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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Rettungsdienstroman 2 - Durch die Nacht



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Anditi
06.06.2008, 23:17
Guten Abend,

Nach fast mehrjähriger Pause habe ich mich endlich wieder von der Muse küssen lassen und mich aufgerafft, eine Fortsetzung des hier auf Rippenspreizer geposteten Romans zu schreiben.

Zwar stehe ich erst am Anfang meiner Arbeit aber ich habe endlich wieder eine Geschichte im Kopf von der ich denke, dass sie es wert ist, erzählt zu werden.

Dabei möchte ich gleich einleitend darauf hinweisen, dass ich mich diesmal nicht von den langen Winternächten Finnlands sondern von meiner schwangeren Ehefrau inspirieren lasse. Damit will ich aber nicht behaupten, dass die Qualität darunter leiden würde sondern es ist als Warnung zu verstehen. Als Warnung für alle Ungeduldigen, dass die Fertigstellung neuer Kapitel diesmal unter Umständen etwas länger dauern könnte als beim letzten Mal.

Ansonsten bleibt im Prinzip alles beim Alten. Max Partovec ist immer noch als Rettungssanitär in Klosterneuburg, einer Stadt mittlerer Größe, ganz in der Nähe von Wien tätig und auch diesmal kann er einfach nicht "Nein" sagen als ihn seine Kollegin aus Schulzeiten um Hilfe bittet...

Bei der Story handelt es sich übrigens um einen Plot, den ich eigentlich für ein Filmprojekt meiner Theatergruppe entworfen habe, dass aber momentan mangels Masse in der Kasse tiefgefroren ist. Nun wird also ein neuer Max-Partovec-Roman daraus. (Der alte findet sich übrigens hier (http://www.rippenspreizer.de/forum/showthread.php?s=&threadid=2402).)

Als kleinen Appetithappen gibt es nun zunächst einmal den Prolog...

