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Intensivling
21.02.2004, 11:50
Braucht jeder Intensivpatient Antibiotika?

Die selektive Darmdekontamination (SDD) des Verdauungstraktes ist ein Infektionsprophylaxeregime, das 1984 auf den Intensivstationen erstmals verwendet wurde. Seither versucht man Evidenz für den Benefit dieser Intervention zu evaluieren.
SDD kann einerseits aus einer rein topischen Anwendung nicht resorbierbarer Antibiotika bestehen oder aber eine Kombination von oral und für die ersten Tage parenteral verabreichte Antibiotika beinhalten. Der Großteil der Studien zeigt, dass der parenterale Teil des Regimes für die Wirksamkeit unbedingt notwendig sei. Allerdings gibt es auch Publikationen, die die alleinige topische Applikation befürworten.
Frühere Metaanalysen ergaben nur eine Verminderung der Infektionsrate bei Patienten mit SDD, während rezente Metaanalysen auch ein erhöhtes Überleben errechneten. Die größte Gefahr bei der Verabreichung von Antibiotika ist natürlich die Resistenzentstehung von Bakterien, die auch in Studien beobachtet werden konnte. Vancomycin-Verabreichung beispielsweise kann zum vermehrten Auftreten von vancomycinresistenten Stämmen führen und die Verwendung von Drittgenerationscephalosporine kann die Entwicklung von Pseudomonas und Extended-Spektrum B-Laktamase-Bildner, wie K. pneumoniae, erleichtern.
Der Großteil der bisher durchgeführten Studien verwendete nur relativ kleine Patientenzahlen und das Problem der Metaanalysen war die Verwendung unterschiedlicher SDD-Regime.
In der nun vorliegenden kontrollierten, randomisierten allerdings nicht geblindeten Studie sollte der Einfluss von enteral/parenteral SDD auf die Entstehung von resistenten Keimen und auf ICU- und Spitalsmortalität untersucht werden.
Die Autoren berichten eine signifikant geringere ICU- und Spitalsmortalität in der SDD-Gruppe. Weiters wurde in der Behandlungsgruppe auch eine geringere Kolonisationsrate mit resistenten Keimen beobachtet.

Sollen wir nun allen ICU-Patienten mit Antibiotika dekontaminieren?

Nun, in der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine statisch einwandfrei durchgeführte Studie. Mit 934 inkludierten Patienten handelt es sich um ein für Intensivstationen relativ umfangreiches Patientengut. Die wichtigsten Variablen werden nach den Guidelines des Lancet bzw. BMJ dargestellt. Es erfolgte eine saubere Sample-Size-Berechnung mit Annahmen, die der Realität entsprechen.

Es stellen sich allerdings folgende Fragen:
1. Für die differenzierte Realität der unterschiedlichen Intensivpatienten sind die Gruppen nicht differenziert genug. Es wird auch in der Diskussion erwähnt, dass bei internistischen Intensivpatienten mit einer höheren Rate von Kolonisation zu rechnen ist und daher eine SDD sich negativ auf die Resistenzentstehung auswirken kann.
2. Die wahren Todesursachen werden in der Arbeit leider nicht erwähnt, wären aber sehr aussagekräftig. Sterben die Patienten an Infektionen oder anderen Todesursachen?
3. Die „Number needed to treat“ wird in der Publikation nicht angeführt und beträgt etwa 13. Der positive Effekt der SDD kann daher bestenfalls bei der statistischen Auswertung der einzelnen ICU-Stationszahlen relevant werden.
4. Leider sind auch keine Infektionsraten angeführt. Auch wenn es sich dabei um Surrogate-Marker handelt, könnten zumindest die Bakteriämien erwähnt werden. Welche Keime können dabei nachgewiesen werden? Welche Resistenzen?
5. Surveillance-Kontrollen sind ein großes Problem - was weise ich dabei nach? Normale Flora? Infektionspathogene?
6. Der Nachweis einer geringeren Anzahl von resisteten Bakterien in der Behandlungsgruppe wird nicht schlüssig erklärt.
7. Auch die unterschiedlich verwendeten antimikrobiellen Substanzen sind erklärungsbedürftig? Warum werden in der verum-Gruppe soviel Chinolone und Peneme verwendet, wenn doch die Anzahl resistenter Keime so gering ist?
8. Interessant wären auch Scores, die den Pflegeaufwand beschreiben, anzuführen. Gibt es da Unterschiede in den beiden Gruppen?

Sollen wir nun SDD verabreichen? Wenn wir dieser Studie folgen, ja! Allerdings nur, wenn Ihre Patientenpopulation und auch das Resistenzspektrum mit der Studie ident sind.
Sollten sich Ihre Patientenpopulationen allerdings anders zusammensetzen und wenn resistente Keime ein Problem in Ihrem Krankenhaus sind, ist Vorsicht angebracht. Es müssen ganz einfach noch große Studien mit unterschiedlichen Patientenpopulationen durchgeführt werden, um diese Frage schlüssig zu beantworten. Bis dahin sollte nur in Ausnahmefällen SDD verabreicht werden.


[I]Quelle : www.medicom.cc

RS-USER-Bärentöter
21.02.2004, 13:05
meines Erachtens ist jede Gabe von Antibiotika ohne konkrete Indikation also Infekt falsch, sei es wie in diesem Fall "prophylaktisch" oder bei einer Grippe vom Hausarzt, damit der Pat. nicht jammert. Ausnahme ist natürlich die Leberzirrhose...

RS-USER-Katja
21.02.2004, 13:47
Ich wäre für "nein".

Erstens züchten wir schon genug multiresistente Bakterien in den Langzeit-Patienten, da muß man das nicht auch noch auf die Leute ausdehnen, die nur ein paar Tage da sind und diese Keime dann im ganzen Haus weitertragen.
Zweitens ist, wenn ich mich recht erinnere, das Wiederingangkommen der Verdauung dieser Patienten eine katastrophale Angelegenheit (bis es geht und wenn es dann geht...) und man muß probiotische Substanzen "zufüttern", um wieder an eine normale Darmflora zu kommen. Für diese probiotischen Lösungen habe ich gerade in iregndeiner Mikrobio-Zeitung einen hübschen Artikel über Kathetersepsis mit eben diesen Keimen gelesen - ein Risiko, das man auch nicht künstlich erhöhen muß.
Dann ist es, wie Du sagst, schon so, daß Intensivstationen völlig unterschiedliche Patientenpopulationen haben. Die THG-Intensiv ist anders als die Polytraumenabteilung ist anders als die allgemeinchirurgische Ecke ist anders als die Transplantabteilung ist anders als die Kardio-Intensiv ist anders als das Tal der Murmeln... äh, die NCHI-Intensiv usw.

Bevor ich irgendeine ziemlich heftige Antibiose, die ja auch nicht ohne Nebenwirkungen ist, einfach so in einen Patienten schütte, brauche ich harte Daten oder einen überzeugenden Grund (sei es die Endocarditisprophylaxe oder die präoperative Antibiose, wobei letztere sicher auch schon reichlich breit eingesetzt wird).