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Jens
09.02.2003, 12:27
Eine Bilanz des ersten Semesters, verfasst von jurij:

Bilanz des ersten Semesters - oder gab es im ersten Semester noch etwas anderes als die Rattenpräparation?

Bilanz? Was meine ich mit "Bilanz" des ersten Semesters? Viele werden froh sein, daß sie es mehr oder wenig unbeschadet (wie sie meinen) überstanden haben. Warum also Bilanz ziehen, sich noch einmal mit dem beschäftigen, was wir erlebt, durchlebt und überlebt haben, was gewiß in manchen Fällen nicht einfach war?
Meine Motivation ergab sich folgendermaßen: Als wir kürzlich bei unserem "Semesterabschlußessen" das letzte Mal zusammen in der Mensa saßen - denn nun lag das erste Semester mit seinen Vorlesungen, Seminaren, Ferienkursen und Klausuren wirklich hinter uns -, befiel mich mitten im schönsten Fachsimpeln, wie es Studenten eines Fachbereichs nun einmal tun, wenn sie sich zu mehreren auf einem Haufen befinden, ein seltsames Gefühl. Ich blickte in die Augen meiner Kommilitonen, mit denen ich mich im letzten halben Jahr angefreundet hatte, und erinnerte mich an unser erstes gemeinsames Mensaessen ein halbes Jahr zuvor. Ich blickte in ihre Augen und fragte mich: Haben wir uns verändert?

Mir fiel auf, daß mich diese Frage innerlich schon länger beschäftigte, genauer gesagt seitdem wir im Rahmen unseres Biologiepraktikums (Teil Zoologie) die "Präparation eines frischtoten Säugers" , genauer gesagt einer Albino-Wanderratte, hatten durchführen müssen. Natürlich hatte es auch einen Alternativkurs gegeben, in dem man ein Schweineherz inspizieren konnte, aber wer von uns wollte schon zu den "Altis" gehören und auf das zweifelhafte, einerseits eklig-abschreckende, andererseits pervers-anziehende Vergnügen verzichten, ein extra für uns getötetes, noch warmes, blutiges Lebewesen auseinanderzunehmen? War dies nicht eine Bewährungsprobe für unser Medizinstudium? Ein kleiner Vorgeschmack auf den Präpkurs, der im nächsten Wintersemester folgen sollte? Wer schon vor einer simplen toten Ratte zurückschreckte, hatte keinerlei Aussicht, einmal zum erlesenen Kreis der "Götter in Weiß" dazuzugehören. Also hatte man alle ethischen Bedenken aus den noch von der Physikklausur beherrschten verworrenen Gedankengängen verbannt und sich für die Säugerpräparation angemeldet, psychisch gestärkt durch das Vorwort im Zoologie-Skript, das uns - im Gegensatz zu den "Altis" - Weltfremdheit absprach und mit Vorhaltungen wie "Denken Sie einmal darüber nach, wie viele Tiere für Ihr Deo haben leiden bzw. sterben müssen" nahezu beruhigte.

Am vorletzten Kurstag war es endlich so weit gewesen. Voller Erwartung hatten sich 30 Augenpaare auf den Dozenten geheftet, hinter denen sich aufgeregte, sich ein wenig unbehaglich fühlende - denn kaum einer von uns war so abgebrüht, daß er dem Ganzen ausschließlich mit Begeisterung entgegenzublicken vermochte - , zum Teil mit weißen Kitteln geschmückte Erstsemester verbargen, und folgten wißbegierig wie selten jedem seiner Schritte. Als ich - nach einem Sportunfall frisch eingegipst gerade der Welt unserer zukünftigen Kollegen entflohen - etwas zu spät nach einer schier endlosen Odysee zum Zoologie-Institut und etlichen, auf "Unterarmgehstützen" nur schwer bezwingbaren Treppen endlich unseren Praktikumsraum betrat (wer redet da von Pflichtbewußtsein? In unserem Studium kann man es sich schlichtweg nicht leisten, seine Verletzungen oder Krankheiten auszukurieren, wie man es uns gleichwohl lehrt), hatte die feierliche Stimmung im Saal ihren Höhepunkt erreicht: Der Dozent hatte den Startschuß zum Aufschneiden der Ratten gegeben. Zuerst noch sehr vorsichtig, dann immer wilder - Rattenfell ist widerspenstig! - leisteten wir seiner Aufforderung ziehend- und schließlich zerrenderweise Folge, die arme Kreatur von ihrem Fell zu befreien und sie an den endlich gelösten Stellen mit Stecknadeln auf einem Holzbrett zu fixieren. Mein erster Gedanke dabei war "INRI", und wer mich jetzt der Blasphemie bezichtigt, dient dem Beweis dafür, daß Menschen, die einer solchen Aktion niemals beigewohnt haben, nicht nachzuvollziehen vermögen, was wir in diesem Moment ebenso wie in zahlreichen anderen erleben, die sich während unseres langen Studiums ergeben. Es war pervers, aber es war nötig und darum auch wieder normal. (Dieses Gefühl hatte ich bereits während meines Krankenpflegedienstes kennengelernt, und jeder, der einmal auf Station gearbeitet oder im OP gestanden hat, wird sich daran erinnern.) Mann wie Frau denkt nur noch rational (wenn auh manchmal ziemlich abwegig), für Empfindungen und unsachgemäße Gedanken (wie z.B. ethische Bedenken) ist - allein des Selbstschutzes wegen - kein Raum mehr. Nur so kann man den atemberaubenden Gestank ertragen, der einem mein Öffnen der Bauchhöhle der Ratte und erst recht beim "Ausräumen" des Magens und Darms entgegenkommt, nur so ist es möglich, die Nieren des Tieres heraus- und aufzuschneiden oder nach dem Durchtrennen der Luftröhre die Lunge aufzublasen - als wäre es ein Luftballon - , um sich ihre Funktionsweise zu verdeutlichen. Und nur so ist es (hoffentlich) zu erklären, daß es manche Kommilitonen sogar soweit brachten, der Ratte den Kopf oder den Schwanz abzuschneiden, mit letzterem bizarre Spielchen zu treiben oder gar das Fell vollständig abzutrennen, um es sich zu Hause trophäenartig an die Wand zu hängen. Viele richteten auch bewußt oder versehentlich ein Blutbad an, indem sie die Aorta oder kleinere Venen mit dem Skalpell bearbeiteten. Die Assistenten nickten und grinsten zu allem nur freundlich und boten uns nach der Pause an, das von ihnen isolierte Rattensperma im Mikroskop zu betrachten.