Prolog – Freitag, 30.05.2008

Pater Jan Maczyesky, der in Würde gealterte und bereits seit einigen Jahren eigentlich pensionierte Pfarrer der kleinen Kirchengemeinde von Mauerbach im Wienerwald hatte in den knapp fünfzig Jahren, die er bereits in den verschiedensten Orten und Funktionen für die Kirche tätig war, und auch in den Jahren davor schon wahrlich so viel Leid und Schmerz erlebt, ertragen und vor allem auch mitangesehen, dass man meinen hätte können, es gäbe keine Situation, die der alte Kirchenmann bereits gemeistert hätte. Geboren in Brenna, einem kleinen Ort im Südwesten Polens nahe der Grenze zur ehemaligen Tschechoslowakei, just an jenem schicksalhaften Tag an dem der zweite Weltkrieg mit all seiner Grausamkeit mit dem fingierten Überfall auf der Danziger Platte und dem lapidaren Satz: „Seit heute fünf Uhr früh schießen wir wieder zurück“ eröffnet wurde, war schon die frühe Kindheit von Jan Maczyesky geprägt von Tränen, Wut, Angst und Trauer. Seinen Vater, einen Beamten der polnischen Zollbehörde hatte er nie richtig kennen gelernt und seine ganze Erinnerung an ihn stützte sich auf ein vergilbtes Foto, das ihn auf dem Schoß seines mit der Uniform des polnischen Heeres bekleideten Vaters zeigte. Knapp ein Monat nach der Aufnahme dieses Bildes fiel sein Vater an der Front. Während die Deutschen das entlegene Tal, in dem sich sein Heimatort an die bewaldeten Hänge schmiegte weitestgehend verschont hatten, hatte sich die rote Armee, die Polen nach der Wende des Kriegsgeschehens in Stalingrad von Osten her aufrollte bereits im Anrücken den Ruf erworben sprichwörtlich keinen Stein auf dem anderen zu lassen, wenn es um die Suche nach deutschen Kriegsverbrechern und Kollaborateuren ging. Um den als Sicherstellungen genannten Plünderungen und Verbrechen der Soldaten zu entgehen, floh Jan Maczyeskys Mutter mit ihrem fünfjährigen Sohn bereits ein halbes Jahr vor Kriegsende auf verschlungenen Wegen nach Westen, in der Hoffnung bei Verwandten die es noch zu Kaisers Zeiten nach Wien verschlagen hatte, Unterkunft zu finden. Er hatte in all den Jahren danach vergeblich versucht, diese Wege ausfindig zu machen doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. In Wien angekommen musste seine Mutter bald erkennen, dass um die Hilfsbereitschaft der Verwandtschaft nicht besonders gut bestellt war und der Onkel, wie Jan Maczyesky später erfuhr, aus Opportunismus und um seine eigene Familie zu schützen als Spitzel für die Gestapo gearbeitet hatte. Schließlich hatten sich seine Verwandten als Kompromiss dazu bereit erklärt, den kleinen Jan bei sich aufzunehmen. Seiner Mutter waren noch einige Essensmarken in die Hand gedrückt worden und dann war ihr aufgetragen worden, sich selbst durchzuschlagen. Die letzten Eindrücke, die Jan Maczyesky an seine Mutter hatte, waren ein Paar rotgeweinter Augen und der Hauch eines unglaublich guten Duftes nach Liebe und Geborgenheit. Die Erinnerung an diesen Duft war es auch die ihn durch alle Jahre hindurch auch in den dunkelsten Stunden getröstet hatte. Was aus ihr nach diesem bitteren Abschied wurde, blieb ein weiteres seiner ungelösten Geheimnisse. Vielleicht war sie ja immer noch am Leben und glaubte ihren Sohn tot, da, nachdem das Haus der Verwandten in einer der letzten Bombennächte gänzlich zerstört worden war, schlicht und einfach alle Bewohner für vermisst erklärt worden waren. Alle Versuche, seine Mutter wiederzufinden, waren jedoch vergeblich geblieben. Dass Jan Maczyesky den Bombentreffer überlebt hatte, verdankte er dem simplen Umstand, dass er sich zur Zeit des Bombardements nicht im Haus aufgehalten hatte sondern nach einem Streit mit der Tante aus dem gestürmt war und in einer kleinen Kirche Zuflucht gesucht hatte, als der Lärm der Flugzeuge immer näher gekommen war. Wohl mit diesem Umstand ist zu begründen dass er den Jahrestag dieses Abends zu seinem persönlichen Festtag auserkoren hatte. Wer Jan Maczyesky kannte, wusste, dass ihm dieser Tag mehr bedeutete als alle Feiertage des Jahres zusammen, von seinem amtlichen Geburtstag gar nicht zu reden. Am Morgen nach dem Angriff entdeckte ein alter Pater den gänzlichen erschöpften Jungen, der sich im hintersten Winkel der Kapelle verkrochen hatte. Da der Knabe keine Papiere bei sich hatte und auch sonst jede Kommunikation verweigerte beschloss der alte Priester das es besser wäre, wen niemand etwas von der Existenz des Knabe wüsste und so wurde Jan Maczyesky in den Konvent des Paters aufgenommen. Die Laufbahn des heranwachsenden jungen Mannes war damit ebenso vorherbestimmt wie die Tatsache, dass eine Verbindung zwischen seinem Leben vor und nach der Bombennacht kaum mehr möglich war und niemand hinter den Klostermauer dachte in all den Jahren daran, Jan Maczyesky danach zu fragen.
