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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Warum wollen junge Mediziner keine Praxis auf dem Land führen?



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Zwitscherliesel
03.08.2011, 10:31
Hallo liebe Mediziner,

Für einen Bericht in einer ostwestfälischen Zeitung möchte ich euch fragen,
was die Nachteile an einer eigenen Praxis auf dem Land sind.

Ich kann das ganze ja nur von der Außenansicht betrachten,
deshalb schildere ich mal einen aktuellen Fall:

Ein Allgemeinmediziner mit solidem Kundenstamm (viele über 70)
findet keinen Nachfolger und geht demnächst in den Ruhestand.
Über lokale Krankenhäuser hat er versucht, junge Ärzte anzusprechen
und sie für seine Praxis zu interessieren. Das verlief ohne Erfolg.

Was sind für euch die Nachteile an einer eigenen Praxis in der Vorstadt oder auf dem Land?

Warum ist das alles so schrecklich unattraktiv für euch?

Freue mich über Feedback!

Viele Grüße!

pottmed
03.08.2011, 10:43
Oh, die Liste wird lang ( und ich könnte mir sogar vorstellen mich als Allgemeinmediziner nieder zu lassen):

1.) hohes eigenes finanzielles Risiko bei relativ schlechter Vergütungssituation für Patienten in der gesetzlichen Krankenversicherung (könnte sich in Zukunft evtl. ändern)

2.) hohe Arbeitsbelastung (vor allem auf dem Land wird hohe Verfügbarkeit des Arztes erwartet)

3.) in heutiger Zeit ist der Partner/ die Partnerin oft genauso gut oder besser qualifiziert als der Arzt/ die Ärztin und findet auf dem Land keinen adäquaten Job

4.) geringes kulturelles Angebot

5.) Wettbewerb um Ärzte als Arbeitskraft -> es gibt auch attraktivere Standorte (Krankenhäuser in Städten), die oft händeringend Fachärzte suchen

6.) geringe Infrastruktur

7.) geringe Vereinbarkeit von Niederlassung und Familie ( vor allem bei der zunehmenden Feminisierung der Medizin ein Problem, aber auch nicht alle Männer wollen die Familie vernachlässigen und nur in ihrem Job aufgehen)

Wahrscheinlich habe ich noch ca. 2000 Gegenargumente vergessen, vielleicht möchte noch jemand die Liste vervollständigen ;-)

MissGarfield83
03.08.2011, 10:47
+ Arbeitsbelastung
+ schlechte work/life balance
+ Niederlassung mit vielen Hindernissen wie Bürokratie, fehlender Finanzieller Sicherheit ( durch nachträgliche Festlegung des Punktewertes ) behaftet
+ Landarzt heisst oft rund um die Uhr für die Patienten da zu sein - aufgrund fehlender Dienstbesetzungen nicht unwahrscheinlich - wo bleibt da das Privatleben?
+ Was ist mit dem Partner/der Partnerin ? Wird er/sie vor Ort auch einen Job finden ?
+ Was ist mit Kindern ? Ausbildungsmöglichkeiten?
+ Was ist mit dem Freizeitwert der Region ?
+ Was ist mit kollegialem Austausch?
+ Ständig für Patienten greifbar zu sein ist für mich persönlich nicht das was ich mir vorstelle.
+ Eine übernommene Praxis ( neue Geräte usw ) muss abgezahlt werden - wer schafft das heutzutage noch bei einem Patientenstamm der wenig Privatpatienten / viele alte und chronisch Kranke enthält?

Zwitscherliesel
03.08.2011, 11:14
Hallo MissGarlfiel und pottmed!

Danke für eure Rückmeldungen.

MissGarfield: Bei meinem Fall handelt es sich um eine praxis, die in einer
Vorstadt zu einer mittelgroßen Stadt liegt. Bis zum Stadtkern sind es
rund 5 kilometer.

In besagter Vorstadt wurde in den vergangenen Jahren viel Bauland ausgewiesen. Es ziehen immer mehr junge Familien dorthin. Es gibt eigene Schulen und Kindergärten, einen großen Super- und Baumarkt.