Als die kläglichen Überreste der Ratten endlich fein säuberlich getrennt von den von uns benutzten Handschuhen in den großen gelben Müllkübeln gelandet waren (bis auf ein, zwei Kommilitonen hatte es keiner über sich gebracht, die Ratte mit bloßen Händen anzufassen, was einige damit begründet hatten, daß man im OP ja schließlich auch mit Handschuhen arbeiten müsse, was zudem im Hinblick auf die Handhabung der Arbeitsgeräte auch viel schwieriger sei, andere hingegen unumwunden auf ihren Ekel zurückgeführt hatten), konnten nur noch sehr wenige der nun folgenden Demonstration des Schweineherzens die angebrachte Begeisterung entgegenbringen. Noch Tage später war das Thema - ob auf dem Weg zur Uni, beim abendlichen Kneipengang oder beim Essen in der Mensa - "die Ratte", die für uns das erste Semester mindestens ebenso geprägt hat wie die ersten Multiple-Choice-Klausuren oder die gefürchtete Physikklausur (Durchfallquote 66,6 %), die tatsächlich wie von den O-Phasen-Tutoren prophezeit einem Unwetter gleich über uns hereingebrochen war (um zu den glücklichen 33,3 % zu gehören, brauchte man 15 von möglichen 60 Punkten...).

In dem Moment, in dem ich also bei jenem ersten legendären Semesterabschlußessen in die Augen meiner Kommilitonen blickte, liefen die verschiedensten Eindrücke aus diesem ersten Semester noch einmal vor meinem inneren Auge ab: unser erstes Mensaessen und die Horrorgeschichten aus unserer Pflegedienst- bzw. Zivizeit, mit deren Darbietungen wir uns damals zu übertreffen versucht hatten, die Fachsimpeleien über Vorlesungen und neueste Erkenntnisse, die irgendjemand von uns in irgendeinem Magazin gelesen hatte, das erste Mal, daß die anderen Studenten in der Mensa angeekelt von uns abgerückt waren, als wir wieder einmal über Medizin im engeren oder weiteren Sinne geplaudert hatten, die scheinbar endlosen, gemeinsam durchgestandenen Physikpraktika, Lernabende, an denen mehr geplaudert denn gelernt wurde, die Klausuren, in denen wir - so gut es ging - zusammengearbeitet hatten, und schließlich diese neue, gemeinsam erlebte Horrorgeschichte der Rattenpräparation.

Haben wir uns nun verändert?

Ja und nein. Einerseits gehen mir die abgeschnittenen Köpfe und zuckenden Schwänze nicht mehr aus dem Kopf. Andererseits erinnere ich mich an sehr tiefsinnige Gespräche über den in gar nicht allzu weiter Ferne stattfindenden Präpkurs, Diskussionen über Sinn und Unsinn solcher Aktionen und die Gefühle, sich an Leichen (sei es nun Mensch oder Tier) vergreifen zu müssen... Und ich denke: Ebenso wenig wie uns die Multiple-Choice-Klausuren zu denkunfähigen, engstirnigen Bücherhockern gemacht haben, haben uns Erlebnisse wie die Rattenpräparation in blutrünstige, gedanken- und gefühllose Monster verwandelt. Und das wird hoffentlich immer so bleiben.

(27.03.98) - jurij

Palmenstrand
01.09.2005, 13:40
ich fand deine bilanz vom ersten semester echt toll *applaus*


bin gespannt, wie mein erstes semester so wird ;)