In den vielen Jahren als Seelsorger war Jan Maczyesky oft damit konfrontiert gewesen wie Menschen mit Trauer und Leid umgingen und je nach Charakter, Glauben und Weltanschauung ganz eigene Zugänge dazu fanden. Er hatte Sterbende getröstet, ungezählige Male die Krankensalbung gespendet und mit dem Zählen der von ihm geleiteten Begräbnisse hatte er bereits vor Jahrzehnten aufgehört. Sein eigenes Schicksal war ihm in fast allen Fällen hilfreich gewesen, zwar einfühlsam und ehrlich auf die Menschen zuzugehen, dabei aber die erforderliche, ein Therapeut würde wohl sagen, professionelle Distanz zu wahren. Nur selten hatte daher die Gefahr bestanden, dass seine Gefühle mit ihm durchgehen würden. Jan Maczyesky war ohne den Funken einer Übertreibung ein Experte im Umgang mit Trauer, unbestritten. Aber trotz all seiner Erfahrung konnte er sich an keine Situation erinnern, die auch nur annähernd so zynisch und ungerecht zu sein schien, wie jene in der er sich gerade befand.
Das Begräbnis einer jungen Frau, mit ihren knapp siebzehn Jahren eigentlich noch ein Mädchen zu leiten, war ja bereits außergewöhnlich genug aber vor Gott und dem Tod waren alle gleich, wie er stets zu betonen pflegte. Auch das Gefühl dass die Trauergäste einander vor allem in ihrem Misstrauen gegeneinander verbunden waren, stellte für ihn keinen besonderen Umstand dar. Zwar waren sonst in der Regel Erbstreitigkeiten der Grund für die Verstimmungen und Misstöne, und das konnte bei einer siebzehnjährigen wohl kaum der Fall sein, aber er spürte dass die Trauergemeinde einander weitgehend unbekannt war und daher alle besonders auf Distanz zueinander achteten. Seine besondere Aufmerksamkeit erregte nur eine weitere junge Frau, offensichtlich durch Krankheit und Schwäche an ihren Rollstuhl gefesselt, die trotz ihrer blassen Haut einen lebendigeren Eindruck erweckte als alle anderen Trauergäste zusammen. Jan Maczyesky dachte daran, was sein väterlicher Freund und Mentor nach dem ersten gemeinsam zelebrierten Begräbnis zu ihm gesagt hatte: „Die Toten sind nicht nur in den Gräbern, sie stehen oft auch drum herum.“ Hier erschien es ihm genauso. Aber auch nicht das war das Außergewöhnliche wovon er sich bereits die ganze Zeremonie lang irritiert fühlte.
„Asche zu Asche und Staub zu Staub“, hörte er sich sagen. Staub. Noch nie hatte der Satz von Asche und Staub besser gepasst als an diesem Tag denn der während der Trauerprozession von den von der seit Tagen anhaltenden Hitze gänzlich ausgetrockneten Friedhofswegen aufgewirbelte Staub hatte sich als dünne Schicht auf die fast durchgehend schwarze Kleidung der Trauergäste gelegt. „Mensch, bedenke dass du Staub bist“, dachte Jan Maczyesky und besprengte den Sarg mit Weihwasser. Auch heute standen die Toten, die geistig Toten, am Grab. Während die Bestatter den Sarg schwitzend und schnaufend ins Grab hinunterließen, dachte der alte Priester erneut daran, dass er sich an keine Bestattung erinnern konnte, die bei vergleichbar hohen Temperaturen und vor allem bei vergleichbar strahlendem Sonnenschein stattgefunden hätte.
Ein Mann trat vor, bereits mit grauen Haaren aber doch deutlich jünger als Jan Macyesky. Der Vater der soeben Eingesegneten nahm eine kleine Schaufel und warf einen Häufchen Erde auf den Sarg. Als er zur Seite trat, kreuzten sich seine Blicke für einen Moment mit jenen des Priesters. Sie erschienen Jan Maczyesky so leer und kalt, als hätte jemand eine dahinterliegende Lampe einfach ausgeschalten. Der Mann trat zur Seite und machte den anderen Trauernden Platz die nun einzeln am offenen Grab vorbeizogen um für einen kurzen Moment betreten innezuhalten und dann weiterzugehen. Aus alter Gewohnheit zählte Jan Maczyesky die Sekunden die jeder einzelne Trauergast am Grab ausharrte. Kaum mehr als zwei, vielleicht drei Sekunden wollte oder konnte sich jedoch niemand Zeit für den Abschied nehmen. Er war bereits dabei, zum Gebet für den abschließenden Segen anzusetzen, aber just in diesem Augenblick wurde die junge Frau im Rollstuhl an die Graböffnung geführt. Sie zog immer lächelnd und behutsam einen weißen Briefumschlag aus der Handtasche auf ihren Knien. Bedächtig strich sie mit der Hand mehrmals über das Papier, so als wollte sie dem Brief, der mit Sicherheit darin verborgen war, noch Gefühle und Gedanken hinzufügen. Jan Maczyesky versuchte aus ihren von der Krankheit strapazierten Gesichtszügen herauszulesen, welches Gefühl die junge Frau so tief bewegte. Nach einer Weile kam er zu dem Schluss, dass es Dankbarkeit war ohne zu wissen, welchen Grund sie dafür hatte.
Schließlich warf sie den Umschlag in das Grab und gab ihrem Begleiter ein Zeichen, dass er sie weiterrollen möge. Jan Maczyesky erhob die Hände zum Segen und mit jedem Wort verstärkte sich sein Eindruck, dass alle Anwesenden, ihn selbst eingeschlossen, froh waren, dass sich die Zeremonie dem Ende zuneigte. „Amen“ sagte er und schlug das Kreuzzeichen in die Luft. Dann wischte er sich die Stirn mit einem Taschentuch trocken. Wirklich, noch nie hatte er an einem so heißen und strahlend schönen Tag ein Begräbnis zelebriert.

Gute Nacht
LG AndiTi

RS-USER-Medi-Fischi
08.06.2008, 09:56
Klingt vielversprechend der Anfang! Mehr davon!
lg fischi

Notarztindikation
08.06.2008, 14:46
Toll! Ich freu' mich schon wieder auf die spannende und mitreißende Geschichte!

RS-USER-Medi-Fischi
21.09.2008, 13:03
Wann gehts denn weiter???