Den Notdienst teilt sich der Dr. mit drei weiteren Kollegen aus der Umgebung
(jeweils auch rund 5 Kilometer entfernt.)

Und noch einmal generell gefragt:
Habt ihr als junge Meidiziner Ideen, was gegen den Ärztemangel auf dem Land getan werden könnte? :-nix

MissGarfield83
03.08.2011, 12:30
3 Mediziner ... und was ist mit dem Rest der Woche/ den Wochenenden ? D.h. jeden 2/3 Tag Dienst ... och nö.

Wie ist der Freizeitwert dieser Mittelgroßen Stadt? Gibt es Bars, Cafes, Kino, Theater, Sportmöglichkeiten usw usf? Wie lange haben die Supermärkte überhaupt auf? Gäbe es eine Ganztagsbetreuungsmöglichkeit für Kinder? Wie ist das Umfeld - gibt es gutbezahlte Jobs für Akademiker ?

Wie du siehst ist es egal ob eine mittelgroße Stadt in der Nähe ist wenn sie unattraktiv ist und / oder sonstige Rahmenbedingungen nicht stimmen.

Was getan werden könnte : gute Infrastruktur zu schaffen, es sollte daran gedacht werden dass der Arzt nicht nur zum arbeiten dort ist sondern dort auch leben muss und dementsprechend das Freizeitangebot, die Einkaufsmöglichkeiten, die Verkehrsanbindung usw auch stimmen muss. Es sollte nicht nur 3 Kollegen geben die sich den Notdienst teilen müssen ...

Für mich persönlich ist es unattraktiv eine Praxis zu gründen / zu übernehmen - von daher werde ich im Krankenhaus bleiben ... und dorthin gehen wo es für mich persönlich die besten Rahmenbedingungen gibt ... denn in den großen Fächern kann man sich heutzutage bei den vielen Stellen einfach aussuchen wohin man geht.

pottmed
03.08.2011, 12:43
An dieser Stelle vielleicht auch ganz interessant....

http://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/berufspolitik/article/664748/bahrs-aerztegesetz-erhaelt-segen.html

Was haltet ihr davon ?

Relaxometrie
03.08.2011, 12:53
Bzgl. der Infrastruktur muß man meiner Meinung nach allerdings auch die Kirche im Dorf lassen. Mir scheint bzgl. einiger Dinge eine "Ja-aber-Mentalität" zu herrschen, die einen letztlich handlungsunfähig macht.
Dorf ist nunmal Dorf und Stadt ist Stadt und ich glaube nicht, daß die Landarztmisere ausschließlich an der Infrastruktur der ländlichen Gegenden festzumachen ist. Wenn man das Leben im ländlichen Umfeld mag, weiß man, was man erwarten kann, und wofür man eben längere Wege zurückzulegen hat, als ein Städter.
Ich hätte mir ein Leben als Allgemeinmedizinerin auf dem Land durchaus vorstellen können. Was mich bisher davon abgeschreckt hat, ist daher nicht das Leben in einem infrastrukturschwachen Raum, sondern:

-Die Verpflichtung, den Notdienst mitzugestalten, welcher durch die schon besprochene geringe Kollegendichte einfach zu häufig anfällt.
-Durch die geringe Arztdichte fallen bei Hausbesuchen und vorallem im Notdienst teils extrem weite Anfahrtswege an. Wenn ein Hausbesuch aber ohnehin schon mehr oder weniger ein Verlustgeschäft ist, steigert sich die Laune nicht gerade, wenn man dann noch kilometerlang anfahren muß.
-ausufernde Bürokratie, die einem immer mehr Zeit von dem raubt, was man eigentlich machen möchte: Patientenversorgung
-schlechte Weiterbildungsbedingungen, wenn man in einigen für die Allgemeinmedizin wichtigen Fachgebieten (Pädiatrie, Gyn, Psychiatrie, Chirurgie) nur einen kurzen Einblick erhalten möchte


