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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Hinführung zur lyrischen Sprache - Gedichte schreiben lernen



Jens
05.01.2003, 00:14
<html><div align="center"> <table border="0" cellpadding="2" width="410"> <tr> <td style="background-color: #FFFFFF"><b><font face="Courier New" size="3">Gedichte - ich doch nicht... oder doch? oder sowieso?</font></b> <p><font size="2" face="Courier New">Einige von euch schreiben schon seit längerem Gedichte, andere würden zwar gerne, doch wissen nicht so recht, wie das geht, wiederum andere können mit Gedichten &quot;nichts anfangen&quot;.<br> <br> Um allen Interessierten einen Zugang - und zwar auf recht einfach-spielerische und unkonventionelle Weise - zu verschaffen, möchte ich in diesem Forum von nun an eine Art Klein-Kurs &quot;Hinführung zur Lyrik&quot; anbieten.<br> <br> Mittels kurzer Übungen werden wir erfahren, was wichtige Grundformen und Stilmittel der &quot;schwierigen Welt der Gedichte&quot; betrifft. <br> <br> Vorab sei gleich gesagt und damit einiges an Klärung erreicht: in der modernen Lyrik spielt der Reim längst nicht mehr die Rolle, wie noch in früheren Zeiten. Dies gilt noch mehr für das Thema &quot;Metrum und Versmass&quot;, stammt gerade das aus einer Zeit, in der die Gedichte laut vorgetragen und mehr &quot;gehört&quot; wurden. <br> <br> In heutiger Zeit schreibt kaum noch jemand Gedichte, damit sie metrumgerecht beim lauten Lesen einen harmonischen Rhythmus abgeben und der perfekte Reim findet sich eher selten.<br> <br> Es sind vielmehr andere Dinge, wenn es darum geht, einen Zugang zur lyrischen Art zu finden, Worte, Emotionen, Situationen in Gedichtform auszudruecken.<br> <br> Hier zunaechst zum Reinschnuppern die Vorstellung der Themen, die wir in den naechsten Monaten bei Interesse eurerseits Stueck fuer Stueck betrachten werden. <br> <br> Keine Angst: jeder Fachbegriff wird anhand von Beispielgedichten kurz erläutert und anhand kleiner, einfacher Übungen werden wir erfahren, welche Wirkung das jeweilige Mittel erzeugt. <br> <br> Das Schreiben eigener Gedichte rückt erst einmal in den Hintergrund. Zunaechst geht es darum, am Beispiel von gegebenen Gedichten die Wirkung der lyrischen Sprache zu erkunden und herauszufinden, was sie von der Alltagssprache oder der Sprache in Prosa (Textform) unterscheidet.<br> <br> Einen Versuch koennte es auch fuer denjenigen sein, der zunaechst denken mag: &quot;Gedicht ist´s wenn´s sich reimt und kompliziert ist - also nichts fuer mich&quot;.<br> <br> Lyrik kann man erfahren ohne sie selbst produzieren, sprich Gedichte schreiben zu muessen. Wie das geht und was man dabei erfahren kann, werden wir dann erfahren ;-)<br> <br> Hier nun ein Vorausblick auf mögliche Themen, die in Form von alle 10 bis 14 Tagen erscheinenden kurzen Infos, Spielen und Übungen bearbeitet werden. (Wie immer: kurz und knapp im Rahmen des allerorten knappen Zeitbeutels)<br> <br> <b>0: Vorab zum Einstieg und Warmwerden<br> </b>Ein Tisch, ein Meeresstrand und ein medizinischer Begriff Form in Prosa (Textform) und in Versen<b><br> <br> Zwischendurch immer mal wieder Spiele: </b>Reimspiele - Skelettgedicht-Spiel - Lautspiele - Metaphernspiel - Allegoriespiel<br> <br> <b>1: Einfuehrung: Prosa gegenueber Lyrik (Texte versus Gedichte)</b><br> 1.0: Was unterscheidet Prosa-Texte von lyrischen Gedichten?<br> 1.1: Einstiegsgedicht zum Thema: &quot;Selbst ein Gedicht schreiben?&quot;<br> 1.2: Visuelle Gestaltung von Gedichten: Konstellationen komponieren<br> 1.3: Wachsgedichte und Elfchen schreiben<br> 1.4: Laut und Rhythmus am Beispiel von Hölderlin<br> <br> <br> <b>2: Freie Verse</b><br> 2.1: Einführung am Beispiel einiger Gedichte von Erich Fried<br> 2.2: Freie Verse erzeugen: aus Prosa, aus Alltagstexten und im freien Schreiben<br> <br> <b>3: Klangformen: Alliteration - Assonanz - Reim</b><br> 3.1: Klangcharakter der Sprache<br> 3.2: Alliteration und Assonanz<br> 3.3: Der Reim<br> <br> <b>4: Wortformen: Wortwiederholung - Leitmotiv - Mehrdeutigkeit</b><br> 4.1: Das Mittel der Wortwiederholung<br> 4.2: Das Leitmotiv eines Gedichtes<br> 4.3: Die Mehrdeutigkeit eines Gedichtes<br> <br> <b>5: Bildformen: Metapher - Allegorie - Symbol</b><br> 5.1: Hauptmerkmale einer Metapher und Metaphern-Baukasten, Oxymoron als Sonderform<br> 5.2: Synästhesie und Leserbezogenheit einer Metapher<br> 5.3: Die Allegorie: Was ist das? - Allegoriespiel - Allegorien nachproduzieren<br> 5.4: Das Symbol: Gedichte Goethes als Vorlage zu eigenen symbolischen Sprachformen<br> <br> <b>6: Satzformen: Enjabement - Inversion - Parallelismus - Chiasmus</b><br> 6.1: Das Enjabement: Erkennen, Umwandeln, Verwenden<br> 6.2: Inversion: Experimente mit dem Satzbau<br> 6.3: Weitere Satzformfiguren: Parallelismus, Chiasmus: Übungen, Experimente, Syntaktische Spiele, Skelettgedicht-Spiel<br> <br> <b>7: Strophenformen der Lyrik:</b> Dreizeiler, Vierzeiler, Terzine, Stanze, Rondell, Sonett<br> <br> Los geht es mit der ersten kleinen Übung am Beispiel eines Tisches und eines Meeresstrandes (siehe Beitrag hier im Forum)<br> <br> Viel Spass!</font></p> <p><font size="2" face="Courier New">Jens</font></p> </td> </tr> </table></div></html>