Anditi
10.02.2009, 08:06
Hallo, hat ein bisserl (8 Monate) gedauert, aber jetzt gehts mal ein Stückchen weiter:

Der Schmerz kam. Wütete. Verschwand wieder. Der Schmerz kam immer wieder. Gefürchtet, aber dennoch jedes Mal unerwartet. Es gab kein Muster, nach dem er kam. Er kam tagsüber, er kam abends, in der Nacht. Er kam in der Wärme, er kam, wenn es kalt war, wenn es trocken war oder wenn es regnete. Er kam im Liegen, im Stehen, beim Gehen. Er kam zu jeder Tageszeit, aber nie zur gleichen. Er kam einfach. Der Schmerz kam und wütete. Einmal stärker einmal schwächer, immer spürbar aber nicht fassbar, kaum lokalisierbar, in keinerlei Weise beschreibbar. Er wütete auch nicht immer gleich lange. Einmal wütete er länger, dann wieder nur kurz, nie aber stand die Dauer seines Wütens in einem spürbaren Zusammenhang mit seiner Stärke. Er wütete einfach. Der Schmerz kam, wütete und verschwand wieder. Er verschwand manchmal so unvermutet wie er gekommen war, manchmal verschwand er allmählich. Es gab nichts, um zu steuern, wann er wieder verschwand. Brachten manchmal die stärksten Schmerzmittel nichts, so war es in anderen Fällen ausreichend, ein Glas Wasser zu trinken, für wenige Minuten die Augen zu schließen, einfach einige Male tief ein und auszuatmen. Der Schmerz kam, wütete und verschwand. Aber er war immer präsent. Die Furcht vor dem Schmerz war immer da. Die Angst vor der Unberechenbarkeit des Schmerzes wirkte lähmend, betäubend. Nicht auf den Körper, wie wünschenswert wäre das gewesen. Die Angst vor dem Schmerz wirkte betäubend auf den Geist, auf das Empfinden, auf die Gefühle. Jedes Gefühl, jeder Gedanke, jede Emotion wurde überlagert und betäubt, gelähmt von der Furcht vor dem nächsten Schmerz. Der Schmerz kam, wütete, verschwand wieder und war dennoch immer da.
Was immer gleich blieb war, dass der Schmerz nicht irgendwo im Körper auftrat sondern immer nur im Kopf. Im Kopf und sonst nirgends. Zumindest bisher nicht. Vielleicht wäre er erträglicher gewesen, wenn er nicht immer im Kopf aufgetreten wäre, vielleicht wäre die Furcht vor dem Schmerz nicht ganz so lähmend gewesen, die Betäubung schwächer. Vielleicht hätte es aber auch keinen Unterschied gemacht, vielleicht wäre die Furcht sogar noch größer gewesen, wenn noch eine Unbekannte dazugekommen wäre. So war es nur die Furcht vor dem Schmerz der sicher nur im Kopf kam, wütete und wieder verschwand. Die Furcht machte es ohnehin schwer, noch einen klaren Gedanken zu fassen aber wenn der Schmerz im Kopf kam und wütete, dann konnte sich kein Gedanke mehr durchsetzen. Kein noch so kleiner, einfacher Gedanke, wie einer der eine Handbewegung steuert war mehr möglich, wenn der Schmerz einmal kam und so richtig wütete. Dann kam es vor, dass sich vor den Augen ein schwarzer Schleier senkte, dass es auch am helllichten Tag auf einmal Nacht wurde, dass die Beine ihren Dienst versagten und zusammensanken wie ein Kartenhaus aus dem die unterste Karte ungeschickt herausgezogen wird. Wenn der Schmerz kam und wütete, dann passierte es in der letzten Zeit immer öfter, dass das Bewusstsein versagte, dass Stuhl und Urin abgingen, dass auch der letzte Rest von Kontrolle über den eigenen Körper gänzlich verloren ging. Die Furcht vor dem Schmerz im Kopf, vor seinem Kommen, seinem Wüten, seinem Verschwinden und der Zeitspanne seinem Wiederkommen wurde dadurch immer größer und größer.
Das erste Mal, dass er gekommen war, dieser Schmerz im Kopf, war schon einige Monate her. Ohne Vorwarnung war er gekommen. Einfach so, heimlich und leise, hatte er sich eingeschlichen und sich breit gemacht. Hatte sich seinen Platz einfach genommen. Am Anfang war er nur selten gekommen, hatte nur ein klein wenig gewütet und war auch rasch wieder verschwunden. Später, im Lauf der Wochen war er immer öfter gekommen, sein Wüten wurde heftiger und mit dem Verschwinden hatte er sich manchmal unerträglich viel Zeit gelassen. Der erste Arzt hatte ein Medikament aufgeschrieben, gegen die Schmerzen. Als diese Arznei nichts half, wurde ein anderer Arzt beigezogen. Dieser verschrieb ein anderes Präparat. Es half ebenfalls nichts. Erst der dritte Arzt veranlasste eine genauere Untersuchung und stellte eine Diagnose. Die Furcht und der Schmerz im Kopf, der kam, der wütete und der wieder verschwand, waren dadurch nicht besser geworden.
Die Chancen, dass dieser Schmerz im Kopf jemals wieder nachlassen würde, standen nicht schlecht. Um genau zu sein standen sie sogar gut, ganz ausgezeichnet. Fraglich war nur, ob es wirklich das Beste war, wenn der Schmerz nie mehr wieder kommen würde. Denn zumindest war der Schmerz der Beweis dafür, am Leben zu sein. Kein Schmerz, kein Leben. Aber konnte man das Leben nennen, das Dasein mit diesem Schmerz im Kopf. War das ein Leben, das über den biologischen Sinn des Worts hinausging. Oder war das Leben schon weg. Gestohlen von diesem Schmerz im Kopf, der kam, der wütetet und der wieder verschwand?
Dieser Schmerz im Kopf, der kam, der wütete, der wieder verschwand, dieser Schmerz der die große Furcht verursachte, dieser Schmerz hatte einen aus medizinischer Sicht trivialen Grund. Krebs. Ein Tumor. Im Gehirn. So groß wie eine Murmel, bei der ersten Untersuchung. Und die war schon eine Weile her. Der Krebs wuchs. Und deshalb wuchs auch der Schmerz im Kopf, der kam, der wütete, der verschwand. Der Krebs im Kopf, der den Schmerz verursachte, war dabei Luisa Winters Leben zu stehlen.

