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Jens
09.02.2003, 12:24
Eine Kurzgeschichte "Der Einäugige" von ameline:

Der Einäugige

Am Ende des langen Flures ist diese weisse Tür, hinter der sich die schauerlichen Säle befinden. Die Tür springt auf, mit barschen Schritten rauscht der Saalhelfer an mir vorbei und zieht einen Hauch von Formalin hinter sich her. Von weit her höre ich ein Martinshorn, das Jammern kommt näher und näher, bis ich durch die milchigen Scheiben das Blinken des Blaulichtes in der Dämmerung erahnen kann. Wenig später stehe ich im grellen blauen Blitzgewitter. Der Raum um mich beginnt sich zu drehen, wie ein Kreisel, immer schneller. In einer seltsamen Prozession schieben sie die Bahren an mir vorbei und ich sehe sie, die Toten, halb bedeckt mit grünen Tüchern. Ich blicke in die starr und leblos gewordenen Gesichter, das Antlitz der Toten. Versunken in den Gesang des Postludiums strömen Studenten in weissen Kitteln an mir vorbei und folgen der Prozession in den grossen Saal. Der Sog reisst mich mit, ich reihe mich in den langsamen Trott ein und bewege mich immer näher auf die Hallen zu.

Schon von weitem sehe ich ihn. Den Einäugigen. Er scheint schon seit Jahrhunderten diese Säle zu regieren. Der Blick aus seinem gesunden Auge fällt auf mich. Kälte kriecht von den kalten Fliessen in mir hoch. Ich bin barfuss. So stehe ich da: barfuss und mit blutverschmiertem Kittel. Es gibt kein Zurück mehr...Schweissgebadet wache ich auf. Es sind Semesterferien, noch eine knappe Woche bis zum Beginn des Wintersemesters. Zwei Semester habe ich nun schon studiert, jetzt wird es ernst. In der kommenden Woche beginnt mein Präp-Kurs.

Am darauffolgenden Montag stehe ich rechtzeitig auf, um meinen neuen weissen Kittel noch ordentlich zu bügeln, packe das Kästchen mit den Präpariermessern in meine Tasche und mache mich gespannt auf den Weg zur Uni. Bei der Anatomie stelle ich mein Fahrrad ab und geselle mich zu der grossen Gruppe von Drittsemestern, die vor dem Institut auf die Ausgabe der Testatkarten wartet. Ein Student kommt mit einem Packen Papier wedelnd heraus und es dauert nicht lange, bis ich meine Karte ergattern kann. Mit klopfendem Herzen lese ich die Karte. Mein Name, Saal II, Tisch Nr. 6. Und der Assistent.*

Es ist der Einäugige.
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geschrieben von Ameline