Jens
05.01.2003, 00:48
<html><div align="center"> <table border="0" cellpadding="2" width="410"> <tr> <td style="background-color: #FFFFFF"><b><font face="Courier New" size="3">Ein Tisch, ein Meeresstrand und die Lähmung des Nervus Fazialis<br> <br> </font><font size="2" face="Courier New">Hier nun wie versprochen eine kurze Übung mit 3 Beispielen.<br> <br> 1: Ein Tisch in Prosa und in Versen<br> <br> 1.1: Prosa:<br> </font></b><font size="2" face="Courier New">Es war einmal ein Tisch, der war ganz aus Tannenholz gemacht. Das wusste er auch und dachte Tag und Nacht daran, woher er stammte, woraus er bestand und daß er eigentlich immer noch eine Tanne war. Und wenn er den Wind ums Haus wehen hörte, dann konnte er nicht mehr ruhig stehen und schwankte hin und her<br> <br> <b>1.2: Das ganze in lyrischer Versform (Variante 1)</b><br> <br> Ein Tisch ist ganz<br> Aus Tannenholz gemacht<br> Bei Tag und Nacht denkt er,<br> Woher er stammt:<br> <br> Tannengedanken<br> <br> Hört er vorm Haus den Wind,<br> Dann kann er nich<br> Mehr ruhig stehn. Dann<br> Schwankt er hin und her<br> <br> <b>1.3: Das ganze in lyrischer Versform (Variante 2)<br> <br> </b>Er ist aus Tannenholz gemacht,<br> daran denkt er bei Tag und Nacht.<br> <br> Vor lauter Tannengedanken<br> beginnt er sogar zu schwanken.<br> <br> Er hört den Wind vorm Hause gehn - <br> wie sollt er da ruhig stehen.<br> <br> KLEINE ANREGUNG UND AUFGABE:<br> Lies bitte alle drei Texte einmal laut. Achte dabei darauf, wie und in welcher Form Du sie liest. Vergleiche die Wirkung und die Lesart der Texte miteinander: wodurch unterscheiden sich die beiden lyrischen Varianten von der Prosaform. Was leistet jeder Text für sich auf seine Art? Was drückt er aus? Welcher Text gefiel euch am besten.<br> <br> <b>2: Nächstes Beispiel: Ein Meeresstrand</b><br> <br> <b>2.1: Prosa-Textform &quot;Meeresstrand&quot;</b><br> Die Möwe fliegt nun ans Haff und Dämmerung bricht herein. Der Abendschein spiegelt über die feuchten Watten. Graues Geflügel huscht neben dem Wasser her. Die Inseln liegen im Nebel auf dem Meer wie Träume. Ich höre den geheimnisvollen Ton des gärenden Schlammes und einsames Vogelrufen. So war es schon immer. Der Wind schauert noch einmal leise und schweigt dann. Die Stimmen, die über der Tiefe sind, werden vernehmlich.<br> <br> <b>2.2: Lyrische Form:</b><br> <br> Meeresstrand (Theodor Storm)<br> <br> Ans Haff nun fliegt die Möwe,<br> Und Dämm´rung bricht herein;<br> Über die feuchten Watten<br> Spiegelt der Abendschein.<br> <br> Graues Geflügel huschet<br> Neben dem Wasser her;<br> Wie Träume liegen die Inseln<br> Im Nebel auf dem Meer.<br> <br> Ich höre des gärenden Schlammes<br> Geheimnisvollen Ton,<br> Einsames Vogelrufen - <br> So war es immer schon.