Notarztindikation
10.02.2009, 17:42
Toll, dass es weitergeht! Bin schon gespannt wie der RD eingbunden wird!D:-)

Anditi
12.02.2009, 08:18
Wieder ein kleines Stückerl und noch immer kein RD (Aber bald;) )

LG Anditi

Sie wusste es, sie wusste auch, dass der Krebs am Ende die Oberhand behalten würde. Zumindest wenn man den Aussagen der Ärzte glauben schenkte. „Inoperabel!“ hatte der Neurologe neulich zu seinem Kollegen gesagt, als er glaubte, sie würde es nicht hören. Auch die Chemotherapie hatte ihr außer einer Glatze und einem deutlichen Gewichtsverlust nichts gebracht. Aber Luisa Winter war fest entschlossen, dem Krebs so lange wie möglich Widerstand zu leisten. Mit allen Mitteln. Sie wollte ihr Leben führen, so wie sie es gewohnt war. Zumindest in dem Ausmaß, in dem es ihr geschwächter Körper zuließ. Auf nichts verzichten, was das Leben lebenswert machte. Auch wenn es ihr schwer fiel und der Schmerz, der immer wieder kam, der immer heftiger wütete und der immer schwerer wieder verschwand ihre Sinne und Gedanken betäubten. Sie wollte sich möglichst wenig von ihrem Leben stehlen lassen, von diesem Krebs im Kopf, wollte ihm möglichst wenig Raum geben, ihn verdrängen. Ihr Leben, dass jetzt erst anfangen sollte, in wenigen Monaten, wenn die Matura geschafft und die Schule abgeschlossen waren. Wenn sie endlich tun und lassen konnte was sie wollte, nur die Dinge lernen, die sie interessierten, ausgehen solange sie wollte, ohne, dass ihre Eltern ihr einen Vorwurf machen konnten. Luisa hatte geplant, ihren Schulabschluss mit einer Reise nach Australien zu feiern, gemeinsam mit zwei Freundinnen dieses unendlich weite Land zu erkunden, den Ayers Rock und die Oper von Sydney zu sehen und dann, um unzählig viele Eindrücke reicher, nach Hause zurück zu kehren, um ins wahre Leben zu starten. Vielleicht hätten sie auch noch einen Abstecher nach Neuseeland gemacht, bloß einige Tage. Das Geld für die Reise hat Luisa in den vergangenen Monaten und Jahren mühsam angespart. Seit ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie unermüdlich jeden Samstag in einem Supermarkt gearbeitet, um sich etwas dazu zu verdienen. Der Verdienst war nicht besonders gut, die Arbeit wenig herausfordernd und der schlecht riechende Filialleiter war nicht nur einmal der Versuchung erlegen, ihr an den Hintern zu greifen aber Luisa stand, immer die Vorstellung des schier unendlichen Australischen Hinterlandes, das sie erwartete, über diesen Dingen. Natürlich war sie, wie ihre Schulkameraden und wie alle Teenager an den Wochenenden nicht zu Hause geblieben und hatte ihr Geld gezählt, nein auch sie fand es wichtig, auszugehen, die freien Stunden zu genießen und natürlich auch dem Anlass entsprechend gekleidet zu sein. Aber obwohl dieser Lebensstil nicht wenig kostete, war es ihr gelungen, genügend Geld für die geplante Reise zur Seite zu legen. Und dennoch war Australien für Luisa Winter noch viel weiter weg, als es ein Blick auf die Landkarte vermuten ließ. Australien war für sie unerreichbar geworden. Und schuld daran war dieser Schmerz. Der Krebs alleine wäre nicht das Problem gewesen. Natürlich, er würde ihrem Leben ein Ende setzen, aber wohl kaum, bevor sie aus Australien zurückgekehrt war. Nur der Schmerz, dieser Schmerz der kam, der wütete und der wieder verschwand, der so unberechenbar war, der war unerträglich und machte es aussichtslos, auf die Reise nach Down Under zu hoffen.
Luisas Ziel war es, dem Krebs und dem Schmerz möglichst wenig Raum zu lassen, jede schmerzfreie Minute dafür zu nutzen, ihr Leben, so wie sie es gewohnt war, fortzusetzen. Aus keinem anderen Grund würde sie nun wohl hier im Halbdunkeln stehen, in einer Krankenhauswäschekammer in der der Geruch von Desinfektionsmittel die Sinne fast schon so stark betäubte wie die Furcht vor dem Schmerz. Luisa musste wohl einräumen, dass das was sie hier tat, auch nicht als normal zu bezeichnen war, zumindest nicht in der Wäschekammer einer Palliativstation. Aber wo war es hier, in diesem Gefängnis möglich, zumindest für kurze Zeit ungestört zu sein. Verurteilt zu diesem Gefängnis war sie, weil sie diesen Krebs im Kopf hatte, diesen Krebs der auf einmal da gewesen war und ihr Leben stahl. Der Krebs war es, wegen dem Sie zu lebenslänglicher Haft in diesem Gefängnis verurteilt worden war. Nicht, dass es ihr an irgendetwas Materiellem gefehlt hätte. Es war die Freiheit, die Luisa so vermisste, in dem goldenen Käfig in dem zu Leben sie gezwungen war. Sie wollte sich aber eben nicht gefangen nehmen, zu etwas zwingen lassen, sie wollte frei sein, aufbegehren gegen dieses so ungerechte Urteil. Mit allen Mitteln.
Natürlich hatte sie sich nicht nur aus diesem Grund mit Markus hierher in die Wäschekammer zurück gezogen. Auch wenn es nicht besonders romantisch war, aber er hatte sich diese Belohnung verdient. Dafür, dass er sie jeden Tag hier in ihrem Gefängnis besuchte. Dafür, dass er zumindest ein kleines Licht in ihren grauen Alltag brachte. Dafür, dass er sie nicht aufgab. Dafür, dass er daran glaubte, dass sie den Krebs im Kopf und den Schmerz, der kam, der wütete und der verschwand besiegen würde.
Markus war ihr Freund. Und sie liebte ihn. Nicht erst, seit er sie so beharrlich in ihrem goldenen Käfig besuchte. Viel länger schon liebte sie ihn. Sie hatte ihn immer schon geliebt. Zumindest schien es ihr so. Kennengelernt hatten sie einander vor rund eineinhalb Jahren, am Ende der Sommerferien, knapp vor Beginn ihres vorletzten Schuljahres. Im Freibad, beim Volleyballspielen. Wer danach frage, dem erzählte Luisa, dass sie gemeinsam mit ihren Freundinnen Rebecca und Marissa, solange gebettelt hatte , bis Markus und seine Freunde ihnen angeboten hatten, ein gemeinsames Spiel zu wagen. Gebettelt war möglicherweise der falsche Ausdruck. Die Mädchen hatten, als ihnen klar wurde, dass sie so schnell keine Möglichkeit hätten, einen der raren Plätze zu ergattern, begonnen, neben dem Platz, an dem ihnen ihr Vorhaben am erfolgsversprechendsten schien, mit demonstrativen Dehn- und Streckübungen die Aufmerksamkeit der Spieler auf sich zu ziehen. Angesichts, ihrer kanppen Badebekleidung war es ihnen auch nicht schwer gefallen, ihre Reize ihrem Plan entsprechend einzusetzen und so war ihr Vorhaben schon nach wenigen Minuten von Erfolg gekrönt. Das Spiel wurde unterbrochen und nach einem kurzen Wortwechsel war Markus an die Mädchen herangetreten und hatte sie zu einem gemeinsamen Spiel aufgefordert. Dem gemeinsamen Spiel folgte der Austausch der Telefonnummern, der Versand einiger Kurznachrichten noch am gleichen Abend, ein stundenlanges Telefonat und schließlich ein gemeinsames Abendessen bei Kerzenschein in einem der teuersten italienischen Restaurants Wiens. Markus verstand es, Luisas Herz im Sturm zu erobern und nur wenige Tage nach ihrer ersten Begegnung wurden die beiden ein Paar, unzertrennlich und leidenschaftlich, ganz so, wie es sich für Frischverliebte gehört. Es war der Himmel auf Erden. Bis der Schmerz in Luisas Kopf den Himmel zur Hölle machte.
Markus hatte sie nicht verlassen. So oft es Luisas Therapie zuließ, hatten sie gemeinsam Zeit miteinander verbracht und seine Besuche im Krankenhaus waren Luisa lieber wichtiger als die tägliche Pflichtvisite ihrer Eltern. Trauer und das Selbstmitleid, die denen sich insbesondere ihre Mutter förmlich zu suhlen schien, standen im krassen Gegensatz zu Markus immerwährendem Optimismus und Fröhlichkeit. Bis heute hatte er sie nicht aufgegeben, glaubte immer noch daran, dass sie das Krankenhaus frei und geheilt verlassen könnte. Ihre Eltern hingegen, die sahen die Sachlage ein wenig anders. Für sie war Luisa längst zur Belastung geworden, das spürte sie. Manchmal konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich ihre Eltern insgeheim wünschten, der Krebs würde siegen und Luisa würde sterben. Luisa hatte dieses Gefühl nie ausgesprochen, den Gedanken daran, dass ihr Verdacht wahr sein könnte, verdrängt. Dennoch fühlte sie, dass ein Teil von ihr ihre Eltern dafür hasste. Nur für die Möglichkeit, dass es so sein könnte, hasste sie sie. Würden Sie eines Tages nicht mehr an ihr Bett kommen, würde es ihr egal sein. Anders lag die Sache bei Markus. Seine Besuche würde sie schmerzlich vermissen. Sie wusste, dass es ihr das Herz brechen würde, wenn er nur einen Tag nicht in ihrem Zimmer, ihrer Zelle, wie sie es nannte, vorbeischauen würde. Aber er kam, verlässlich, jeden Tag und Luisa wusste, dass es bis zum Schluss, egal wie dieser aussehen würde, so sein würde. Und dafür hatte er sich eine Belohnung verdient.
Diese Wäschekammer war mit sicher keines der Highlights, auf der Liste der Orte an denen sie sich schon geliebt hatten, aber immer noch besser als Luisas Krankenzimmer, das sie sich mit einer anderen Patientin ihres Alters teilen musste. Während sie Markus in der dunklen Wäschekammer leidenschaftlich küsste, versuchte Luisa sich an Gerüche und Stimmungen von Orten, an denen sie sich geliebt hatten, zu erinnern. Nicht nur um sich von dem penetranten Geruch des Desinfektionsmittels abzulenken, sie wollte sich auch das Glücksgefühl dieser Momente in Erinnerung rufen. Als Beweis dafür, dass sie noch lebte, dass sie noch empfinden konnte. Als Beweis dafür, dass sie der Schmerz, der immer wieder kam, wütete und verschwand, noch nicht gänzlich betäubt hatte. Mit geschicktem Griff öffnete Reißverschluss von Markus Hose und begann darin zu tasten. Er ließ ein leises Stöhnen hören. Luisa hatte gefunden wonach sie gesucht hatte. Sie drückte Markus gegen eines der Regale und ging auf die Knie. Ihn so zu lieben, wie sie es sich wünschte, dafür war sie zu schwach, dafür hatte ihr die Therapie zu viele Kräfte geraubt. Aber zumindest Markus sollte spüren, wie sehr sie ihn liebte.
Der Schmerz kam ohne Vorwarnung und wütete heftig. Dass er wieder verschwand, merke Luisa nicht mehr. Sie war bewusstlos geworden, noch bevor Markus vor Schmerzen wild aufgeschrieen hatte, als sich ihre Zähne im Krampf tief in seinen Penis bohrten.

