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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Agranulozytose unter Metamizol - wer hat's erlebt?



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Lava
22.03.2011, 13:12
Auf unserer Intensivstation liegt grad eine junge Frau mit einer knackigen Leukopenie von 200 Leukos/µl. Man vermutet, dass es sich um eine Angranulozytose nach Einnahme von Novalgin handelt. Jeder weiß, dass Novalgin diese Nebenwirkung hat und sie teilweise mit einer Häufigkeit von 1:1000 angegeben wird. Aber keiner von uns glaubt das und wir alle verschreiben Novalgin wie Traubenzuckertabletten. Jetzt bin ich da echt am zweifeln! Im stationären Bereich macht ja hin und wieder ein Blutbild, aber wir verschreiben Novalgin auch gern ambulanten Patienten und da wird NIX kontrolliert! (Thrombozytenzahl bei NMH auch nicht btw, aber die Kontrolle empfehlen wir zumindest in unseren Briefen).

Hat jemand von euch auch schonmal einen solchen Fall erlebt? 1:1000 halte ich nach wie vor nicht für realistisch, sonst würden wir sowas viel häufiger sehen, aber das ist schon heftig. Ist nicht mal klar, ob die Frau das überlegen wird :-?

Keenacat
22.03.2011, 13:19
Tragisch, aber an GIT-Blutungen nach NSAID versterben jedes Jahr so viel mehr Menschen (grob ausm Kopf sinds so um die 2000, glaub ich), dass mir nach wie vor nicht ersichtlich ist, warum Novalgin eine solche Sonderstellung einnimmt.

Ansonsten leider nichts sinnvolles beizutragen, ich drück die Daumen, dass ihr die Patientin durchbekommt.

sdae
22.03.2011, 13:28
Die Fachinfo zu Novalgin gibt die Häufigkeit einer Agranulozytose mit sehr selten (also <1/10.000) an.

Im Aktories-Förstermann (s.241) steht, das Risiko läge bei einer Behandlungsdauer von 1 Woche bei etwa 1/1Mio.

Keine Ahnung ob man darauf jetzt die Konsequenz einer Blutbildkontrolle bei jedem Patienten ziehen sollte. Aufklären und die Anweisung geben bei Fieber, Entzündungen im Mund-Nase-Rachenbereich , etc. sofort einen Arzt aufzusuchen sollte man bestimmt.

Als Berufsanfänger hab ich das nie gesehen.

Ich hoffe, ihr kriegt die durch.

Rico
22.03.2011, 14:29
Handheb! Zweimal bisher.

Die eine war ne 80jährige, die in einem externen Haus Novalgin bei Polyschmerztherapie gekriegt hatte und bei uns trizytopen aufgeschlagen ist. Die hat die intensivmedizinische Versorgung abgelehnt und ist dann unter palliativer Therapie in meinem Dienst gestorben.

Die andere war ne 19-jährige, Z.n. Sturz vom Pferd vor ein paar Wochen, ambulant Novalgin gekriegt, zwei Wochen genommen, dann ne Woche pausiert und dann wieder angefangen (so komme es wohl häufiger zu Agranulozytosen), hat sich dann in ner HNO mit der massiven Tonsillitis vorgestellt, die wollten operieren, aber präop 10.000 Thrombos, Hb 7, Leukos 2.500 ==> eher keine OP, sondern Fahrkarte zu uns.
Bei uns dann im weiteren Verlauf unter Maximaltherapie komplette Aplasie mit 0 Leukos, <5k Thrombos (EKs und Thrombos natürlich substituiert) für fast zwei Wochen, multiple Abszesse im Bereich der Tonsillen und des Pharynx mit Schwellung und akuter Verlegung der Atemwege (fiberoptische Notintubation hat gerade eben so noch geklappt, nebendran hatte der HNO schon das Set für die Nottracheotomie aufgemacht).
Dann weiterer protrahierter Verlauf mit critical illness PNP (größtenteils reversibel) und (leider persistierender) Schluckstörung nach diesen Abszessen - ingesamt zwar nochmal gut gegangen aber leider keine restitutio ad integrum. :-((

Wobei ich trotzdem nicht auf Novalgin verzichte, ist ja ein gutes Medikament und die Agranulozytosen ja trotz allem selten. Da richten die Alternativen (Ibu, Diclo, etc) mehr Schaden an (GIBs - auch trotz PPI). :-meinung

Die Niere
22.03.2011, 15:00
Bei kumulativ etwas mehr als 7 Jahren Erfahrung habe ich einen Fall erlebt. Das war ebenfalls eine junge Frau mit Fraktur Dig V der Hand und Agranulozytose nach Novalgingabe. 3 Wochen Intensiv und lange Hospitalisatio mit schlussendlich gutem Ende.