<br> <br> Noch einmal schauert leise<br> Und schweiget dann der Wind;<br> Vernehmlich werden die Stimmen,<br> Die über der Tiefe sind.<br> <br> <b>Kleine Aufgabe wie gehabt: </b>Lies bitte die beiden&nbsp; Texte einmal laut. Achte dabei darauf, wie und in welcher Form Du sie liest. Vergleiche die Wirkung und die Lesart der Texte miteinander: wodurch unterscheidet sich lyrische Variante von der Prosaform. Was leistet jeder Text für sich auf seine Art? Was drückt er aus? Welcher Text gefiel Dir am besten?<br> <br> <b>Versuche nun, </b>nach den Beispielen mit dem Tisch und dem Meeresstrand einmal kurz darueber nachzudenken, wodurch in diesen Fällen das Gedicht eigentlich zu einem lyrischen Text wird.<br> <br> <b>KLEINE ABSCHLUSSUEBUNG:<br> Umwandlung eines &quot;Prosa-Textes&quot; aus dem Pschyrembel in ein Gedicht<br> <br> Hier nun zum Spass und Ausprobieren ein Text aus dem Pschyrembel (Klinisches Wörterbuch):</b><br> <br> Die periphere Parese des Nervus facialis bezeichnet eine schlaffe Lähmung aller vom VII. Hirnnerv innervierten Muskeln. Ursächlich kommen vor allem idiopathische Formen sowie Restschäden nach Borreliose in Frage. Klinische Zeichen, anhand derer man die periphere Fazialislähmung erkennen kann: das Unterlid des Auges hängt auf einer Seite herunter und der Augenschluss ist unvollständig. Die Hautfalte zwischen Nase und Lippen ist nicht mehr zu erkennen. Der Patient kann die Stirn nicht mehr runzeln. Als zusätzliche Zeichen treten u.a. Geschmacksstörungen sowie Sensibilitätsminderungen auf. Die Prognose zeigt meist eine spontane Rückbildungstendenz, doch können bei unvollständiger Ausheilung zum Beispiel &quot;Krokodilstränen&quot; als Zeichen einer gestörten Innervation zurückbleiben.<br> <br> -----<br> <b>Versucht bei Lust und Laune einfach einmal, diesen Text von der &quot;Prosa-Variante&quot; in lyrische Zeilen umzuwandeln (also wie schon am Beispiel Tisch und Meeresstrand gesehen: Zeilenwechsel einführen und ggf. Worte leicht ändern, Reim ist nicht nötig).<br> -----</b><br> <br> Ihr müsst ihr euch nicht streng an die Textvorgabe aus dem Pschyrembel halten und könnt den Ursprungstext gerne auch von der Wortwahl und Textlänge ändern.<br> <br> Probiert vielleicht einfach mal verschiedene &quot;versionen&quot; eines &quot;Fazialisgedichtes&quot; mit den am Beispiel des Tisches und Meeresstrandes aufgezeigten Mitteln (z.B. Zeilenwechsel einfuegen, Strophenlängen festlegen) aus.<br> <br> Und lest die Texte (Fazialisparese als Prosa und als Lyrik) einmal laut und vergleicht.<br> <br> Ehrlich gesagt bin ich ein wenig gespannt auf die Gedichte zum Thema &quot;Fazialis&quot; wie auch auf eure Erfahrungen bei Tisch und Meeresstrand.<br> <br> Bis denne</font> <p><font size="2" face="Courier New">Jens</font></p> <p><font size="2" face="Courier New"><br> </font></p> </td> </tr> </table></div></html>