Notarztindikation
12.02.2009, 21:40
Na dann, auf geht's! Wir wollen den RD sehen/lesen!;) Weiter so!

Anditi
20.03.2009, 08:58
Der kleine rote Drehschalter am Armaturenbrett rastete ein und begann zu leuchten. Das leise Klacken der Relais erfüllte die Fahrerzelle und Max Partovec quittierte mit einem kurzen Druck auf eine der Tasten des Funkgeräts den eben erhaltenen Auftrag. Der Sanitäter schlug die Beifahrertüre hinter sich zu und noch ehe sich das automatische Tor zur Gänze geöffnet hatte, verließ der Rettungswagen mit aufheulendem Motor die Garage. Max gab sich Mühe, nicht angesichts des Alarms auf ihren Meldern zu stark zu beschleunigen und damit ein zu großes Risiko einzugehen. Sein Beifahrer versuchte, die angegebene Adresse in das Navigationssystem einzugeben, schien aber an der Bedienung zu scheitern. Seine Meinung darüber, ob dieser Umstand eher dem Gerät oder dem technischen Verständnis seine Kollegen zuzuschreiben war, behielt Max vorsichtshalber für sich. Der Einsatz würde vermutlich anstrengend und aufreibend genug werden. Er musste sein Adrenalin nicht bereits davor unnötig in Wallungen bringen.
„Lass nur, ich kenne den Weg“ knurrte er zwischen den Zähnen hervor und zog hastig am Alarmschalter. Nur wenige Meter vor ihm war ein Fahrer dabei, seinen Wagen rückwärts aus einer Einfahrt zu lenken und hatte den herannahenden Rettungswagen offensichtlich noch nicht bemerkt. Die aufleuchtenden Bremslichter zeigten Max, dass er sich die nötige Aufmerksamkeit verschafft hatte und ließen ihn wieder Gas geben.
„Was nehmen wir mit?“ hörte er seinen Kollegen fragen. „Alles!“ Was für eine dumme Frage, dachte sich Max während er antwortete und das Gaspedal bis auf die Bodenplatte durchtrat. Das Funkgerät rauschte.
„56-098 von Leitstelle kommen!“
Max wunderte sich. Es war schon seit einigen Jahren nicht mehr üblich, dass die Leitstelle über Funk mit den Fahrzeugen kommunizierte. Sei alle Rettungsleitstellen des Bundeslandes in einer Zentrale zusammengefasst worden waren, gab es für jedes Fahrzeug ein eigenes Handy, mit dem auch die Zusammenarbeit mit der Leitstelle abgewickelt wurde. Der Sanitäter war noch immer damit beschäftigt, die Einsatzadresse in das Navigationsgerät einzugeben und schien den Ruf der Leitstelle nicht gehört zu haben.
„56-098 von Leitstelle kommen!“ Der Ruf wurde eindringlicher.
„Hört!“ Max griff zum Sprechgerät. Womit nur hatte er das verdient?
„Ihr seid über Draht nicht erreichbar!“
„Wir haben nichts gehört.“
„Wundert mich nicht, euer Telefon liegt auch noch auf der Dienststelle.“ Max konnte aus dem Augenwinkel erkennen, wie das Gesicht seines Kollegen blass wurde. „Idiot!“ entfuhr es ihm.
„Ich wollte euch nur darüber informieren, dass Christophorus 3 auch alarmiert wurde und soeben gestartet ist. Die voraussichtliche Eintreffzeit ist zwölf Minuten“ fuhr der Disponent fort. Zwölf Minuten konnten eine unendlich lange Zeit werden. Das wusste Max aus bitterer Erfahrung.
„Irgendetwas, was wir wissen müssen? Die Alarmierung war ja nicht besonders detailliert.“
„Zwei Buben haben auf einem Spielgerüst gerauft und sind von ganz oben abgestürzt. Zirka zwei Meter. Einer der beiden blutet am Kopf, vom anderen wissen wir nichts!“
Für einen Augenblick herrschte Stille. Max versuchte sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren. Sie waren fast am Ziel. Der Sanitäter war noch blasser als vorhin. „Verstanden!“ ließ Max den Disponenten wissen.
„Leitstelle Ende!“ Das Gespräch war vorüber. Max bog von der Hauptstraße in eine Seitengasse ein. Wiederum griff er zum Funkgerät.
„Christophorus 3 von 56-098, kommen!“ rief er.
„C3 hört!“ Die Antwort kam unerwartet rasch.
„Wir sind fast am Einsatzort, direkt daneben befindet sich eine große Wiese, da können sie landen!“ Er hielt kurz inne. „Wie lange werden, sie brauchen?“
„Zirka zehn Minuten, zwölf, wenn der Wind stärker wird!“ Das war nicht unbedingt das, was Max hören wollte. „Verstanden!“ sagte er und trat energisch auf die Bremse. „Ende!“. Er riss die Fahrertür auf und wollte aus dem Fahrzeug springen. Der Sicherheitsgurt hielt ihn zurück. Nach einer Schrecksekunde löste Max den Gurt und stieg eilig aus dem Auto. Der Sanitäter hatte sich bereits mit Koffern und Geräten beladen und wankte in Richtung des Spielplatzes. Max eilte hinterher. Eine ältere Frau kam aufgeregt auf ihn zugelaufen. Sie sei die Großmutter der beiden verunglückten Kinder und hätte nur einen Augenblick lang nicht hingesehen. Max hörte ihren Ausführungen eher halbherzig zu während er sich die Einmalhandschuhe überstreifte und versuchte sich ein Bild der Lage zu machen. Wie es zu dem Unfall gekommen war, interessierte ihn nicht. Wichtig war, was er jetzt tun konnte, um die Lage nicht noch weiter zu verschlimmern.
„Sind sie Arzt?“ hörte er die ältere Frau fragen.
„Nein.“
„Wo ist der Arzt?“ Die Frau ließ nicht locker.
„In der Luft!“ Max spürte, dass er ungeduldig wurde. Die Leute waren doch alle gleich. Mit einem Rettungswagen und Sanitätern waren sie nicht mehr zufrieden. Es musste immer gleich ein Notarzt sein.
„Warum haben sie keinen Arzt dabei?“ Max überging die Frage und kniete sich neben seinen Kollegen, der bereits begonnen hatte, sich um die beiden kleinen Verletzten zu kümmern. Max versuchte das Alter der beiden Buben zu schätzen. Der ältere der Beiden war zirka sieben Jahre alt, sein kleiner Bruder vielleicht um ein, zwei Jahre jünger. Auf den ersten Blick schien es ihn nicht so schlimm erwischt zu haben. Schmerzen im Arm, jammerte er lautstark. Sein großer Bruder hingegen jammerte nicht. Bewusstlos lag er da, an einem Ohr konnte Max erkennen, dass Blut austrat. Der Verdacht war klar. Schädelbasisbruch. Der kleine Verletzte befand sich in akuter Lebensgefahr. Sein Kollege schien sich des Ernstes der Lage nicht bewusst zu sein. Er hatte soeben einen der Koffer geöffnet um nach einer Schiene für den Unterarm des Jüngeren zu suchen. „Stifneck“ knurrte Max drohend. „Hilf mir da! Dann kannst du machen, was du willst!“. „Ich…“ hob der Kollege an.
„Nichts, ich! Gib endlich her!“ Er griff nach der Schienung für die Halswirbelsäule und deutete seinem Kollegen, den Kopf des Bewusstlosen festzuhalten. Kaum hatten sie die Schienung angelegt, brachte ihn die Sanitäter in die stabile Seitenlage. Max atmete hörbar auf. Die größte Gefahr war gebannt. Er öffnete die Sauerstoffflasche, schloss eine Maske daran, und legte diese vor Mund und Nase des Jungen. Hinter seinem Rücken hörte er das Knattern der Hubschrauberrotoren. Er zog eine Aluminiumdecke aus dem Koffer und decke das Kind damit zu. Seinem Kollegen und dem anderen Verletzten schenkte er keine Beachtung mehr. Max beugte sich vor, um die Atmung seines Patienten zu kontrollieren. Sie war schnell und ungleichmäßig. Aber sie war vorhanden. Der Notarzt trat zu ihm und erkundigte sich nach dem Zustand des Jungen. Dann verabreichte er dem Kind eine Infusion und gemeinsam begannen der Arzt, Max und der Sanitäter des Hubschraubers vorsichtig damit, das Kind auf die Trage des Hubschraubers zu lagern. Während Max und sein Kollege aus der Luft den Buben zum Helikopter trugen hatte der Arzt auch noch einen kurzen Blick auf den anderen Verletzen geworfen und bestätigt, dass ein Transport im Rettungswagen ins nächste Krankenhaus ausreichend war. Dann war er zu seiner Maschine geeilt und siebzehn Minuten nach der Landung erhob sich der Rettungshubschrauber Christophorus 3 wieder in die Luft. Irgendwo schlug die Uhr eines Kirchturms. Max sah auf die Uhr. Es war genau sieben Uhr Abends. Die erste Stunde seines Nachtdienstes war vorbei. Er hoffte, dass die verbleibenden elf Stunden weniger spektakulär und aufreibend verlaufen würden. Er sollte sich täuschen. Sehr täuschen.

Notarztindikation
21.03.2009, 08:53
Bin ich der einzige der mitliest?

Ich bin auf jedenfall auf die Fortsetzung gespannt!!!

