels, wie geil ich singen kann...) In dieser Sekunde dreht er sich um und verläßt den Raum.


(4) Geschenke für den Depressiven

"Danke, Mama, das ist ein wirklich schönes Geschenk, das kann ich bestimmt gut gebrauchen!" (was soll ich nur mit einem eigenen Anrufbeantworter anfangen... ich will doch gar nicht ausziehen und alleine wohnen, wir leben doch alle noch hier zusammen!) Vorsichtig blinzelt er unter seinen Wimpern zu seiner Mutter hinüber und ringt sich ein zartes Lächeln ab, als er ihren wartenden Blick spürt. "Willst du deiner Mutter zum Dank nicht einen Kuß geben, na komm schon!" Zögerlich und ungeschickt erhebt er sich aus seiner Ecke und seine Lippen berühren die mütterliche Wange so flüchtig als wäre eine kleine Maus darübergehuscht (am liebsten würde ich mich in mein Bett verkriechen und einfach nicht mehr aufstehen. ich würde eh nichts Schönes versäumen.) "Oh, Brüderlein, du hast mir tatsächlich diesen BH besorgen können! Auf dich kann man sich echt verlassen, und sieh, er paßt wie angegossen! Daß du meine Größe so genau im Kopf hast... Danke!" Wieder folgt ein verhaltenes, fast gequältes Lächeln, welches jedoch eine Sekunde später schon wieder vom Gesicht verlischt und durch ein sorgenvolles Stirnrunzeln ersetzt wird (ich wünschte, ich könnte mich über dieses Lob freuen - doch es ist eigentlich nichts wert, wie ich auch nicht...)


(5) Zwanghaftes Essen

Mehr und mehr füllt sich der Tisch mit köstlichen Kleinigkeiten, mit heißem Hummer und kaltem Kaviar, mit kräftigem Käse und sanftem Soufflé (das könnte man allerdings noch etwas verfeinern, vielleicht mit Champagnergewürz - ja, so gehts vielleicht.) "Kinder, räumt die anderen Soßen gleich wieder in den Kühlschrank und legt die Folien sorgsam beiseite, die können wir schließlich noch ein paar Mal verwenden." Sein klarer Befehl dringt durch heitere, plätschernde Stimmen, während sein prüfender Blick das Festmahl begutachtet (fast genau wie letztes Jahr, gut so; auch sonst ist alles im Lot, alle Bausparverträge für dieses Jahr sind abbezahlt, der Baum ist fertig geschmückt, die Küche aufgeräumt, der Herd ausgeschaltet, meine Frau wie immer, aber in einem neuen Kleid...) "Was trägst du denn zum Weihnachtsabendessen, Töchterchen? Das ist ja nun wohl äußerst unangemessen und wird sofort umgezogen!" (unangemessen und aufmüpfig ist sie schon die ganze letzte Zeit; dabei gibts doch schon genug Gerede...) "Bitte, bitte, Daddy, ich kann es noch schnell bügeln! Bitte, wenigstens das Oberteil!" Flehende Augen versuchen seinen harten Blick zu besänftigen und zu einem Kompromiß zu bewegen, füllen sich vor Anstrengung und Erregung mit Tränen und zerren an seinem Gewissen und seiner Vaterliebe. "Keine Diskussion! Ich möchte, daß du dich auf der Stelle umziehst, damit wir endlich mit dem Essen beginnen können!" Plötzlich ist das Züngeln der Kerzen zu hören. Der Freund wagt verlegene Seitenblicke und fühlt sich immer unwohler und in einer Zwickmühle, auch auch weil ihm beim tiefen Atemholen von der Düfte geschwängerten Luft schlagartig schlecht wird. Wortlos, doch mit einer routinierten Gleichgültigkeit erhebt sich die Tochter und verläßt aufrechten Ganges das Eßzimmer (es ist nun mal so, daß wir uns festlich und ordentlich kleiden, da muß sie doch nicht so ein Theater machen! die anderen verhalten sich doch auch entsprechend ruhig und unauffällig.) In diesem Augenblick stoppt ein geller Schrei seine Gedanken und durchdringt sein Mark und Bein.


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So, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen (kleine Kurzgeschichten mit den Charakteren aus dem Grundkatalog...)

-enja

Jens
20.12.2002, 22:46
Hallo Enja,
ich finde die Idee wirklich gelungen umgesetzt: die Klaviatur der Charaktere sowie das Grobskelett fuer Kurzgeschichten gleich miteinander zu verflechten, sogar ich als Frau tauche da als Verkaeuferin im Geschenkeladen auf.

Es hat Spass gemacht, Deine Darstellung der verschiedenen Chararaktere zu lesen.

Frau Narzisse schaut sich nochmals selbstbestaetigend im Spiegel an, Hysteria tanzt um den Weihanchtsbaum, der Depressive hat so seine Probleme, der Zwanghafte checkt nochmals alles korrektamente, der schizoide ist vielleicht der einzige, der mir ein wenig zu weit in Richtung schizophren geht (aber das mag ansichtssache sein).

Wir werden in Zukunft die moeglichen Tonarten, wie man "einen Charakter in seinen Texten anstimmen kann" noch auf vielfältige Weise üben und dabei ein wenig auf Erkenntnisse und Modelle der Alltagspsychologie zurueckgreifen.

Einen Charakter zu bilden, der in den Geschichten lebendig wird, ist ja ein wesentlicher Zug vieler Texte.

Der Vorteil, den wir als angehende Mediziner mit psychologischem Halbwissen dabei vielleicht haben, ist, dass wir auf gewisse Modelle der Charakterkunde dabei je nach individuellem Gutdünken zurückgreifen koennen. Und das kombiniert mit weiteren Stiltechniken ergibt sicher eine gute Mischung.

Der Nachteil, den wir vielleicht haben, ist, dass man bei all der Theoriekunde ueber Wesensarten und Auspraegungen menschlicher Charaktere vielleicht manchmal die Praxis, also die alltaegliche Realtität aus den Augen verliert.

Mir hat es Spass gemacht, auf so weihnachtliche Art die verschiedenen Charaktere vor Augen gefuehrt zu bekommen.

So long
Cu
:-) Jens