PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Wir waren keine Milupa Kinder!



mangold
10.12.2003, 17:29
Wir haben es tatsächlich geschafft. Kaum zu glauben, aber es ist so.
Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft, speziell was der Gesetzgeber
und die Bürokraten, die Medien und die Informationsgesellschaft uns
täglich vorbeten und verbieten, müssten wir alle, die in den Sechzigern
bis Anfang der Achtziger aufgewachsen sind, längst tot sein.

Unsere Kinderbetten waren mit bleihaltigen Farben bemalt und Formaldehyd
sickerte aus jeder Pore. Ganz zu schweigen vom Tapetenleim, dem Kleber
des Linoleums oder den PVC-Dämpfen des Stragula. Wasserfeste Filzstifte
hatten Ausdünstungen die benebelten und wer erinnert sich noch an den
leicht salzigen Geschmack des abzuleckenden Tintenkillers?

Steckdosen, Medizinflaschen, Schranktüren und Schubladen waren noch
nicht kindersicher. Messer, Schere, Gabel und Licht wurden uns zwar
verboten, aber meistens mussten wir uns erst einmal daran verletzten um
es zu glauben.

Unsere Fahrräder, Roller und Rollschuhe fuhren wir ohne Schützer und
Helme.

Die Risiken per Anhalter in den nächsten Ort zu fahren waren uns
unbekannt!

Zum Thema Auto erinnere ich mich weder an einen Sicherheitsgurt, noch an
Airbags, Kopfstützen, ABS oder ähnliche Sicherheitsvorrichtungen im
Wagen meines Vaters.

Man saß zwar hinten, aber an einem heißen Sommertag gab es doch
nichts Schöneres als seinen Kopf aus dem Fenster des fahrenden
Autos zu stecken und sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen zu lassen,
dass man kaum noch Luft bekam.

Wasser haben wir direkt aus dem Gartenschlauch getrunken und nicht aus
einer Flasche.

Wir aßen fettige Speisen und frischgebackenes Brot mit ordentlich
Butter drauf, dazu gab es überzuckerte Limonaden oder künstlich
gefärbtes Sunkist. Zu fett geworden sind wir deswegen nie, weil wir
immer draußen waren.

Wir haben zu fünft aus einer Limoflasche getrunken und es ist
tatsächlich keiner daran gestorben.

Wir haben stunden- und tagelang an Seifenkisten oder ähnlichen Gefährten
geschraubt, die wir aus rostigem Schrott und splitterigem Holz
konstruiert hatten. Dann sind wir den Hügel damit runtergebrettert nur
um festzustellen, dass wir die Bremsen vergessen hatten. Nachdem wir ein
paar Mal in der Böschung gelandet waren, haben wir gelernt auch dieses
Problem zu lösen.

Wir gingen in der Früh raus und haben den ganzen Tag gespielt, höchstens
unterbrochen von Essenspausen und kamen erst wieder rein, als es dunkel
wurde und man den Fußball nicht mehr richtig sehen konnte. Wir waren
nicht zu erreichen. Keine Handys!

Wenn es regnete spielten wir bei Freunden DKT oder Mensch ärgere dich
nicht, Mühle oder Dame und bauten mit Matchbox Autos und Holzbauklötzen
ganze Städte auf. Wir hatten weder Playstations oder Nintendo, X-Boxen
oder Videospiele, keine PCs, keine 50 Fernsehkanäle oder Surround
Anlagen.

Ins Kino zu gehen war ein Ereignis, für das man sich herausputzte und
das einem vor Vorfreude den Magen kribbeln ließ. Es gab noch Vorfilme,
die immer eine Überraschung waren, weil keiner wusste was zu erwarten>
war und wenn zufällig ein Donald Duck oder Micky Maus Film dabei war,
hatte man das ganz große Los gezogen.

Wir hatten Freunde! Wir gingen raus und haben uns diese Freunde gesucht.

Wir haben Fußball gespielt mit allem was sich kicken ließ und wenn einer
einen echten Lederball hatte war er der King und durfte immer
mitspielen, egal wie schlecht er war.

Wir spielten Völkerball bis zum Umfallen und manchmal tat es
weh, wenn man abgeschossen wurde. Wir sind von Bäumen und Mauern
gestürzt, haben uns geschnitten, aufgeschürft und haben uns Knochen
gebrochen und Zähne ausgeschlagen. Wir hatten Unfälle! Es waren einfach
Unfälle an denen wir Schuld waren. Es gab niemanden, den man dafür
verantwortlich gemacht hat und vielleicht sogar noch verklagt hat. Wer
erinnert sich noch an Unfälle?

Unsere Knie und Knöchel waren von Frühjahr bis Herbst lädiert und ein
Schienbein ohne blaue Flecke gab es nicht.

Wenn wir uns an Brennnesseln gebrannt haben, oder uns eine Mücke
gestochen hatte, haben wir entweder drauf gespuckt oder drauf gepinkelt.

Geholfen hat alles.

Wir haben gestritten und gerauft, uns gegenseitig grün und blau
geprügelt und gelernt damit zu leben und darüber weg zu kommen. Wir
haben Spiele erfunden mit Stöcken und Bällen, haben mit Ästen gefochten.
Und obwohl es uns immer wieder prophezeit wurde, haben wir uns kaum ein
Auge ausgestochen.

Wir sind zu einem Freund geradelt, haben an der Tür geläutet und sind
dort geblieben, einfach nur so, zum Spielen. Manche Schüler waren nicht
so schlau wie andere, also haben sie eine Klasse wiederholt. Sie sind
nicht durchgefallen, sondern wurden von den Lehrern einfach
zurückgestuft.

Noten bei Prüfungen wurden nie manipuliert, egal aus was für Gründen.

Wir waren für unsere Aktionen selbst verantwortlich. Konsequenzen waren
immer zu erwarten, wenn wir Mist gebaut hatten. Der Gedanke, dass sich
ein Elternteil für uns opfert, wenn wir mit dem Gesetz in Konflikt
geraten waren, war undenkbar. Im Gegenteil, die Eltern stellten sich
meistens auf die Seite des Gesetzes.

Stellen Sie sich das einmal vor! Unsere Generation hat einige der
größten Erfinder hervorgebracht. Die letzten 50 Jahre waren eine wahre
Explosion an Innovationen und Ideen. Wir hatten Freiheit und Zwang,
Erfolg und Misserfolg. Verantwortung und Konsequenz. Und wir haben
gelernt, damit umzugehen. Erinnere Dich daran, wie Du aufgewachsen bist
und Du wirst sehen, was unseren Kindern heute fehlt. Als die Eltern
einmal ein Auge zudrückten, anstatt die Kinder mit übergroßer Vorsicht
zu erdrücken.

Unsere Eltern trauten uns zu, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Meistens hat es geklappt. Die paar Mal, die daneben, gingen zählen wir
zu unseren Lebenserfahrungen.