PS: Wow, das muss ja eine sehr aktuelle Geschichte sein, wenn ich mir die Funkkennung anschau!

RDPfleger
21.03.2009, 10:45
Ich les auch mit.
Klasse finde ich das er eine Situation anfängt zu schildern und diese dann aber nicht gleich in der nächsten Fortsetzung fortführt, was die Spannung noch steigert.

Ist vielleicht ein kleines bisschen zu früh, aber wann gibts mehr zu lesen??:D

Pr0st
21.03.2009, 13:37
Original geschrieben von Notarztindikation
Bin ich der einzige der mitliest?



Nö! ;)

Find ich gut Anditi, immer weiter....

RS-USER-Katrina
21.03.2009, 17:53
Ja doch, ich les auch mit!
Klasse, Anditi!
Bringst jedesmal eine ganz andere Stimmung.
Danke, dass Du Dich so "exponierst" - es lohnt sich Dich zu lesen.
Gruß, K.

RS-USER-Saphira
26.03.2009, 16:44
Ich hab erstmal die alte Story gelesen, ganz dickes Lob dafür!!! Hast echt Talent zum schreiben!

Wann gehts eigentlich weiter?
*gespannt bin*

RS-USER-DasSchaf
29.03.2009, 21:09
Ein guter Text braucht seine Zeit, aber wann gehts denn endlich weiter?? *quängel* :)

Anditi
30.03.2009, 08:45
Die Ambulanzschwester lachte gequält auf.
„Du hast mir gerade noch gefehlt.“
„Welch liebevolle Begrüßung. Ich freu mich auch, dich zu sehen! Außerdem ist es ja nur was Klitzekleines “ Max kannte Christa Wagner schon seit Jahren. Genau genommen kannte er sie schon seit einer kleinen Ewigkeit. Seit seinem letzten Kindergartenjahr. Schenkte man den Erzählungen seiner Mutter Glauben, so war sie sogar so etwas wie seine erste große Liebe gewesen. Max selbst konnte sich zwar an keine der verschiedenen Episoden, die seine Mutter immer wieder gerne zum Besten gab, erinnern, vollkommen ausschließen, dass zumindest die eine oder andere einen gewissen Wahrheitsgehalt hatte, konnte er jedoch auch nicht. Und so widersprach er nicht, wenn sie wieder einmal in Erinnerungen zu schwelgen begann. Tatsache war, dass aus ihm und Christa nichts geworden war. Nach dem Kindergarten hatten sie sich aus den Augen verloren da er, Max, in Klosterneuburg eingeschult wurde während sie von ihren Eltern an eine Wiener Privatschule geschickt wurde. Erst Jahre später waren sie einander wieder gegenübergestanden. Max als Rettungssanitäter, Christa als Krankenschwester in der Klosterneuburger Unfallambulanz. Und hätte Max zu diesem Zeitpunkt Klara noch nicht gekannt, ausschließen konnte und wollte er es nicht, dass die von seiner Mutter beschworene Liebesgeschichte nicht doch noch zu einem glücklichen Ende gekommen wäre. Unbestreitbar aber war, dass es Max immer eine besondere Freude bereitete, wenn er Christa in der Ambulanz begegnete.
Christa Wagner sah ihn an. „Heute ist hier die Hölle los“, sagte sie langsam. „Ich bin seit zehn Minuten im Dienst und fühle mich als hätte ich die halbe Nacht schon hinter mir!“
Max lächelte. „Du machst das schon.“
„Dein Wort in Gottes Gehörgang.“ Sie machte eine Handbewegung in Richtung des Ganges vor der Ambulanz. „Da draußen warten zwei Dauerkatheter, ein Schädellatz, ein akuter Bauchschmerz seit drei Tagen, dein klitzekleiner mehrfacher Unterarmbruch und ein abgebissener Penis. Wenn dieser Dienst so weitergeht, kannst du mich morgen auf der Psychiatrie besuchen.“
„Ein abgebissener… was?“ Max meinte, sich verhört zu haben.
„Penis.“ erwiderte Christa trocken. „Nicht ganz natürlich. Durchgebissen meine ich. Gehört dann übrigens euch. Das AKH hat schon zugesagt.“
„Wie beißt man sich den Penis ab?“ Max konnte es immer noch nicht glauben.
„Frag mich nicht, der war schon da, als ich in den Dienst gegangen bin.“ Sie zuckte mit den Schultern.
Max warf einen Blick auf den Gang hinaus. Auf einem der Betten lag seitlich zusammengekrümmt ein junger Mann, beide Hände im Schritt, von den verabreichten Schmerzmitteln sichtlich betäubt. Eine Infusionsflasche war an einer Halterung über dem Bett befestigt und tropfte langsam vor sich hin.
„Ketanest?“ fragte er.
„Vendal. Aber stabil. Viel plaudern wird er mit euch während der Fahrt aber wahrscheinlich nicht.“
„Schade. Und ich hab schon gehofft, dass er uns erzählt uns, wie man so etwas macht.“
Der Sanitäter kam aus der Anmeldung. „Fahren wir?“
„Gleich. Aber nicht auf die Dienststelle, wenn du das meinst.“ Max erntete einen verständnislosen Blick. „Der Junge da kommt ins AKH. Auf die Uro.“
„Wieso?“
„Wieso nicht?“
„Eh, wenn ich KTW fahren will, dann fahr ich Tagdienst.“
Max holte tief Luft. Dann biss er sich auf die Zunge. „Wir fahren. Und aus. Hol die Trage.“ Dann drehte er sich zu Christa um, auch um seinem Sanitäter zu zeigen, dass von seiner Seite aus alles gesagt war.
„Was ist denn das für ein Gnom?“ Sie schien auf den eher kleinen, aber bulligen Wuchs des Sanitäters anzuspielen.
„Keine Ahnung. Ex-Zivi, soviel ich weiß. Emanuel heißt er. Ich hab ihn mir auch nicht ausgesucht. Aber um zu zitieren, was eine kluge Frau einst sagte: Wenn dieser Dienst so weitergeht, dann kannst du mich morgen auf der Psychiatrie besuchen.“
Christa lächelte. „Spar dir das Süßholzraspeln. Ich muss arbeiten.“ Dann griff sie an die Infusionsleitung, schloss sie und entfernte die Infusion von der Kanüle, die ein Arzt in der Ellenbeuge des Jungen gesetzt hatte. Dann drehte sie sich schwungvoll um und verschwand im Behandlungsraum. Emanuel kehrte mit der Fahrtrage zurück. Gemeinsam hoben sie den jungen Mann auf die Trage. Das angestrengte Schweigen war vielsagend. Max schauderte bei dem Gedanken, dass noch nicht einmal zwei Stunden des gemeinsamen Dienstes hinter ihm lagen. Er ergriff den Arztbrief und den Transportauftrag, die Christa unter dem Kopfpolster der Liege platziert hatte. Er versuchte die auf dem Transportschein eingetragene Diagnose zu entziffern. Ohne Erfolg. Dabei hätte es ihn brennend interessiert, mit welchen lateinischen Fachbegriffen der Arzt den doch eher seltenen Sachverhalt einer Teilamputation des Penis umschrieben hatte.