lisa_liebreiz
22.01.2003, 15:49
Hier ein Fazialis-Gedicht.........

Gemeine Schwester

Triefender Blick im müden Gesicht,
das rote Auge fleht um Zweifel,
die die Stirn nicht spricht.

Jugendlich faltenlose Taubheit fragt
nach gleicher Behandlung,
sieht sich allein ohne die Hälfte
Die froh um den Ausdruck
lächelnd die Schwester verrät.

Idiotisch zu leiden ohne Grund!
Höhnt sie und tröstet im gleichen
Moment: Du hörst ja- -und besser als ich!
dass die Lähmung vergeht.

Hab Geduld nur und wähne
-sei`n es Borrelien gewesen-
In Zukunft Dich sicher nicht
im Schutze der Bäume.

Klein sind die Träger der Keime,
noch kleiner dieselben,
aber Dein Auge ist offen
und warnt uns beide bestimmt.

Ba3r
06.06.2006, 01:44
Dicke Krokodilstränen,
das Lid hängt schlaff herab

kann nicht schmecken.
Keine Skepsis in seinem Blick

periphere Parese,
brach ihm das Genick.

Itemio
12.12.2009, 11:51
Hier ein Tisch(Baum)gedicht:

Einst sprach ein Baum im Wald:
„Ich hab genug vom wilden Leben!“
Alsdann wurd er zu Tisch und Truhe bald
Und also endete sein Irren und Streben

So lebte er fortan in biederer Gesellschaft
Mit seinen Freunden Bett und Schrank
Nur manchmal reute sein Entschluss ihn später ernsthaft
Worauf er sich mit Möbelpolitur betrank

Flemingulus
14.12.2009, 17:41
Hier ein Tisch(Baum)gedicht:


Die Idee, dass sich unser hölzerner Freund mit Möbelpolitur die Kante gibt , ist einfach sublim! :-love:-top Herrlich!!! :-dafür

... aber Gesellschaft und ernsthaft reimen sich z. B. gar nicht und der letzte Satz hat keine metrische Struktur. So eine gar nicht genug zu preisende Grundidee hat doch wirklich noch mehr handwerklichen Ehrgeiz verdient. Ich mein.... wenn's ein banaler dichterischer Gedanke gewesen wär, tät ich ja nicht kritteln ;-)



Es war mal ein Baum tief im Wald,
den ließ das Naturleben kalt.
Und so schulte er um
in der Schreinerei Schrumm
und gelangte zu neuer Gestalt:

Stand fortan als Tisch rum im Flur
und lebte bei Schrank und Standuhr*)
und nur manchmal konfus
bekam er den Blues
und betrank sich mit Holzpolitur.


*)lies zur Verdichtung der Dichtung
mit endbetonter Gewichtung
(oder so in der Richtung)

Flemingulus
21.01.2010, 21:52
"Dies wilde Leben", sprach genervt der Baum,
"hängt mir dermaßen jetzt zur Krone raus!
Ich schule um und lebe meinen Traum
und lerne Tisch in einem Möbelhaus!".

Und so wohnte er bald bei Bett und bei Schrank
und nur manchmal noch traf's ihn: "Zurück zur Natur,
zurück zu den Wurzeln!" und bös dann betrank
sich der Ärmste mit Holzpolitur.

KoelnerMedizin
21.01.2010, 22:02
!edit!