Ich geb es aber troztdem noch gerne und konsumiere selbst :-)

Lava
22.03.2011, 15:40
Ja, ihr habt ja recht. Jedes Medikament hat Nebenwirkungen und mache sind eben auch mal schwerwiegend. Aber nachdenklich stimmt einen die Geschichte schon.

Evil
22.03.2011, 17:00
In 7 Jahren bisher noch keine Agranulozytose auf Novamin erlebt, dafür aber schon mehrere anaphylaktoide Reaktionen (was als UAW auch deutlich häufiger vorkommt und genauso gefährlich ist).


Die eine war ne 80jährige, die in einem externen Haus Novalgin bei Polyschmerztherapie gekriegt hatte und bei uns trizytopen aufgeschlagen ist. Die hat die intensivmedizinische Versorgung abgelehnt und ist dann unter palliativer Therapie in meinem Dienst gestorben.
Ist da Novamin als Ursache gesichert? Oft haben alte Menschen ein nicht diagnostiziertes MDS, und wenn das dann in eine AML übergeht, kann da auch schonmal ein panzytopenischer Verlauf herauskommen.

Rico
22.03.2011, 18:08
Ist da Novamin als Ursache gesichert? Oft haben alte Menschen ein nicht diagnostiziertes MDS, und wenn das dann in eine AML übergeht, kann da auch schonmal ein panzytopenischer Verlauf herauskommen.Ja, die ist noch KM punktiert worden, Befund war passend, nix malignes.

Fino
22.03.2011, 19:10
Na ja, in UK ist das Medikament ja nicht auf dem Markt, habe es auch noch nie verschrieben aus eben eiwl es nicht zur Verfuegung steht (daher auch keine NW erlebt). Aber stimmt schon: die NSAIDS sind auch nicht ohen, aber sie werden wie Smarties eingenommen...

gnuff
22.03.2011, 20:44
Yupp, in meiner ersten Klinik... Frau mittleren Alters, letaler Verlauf... an Details kann ich mich leider nicht mehr erinnern...

Die Niere
23.03.2011, 06:23
Wenn wir jedoch nun einmal die Erfahrungen mit z.B. fulminanten Blutungen oder Ulcus bedingten Peritonitiden nach NSAR aufführen würden oder schwere allergische Nebenwirkungen auf was-weiss-ich, dann würde man hier sicher nicht nur einzelne Fälle beschreiben können. Ich mag das Medikament, mein Chef leider nicht und deswegen ist es hier tabu (leider!).

lg, n

Janny
23.03.2011, 07:54
Agranulozytose unter Novalgin habe ich bisher noch nicht gesehen, einmal eine allergische Reaktion.
Ich bin froh, dass ich das Zeug verschreiben kann und darf (auch unsere Schmerztherapeuten schwören darauf) - gibt ja doch mehr als genug Patienten, bei denen NSAR kontraindiziert sind. Und von Paracetamol halte ich nicht so viel, nehme ich nur bei Kindern.

Christoph_A
23.03.2011, 07:59
In 6 Jahren Innere noch nie erlebt, habe aber auch einige allergische Reaktionen darauf gesehen. Ansonsten is das ein tolles Medikament, das ich nicht missen möchte, sowohl was Schmerz- als auch Fiebertherapie angeht und nehm es auch selber gerne bei nem grippalen Infekt.
Wenn ich mir anschaue, was NSAR alles anrichten (insbesondere wieviele akute Nierenversagen ich auf massiven Dicloeinsatz seitens chirurgisch/orthopädischer Kollegen), sehe ich in der Agranulozytose keine allzu große Gefahr.

Sebastian1
23.03.2011, 09:08
Und von Paracetamol halte ich nicht so viel, nehme ich nur bei Kindern.

Gerade bei Kindern erreichst du bereits mit einer analgetisch (schwach) wirksamen Dosis bereits eine Glutathiondepletion. Bei regelmäßiger Einnahme (wobei das "regelmäßig" bereits die Anwendung bei fieberhaften Erkrankungen meint) gibt es eine statistisch signifikant erhöhte Inzidenz von späteren Atopien und Asthma.

Ibuprofen dagegen ist analgetisch schneller und besser wirksam, für Kinder ab 3 Monaten zugelassen und kennt die o.g. Probleme nicht.

Ich selbst verwende PCM gar nicht mehr, bei keinen Patienten.


Bezüglich der Ausgangsfrage: Wissentlich erlebt habe ich noch keine durch Novalgin getriggerte Agranulozytose. Zweimal mutmasslich durch das Novalgin ausgelöste anaphylaktoide Reaktionen, die allerdings unter Monitoringbedingungen auftraten und rasch in den Griff zu bekommen waren.