RDPfleger
30.03.2009, 20:11
Mehr, mehr,.....
Richtig fies von Dir, vor der Fahrt mit dem Schreiben abzubrechen . Evtl. bekommt Max ja auf dem Transport was raus oder auch nicht...?!? Du machst es aber auch spannend!

RS-USER-Medi-Fischi
22.04.2009, 09:43
Weiter!!!! Mehr!!!

RS-USER-Pumukel001
23.04.2009, 17:36
ich les auch immer brav mit.
na los will mehr lesen

Lg

Anditi
07.05.2009, 23:06
Hat wieder einmal ein bisschen gedauert, aber in der Ur-Version hatte sich leider ein kleiner Logikfehler eingeschlichen, den zu beheben ich schlichtweg keine Zeit hatte. Unter anderem deswegen www.theatergruppe.at.tf und deswegen www.findfightfollow.at und natürlich auch wegen... Siehe Anhang (Und bitte nicht rumspamen hier, ja?)

LG AndiTi

Max hielt inne und begann in den vielen Taschen seiner Uniform nach dem Mobiltelefon zu suchen, um die Leitstelle davon zu informieren, dass sie bereits den nächsten Transport übernommen hatten. Hinter ihm rumpelte Emanuel mit der Fahrtrage davon. Als der Melder an seinem Gürtel anschlug, schreckte Max kurz auf. Etwas irritierte ihn. Das der Melder angeschlagen hatte, war es aber nicht gewesen, denn eigentlich hatte er damit gerechnet. Immerhin hatte Christa den Transport sicher schon bei der Leitstelle angemeldet und wenn der Disponent mitgedacht hatte, dann würde er nicht warten, bis sie wieder an der Dienststelle waren, bis er ihnen den neuen Transport zuwies. Ein kurzer Blick auf die Anzeige des Melders bestätigte Max, dass seine Vermutung richtig war. Nein, es war etwas Anderes, was ihn irritierte, verunsicherte. Für einen Augenblick hatte ihn das Gefühl beschlichen, beobachtet zu werden. Er sah sich um. Sein Blick blieb an einer jungen Frau hängen, die am anderen Ende des Ganges stand und ihn anstarrte. Oder auch nicht. Vielmehr starrte sie durch ihn hindurch. Aus dem Nachthemd, das sie trug, schloss Max, dass es sich um eine Patientin handeln musste, die vor dem Röntgen auf ihre Untersuchung wartete. Das war um diese Uhrzeit zwar eher ungewöhnlich aber was konnte man schon ausschließen. Es war eher das Starren, der fokussierte Blick in die Ferne, der Max auffiel.
„Entschuldigen Sie!“ Die Stimme einer anderen jungen Frau riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ja, bitte?“ Er sah sie an und versuchte ihr Alter zu schätzen. Achtzehn, zwanzig, älter sicher nicht. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„War das Markus Premminger, den Ihr Kollege da gerade hinausgeführt hat?“
Max warf einen flüchtigen Blick auf den Transportschein. Auf den Namen hatte er noch gar nicht richtig geachtet. „Ja, stimmt.“
„Wohin bringen Sie Ihn?“
„Sie wissen schon, dass ich ihnen das eigentlich nicht sagen darf.“
„Ich bin seine Freundin.“
Max schluckte. Jetzt durfte ihm bloß keine unbedachte Bemerkung entwischen.
„Aha. Na dann. Er kommt ins AKH, auf die Urologie.“
„Auf die Urologie?“
Ohne dass er wusste, warum, beschlich Max der Verdacht, dass die junge Frau, die vor ihm stand, keine Ahnung hatte, warum ihr Freund ins Krankenhaus gekommen war. Nun, von ihm würde sie nicht mehr als notwendig erfahren. Das sollte der Junge dann schon selbst erledigen.
„Er hatte einen…“ Max zögerte einen Augenblick, „… Unfall.“ Das war nicht einmal gelogen. „Und bei diesem Unfall,…“ Er bemühte sich, das Wort Unfall nicht zu sehr zu betonen, „bei diesem Unfall, sind auch einige, na ja, sagen wir einmal sensible Körperregionen verletzt worden. Welche, können Sie sich wohl denken.“
“Um Gottes Willen!“
Innerlich triumphierte Max. Er hatte recht gehabt. Die junge Frau wusste tatsächlich nicht, was ihrem Freund zugestoßen war. „Sie können ihn natürlich begleiten, wenn sie wollen.“ Er wies ihr den Weg zur Garage.
„Ist es schlimm?“
„Das kann man jetzt noch nicht sagen.“
„Also ist es schlimm!“
„Ich weiß es leider wirklich nicht, wir haben leider vom Krankenhaus auch kaum Informationen erhalten. Nur den Transportschein und diese Laborbefunde.“ Er hielt die Dokumente in die Höhe.
Sie erreichten das Auto. Emanuel hatte die Trage mit dem Patienten bereits verladen und war gerade dabei, die Türen zu schließen. Max zeigte der jungen Frau, an welchen Platz sie sich im Rettungswagen sie sich setzen konnte.
„Du sagst kein Wort“, zischte er dem Sanitäter zu, bevor er die seitliche Schiebetür schloss. „Kein Wort!“ Er eilte um das Auto und hatte sich noch nicht einmal hinter dem Lenkrad niedergelassen, als ihn der Sanitäter durch das kleine Fenster, dass den Fahrerraum und den Patientenraum verband, wütend anfuhr: „Von dir lasse ich mir nicht den Mund verbieten!“ Er holte Luft. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. „Worüber soll ich eigentlich nichts sagen?“
„Vergiss es! Und red mich nicht mehr an!“ Den letzten Satz hatte Max beinahe geschriehen. Die Freundin des Patienten blickte auf und sah die beiden an.
„Was ist jetzt? Schnallst du dich endlich an?“ Max versuchte die Situation wieder in den Griff zu bekommen. „Wir sollten endlich fahren.“ Nachdem er selbst den Sicherheitsgurt angelegt hatte, wartete er auf das Zeichen des Kollegen, öffnete das Garagentor mit der Fernbedienung und fuhr aus der Garage. Kaum war das Krankenhaus hinter der ersten Kurve verschwunden, griff er zum Blaulichtschalter. Christa hatte zwar nichts davon gesagt, aber Max wollte den Transport möglichst rasch hinter sich haben. Und außerdem war das Blaulicht sicher irgendwie vertretbar. Der Junge hatte ja nicht nur ein starkes Schmerzmittel bekommen sondern sicher auch eine Menge Blut verloren. Da konnte der Transport gar nicht schnell genug gehen. Und solange nichts passierte, würde sowieso keiner fragen.