Und last but not least haben mich aktuell die Arbeitsbedingungen in der Inneren abgeschreckt, wo man ja mindestens drei Jahre verbringen muß, um dann in die Praxis-Weiterbildung zu wechseln.
Ich habe die Allgemeinmedizin zwar noch nicht ganz abgeschrieben, fange im kommenden Monat aber erstmal in der Anästhesie an. Wenn's passt, bleibe ich in dem Fachgebiet. Wenn nicht, muß ich die Karten neu mischen :-D

Übrigens hatte ich mich Anfang 2011 in Bielefeld in der Inneren beworben. Hätte jetzt im August anfangen sollen. Da es aber seitens des Klinik zu viel Chaos gab, habe ich einfach mal von der Stelle dort abgesehen :-))
Auch eine Möglichkeit, künftige Landarztinteressenten in OWL zu vergraulen :-nix

Zwitscherliesel
03.08.2011, 13:08
Hallo!

Vielen dank nochmal für eure tollen Antworten!

Momentan tut sich ja viel in der Politik, heute hat Gesundheitsminister Daniel Bahr ein neues Versorgungsgesetz auf den Weg gebracht, dass im kommenden Jahr gelten soll.

Unter anderem wird jetzt überlegt, Prämien zu zahlen an ärzte, die praxen im ländlichen Bereich übernehmen. Außerdem soll der Arzt künftig soviele Patienten
behandeln dürfen wie er möchte/kann und dafür auch entsprechend bezahlt werden. Vorher gab es da wohl eine Frist und alle(s) darüber hätte der Arzt für lau behandelt.

Mal provokant gefragt: Ist das nicht Anreiz genug, aufs Land zu gehen?
Klar hat ein landarzt ne längere Arbeitszeit, als ein Arzt in einem Nahversorgungszentrum. Aber wenn es doch auch dafür mehr Kohle gebe?

Viele Grüße!

Zwitscherliesel
03.08.2011, 13:29
Übrigens hatte ich mich Anfang 2011 in Bielefeld in der Inneren beworben. Hätte jetzt im August anfangen sollen. Da es aber seitens des Klinik zu viel Chaos gab, habe ich einfach mal von der Stelle dort abgesehen :-))
Auch eine Möglichkeit, künftige Landarztinteressenten in OWL zu vergraulen :-nix

Das ist wirklich ärgerlich und in der Tat kein gutes Zeichen.

pottmed
03.08.2011, 14:02
Natürlich ist eine höhere Vergütung ein wichtiger Punkt und sicherlich auch ein Argument. Aber Geld alleine ist auch nicht alles.

Wie gesagt, vor allem die hohe Dienstbelastung ist ein Problem und die wird ja durch eine bessere Vergütung auch nicht besser :-meinung

Strodti
03.08.2011, 14:36
Die Dienstbelastung hängt ja auch von den örtlichen Regelungen ab. Bei uns (Oldenburger Umland) haben sich Bezirke zu einem Notdienstbereich zusammengeschlossen und es wird einiges durch die kassenärztliche Notdienstpraxis in einer Nachbarstadt abgefangen. Ein Hausarzt in unserem Dorf (ca. 15.000 EW) meinte mal zu mir, dass er auf 2 Dienste im Quartal kommt. Finde ich jetzt nicht so schlimm...

Hellequin
03.08.2011, 16:20
Momentan tut sich ja viel in der Politik, heute hat Gesundheitsminister Daniel Bahr ein neues Versorgungsgesetz auf den Weg gebracht, dass im kommenden Jahr gelten soll.

Angekündigt wurde auch in der Vergangenheit viel und letztendlich sind wir doch doch in der Situation gelandet in der wir jetzt sind. Häufig ist das was man an der einen Seite dazubekommen hat, auf der anderen wieder gekürzt worden.
Ich glaube auch nicht mal das es hauptsächlich das finanzielle ist was die Leute abschreckt, sondern zum eine hohe Unwägbarkeit der Gesamtsituation und zum anderen ein ausufernder Bürokratismus.