Leelaacoo
23.03.2011, 09:49
Zwei mal erlebt, beide Male jedoch nach i.v.-Gaben...ein Mann mit ca. 30 Jahren, eine Frau um die 70...beide habens überlebt, waren aber länger auf ITS. Unser OA schwört drauf, dass das Risiko bei i.v. -Gaben deutlich höher wäre, ich habe dazu nicht viel gefunden, kennt ihr Studien?
Ich nehme selbst Novalgin, wenn die Migräne droht...ist ein schönes Medikament...aber wie alles andere eben auch mit möglichen NW. Wie ihr schon sagtet...kumulative NW der NSARs und die hübschen cerebralen Blutungen unter ASS sowie regelmäßig irgendwelche opiatüberhängigen älteren Leute...muss man wie immer abwägen...
Was ich aber nicht verstehe ist die Praxis, in alle post-OP 2,5 g Novalgin i.v. reinlaufen zu lassen...diese Dosierungen sind meist hochgradig unnötig und nach 1 g Novalgin sollte es bei anhaltenden Schmerzen eben was potenteres geben:-meinung In unserer Chir. ist aber der "2,5 g"-Tropf einfach mal bei jedem dran...ein bisschen Achtung vor NW und Maximaldosen sollte man schon haben...

LG Lee

Relaxometrie
23.03.2011, 09:56
Ich selbst verwende PCM gar nicht mehr, bei keinen Patienten.
Bei Kindern wegen der Glutathiondepletion. Aber warum verwendest Du PCM bei Erwachsenen nicht mehr?

Die Niere
23.03.2011, 10:05
Wenn wir mal ehrlich sind:
- Novalgin: allergische Reaktionen, Agranulozytoyse
- NSAR: GI-Blutungen, Ulcera, NI usw.
- PCM: Depletion bei Kindern, hepatotoxisch bei Erwachsenen
- Morphine: Abhänigkeitspotential (wobie ich das bei den chron. alten Schmerzpatienten nicht so schlimm empfinde, leider kenne ich mind. 3 Fälle sehr junger Frauen, die schlussendlich nach grosser OPS und viel Morphinen ohne Methadon nicht mehr leben können)

Zusammengenommen spricht gegen jedes analgetische Medikament etwas. Ich persönlich würde aber keines dieser Medis kategorisch ausschliessen und einfach Risikogruppen-assoziiert meiden, ansonten geben.

gruesse, die niere

Relaxometrie
23.03.2011, 10:09
Zusammengenommen spricht gegen jedes analgetische Medikament etwas. Ich persönlich würde aber keines dieser Medis kategorisch ausschliessen und einfach Risikogruppen-assoziiert meiden, ansonten geben.
Gute Zusammenfassung.
Aber die PCM-Nebenwirkungen beim Erwachsenen (solange man sich an therapeutische Dosierungen hält) scheinen mir noch die geringsten zu sein. Daher auch meine Frage an Seb1.

Sebastian1
23.03.2011, 10:12
Bei Kindern wegen der Glutathiondepletion. Aber warum verwendest Du PCM bei Erwachsenen nicht mehr?

Unzureichende analgetische Potenz, ebenfalls kurzfristig Glutathiondepletion (mach doch mal über ein paar Tage im Verlauf die Leberwerte bei PCM-Regelmedikation) - und viele bessere Alternativen. Einzige Ausnahme: Novaminunverträglichkeit und zwangsläufige Notwendigkeit einer parenteralen Gabe. Ausser Novalgin und Perfalgan werden bei den Nicht-Opioid-Analgetika da die Alternativen knapp. Aber dann eben Opiate in benötigter Wirkdosis, Koanalgetika und Co.
Man braucht PCM schlicht und ergreifend nicht - und aufgrund der Frequenz, mit der es im Rahmen einer suizidalen Absicht eingeworfen wird, würde ich es eh am liebsten vom Markt verschwinden sehen - oder aber zumindest in der Verschreibungspflicht.

Nachtrag: Coxibe gibts noch i.v., zB Dynastat.... aber teuer und auch mäßig tolles UAW-Profil....

Relaxometrie
23.03.2011, 10:19
Unzureichende analgetische Potenz
Da habe ich nicht genug Erfahrung, um das zu beurteilen. Ich nehm's sehr selten bei zum Glück seltenen Kopfschmerzen, da hilft's mir gut.
Aus dem Anästhesie-PJ kenne ich das Perfalgan, was in dem Haus wohl gerade neu war und mal getestet wurde. Dementsprechend haben post-op einige Patienten Perfalgan laufen gehabt. Ist aber wohl (oder war zumindest damals) ziemlich teuer.


aufgrund der Frequenz, mit der es im Rahmen einer suizidalen Absicht eingeworfen wird, würde ich es eh am liebsten vom Markt verschwinden sehen - oder aber zumindest in der Verschreibungspflicht.
DAS ist wahr. Ich kapiere auch nicht, warum ein so potentes Suizidalikum (:-keks) verschreibungsfrei zu kaufen ist.