Medi2009
03.08.2011, 17:06
Es ist ja nicht so, dass nur Ärzte dem Ländle fern bleiben, sondern das ist eher als allgemeiner Trend zu betrachten, die ganzen jungen Leute ziehen weg. Ganze Landstriche in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenbung werden in nicht allzu entfernter Zukunft menschenleer sein, und wer möchte schon 2 dutzend Rentner auf einer Fläche von mehreren Quadratkilometern betreuen? Also warum sollte man dort hingehen, wo Andere schon flüchten?
Ein anderes Problem des Landarztdaseins wurde ja schon aufgegriffen, denn wenn es in nem größeren Umkreis keinen anderen Arzt gibt ist es ein 24/7 Job, da hilft dann auch die zusätzliche Kohle vom Bahr nicht, wenn man für erarbeitetet Annehmlichkeiten eh keine Zeit hat ;-)

medi2319
03.08.2011, 19:45
Ich persönlich hätte keine Lust nach knapp 12 Jahren (6 Jahre Medizinstudium + 6 Jahre Weiterbildung zum Facharzt) harten Studiums irgendwo in der Walachei der Gastroenteritis von Herr Meier hinterher zu laufen. Da wüsste ich irgendwie nicht wozu ich 12 Jahre gelernt habe.

Wie könnte man es besser machen: Vielleicht durch die Wiedereinführung der früheren praktischen Ärzte. Hab mal gehört, dass es früher wohl möglich gewesen war, sich direkt nach der Approbation niederzulassen. Ohne weitere 6 Jahre elendes lernen

Muriel
03.08.2011, 19:53
Zudem sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, für die Arbeit, die man geleistet hat, auch bezahlt zu werden, und nicht als tolles Superduperangebot hingestellt werden. Das ist eine Unverschämtheit :-meinung Unsere Praxis hat im ersten Quartal '11 ein Drittel der erbrachten Leistungen im GKV-Bereich nicht erstattet bekommen, schlimmer noch: Die Kosten dafür (Miete, Personal, Strom...) wurden als Verlustgeschäft getragen :-dagegen

Evil
03.08.2011, 21:15
Da wüsste ich irgendwie nicht wozu ich 12 Jahre gelernt habe.
Wofür lernst Du denn dann? Um Leben zu retten und Heldentaten zu vollbringen?

Kackbratze
03.08.2011, 23:52
Die Heldentat eines Landarztes besteht darin, bei der Enteritis die paradoxe Komponente zu entdecken, damit der Krebs früher behandelt wird.
Solange die Arbeit in der Praxis nicht adäquat bezahlt wird, geht da freiwillig kaum jemand hin.

sodbrennen
04.08.2011, 00:45
Hat eigentlich jemand das (http://www.br-online.de/bayerisches-fernsehen/nachfolger-gesucht/nachfolger-gesucht-thomas-ohrner-arzt-ID1308231857064.xml) hier gesehen?

Hades
04.08.2011, 01:02
Kann man ja auch umgekehrt fragen.

Würde ein Journalist eher zu einer Provinzzeitung gehen, bei der er mehr arbeiten und ständig verfügbar sein müsste oder doch lieber zu einer großen Zeitung nach München oder Frankfurt mit weniger Arbeitszeit aber gleichem oder besserem Gehalt?

Ich denke die Meisten die Medizin studieren, wollen gerne Patienten helfen aber wieso wird denn immer erwartet, dass sie gleichzeitig ihr eigenes Leben vernachlässigen oder einschränken?
Wie schon Medi2009 sagte, alles Geld der Welt hilft nicht wenn man dieses nicht nutzen kann, da man ständig an die Praxis gebunden ist.

Naja.. und manche Menschen wollen eben einfach nicht aufs Land.

medizininteressiert
04.08.2011, 08:24
Hat eigentlich jemand das (http://www.br-online.de/bayerisches-fernsehen/nachfolger-gesucht/nachfolger-gesucht-thomas-ohrner-arzt-ID1308231857064.xml) hier gesehen?

hat natürlich noch den schönen Nebeneffekt im Fernsehen gewesen zu sein. Vielleicht wird das den ein oder anderen Patienten dazu bewegen, lieber diese Praxis aufzusuchen. Interessant ist bei den Kandidaten, dass die beide beim BW waren.