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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Übergang Organisationsverschulden/Übernahmeverschulden



Relaxometrie
22.06.2012, 20:30
Zu Beginn seiner ärztlichen Berufstätigkeit ist man ja erstmal geneigt, die Zustände und Arbeitsbedingungen so hinzunehmen, wie sie einem geboten werden. Irgendwann fallen einem dann Dinge auf, die man eigentlich gar nicht gut findet, aber weiterhin mitmacht. Wo sollte man Grenzen setzen und streiken oder rebellieren?
Ganz konkret frage ich mich für das Fachgebiet der Anästhesie, ob es bereits ein Übernahmenverschulden ist, Dienste zu machen, wenn man weiß, daß der Oberarzt im Hintergrund einen Anfahrtsweg zur Klinik von 30 Minuten hat? Schließlich kann beispielsweise eine bereits nicht funktionierende Maskenbeatmung (auch wenn es selten vorkommen mag) während der Narkoseeinleitung zu höchstkritischen Situationen führen. Sollte man also Dienste in der Anästhesie erst dann machen, wenn man im Management des "schwierigen Atemwegs" so erfahren ist, daß man im Zweifel auch eine Koniotomie durchführen kann? Oder liegt ein gewisses Restrisiko, daß man besonders kritische Situationen nicht alleine bewältigen kann, in der Natur der ärztlichen Arbeit im Nachtdienst und wird nicht als Übernahmeverschulden gewertet?

Oder wie sieht es aus, wenn man in einem 24-Stunden-Dienst völlig übermüdet einen Fehler macht? Ist das ein Übernahmeverschulden der Arztes? Oder ein Organisationsverschulden der Verwaltung?
Diese Frage stellen sich mir immer wieder mal, wenn ich (hab selbst noch keine 24-h-Dienste gemacht) mit Kollegen anderer Fachgebiete spreche, die teilweise weit über 12h am Stück im Einsatz sind und auch zugeben, daß sie irgendwann Flüchtigkeitsfehler machen. Irgendwann bleibt es halt nicht beim Flüchtigkeitsfehler. Und dann??? Hier stellt sich wieder die Frage: Ist es ein Übernahmeverschulden? Denn daß man irgendwann müde wird, ist wohl nur normal und vorhersehbar. Oder wird man vom Arbeitgeber zu dieser Art der Dauerarbeit gezwungen? Hierzu gehört natürlich auch immer jemand, der sich zwingen lässt.
Kurzum: Wie ist diese Henne-Ei-Problem zu lösen?

Evil
23.06.2012, 09:48
Hmmm, Du sprichst bei allen diesen Beispielen immer von "Verschulden", entweder seitens des Arztes oder des Systems. Es ist halt die Frage, ob Fehler immer vermeidbar sind.
Versteh mich nicht falsch, natürlich müssen Fehler soweit als möglich vermieden werden, es ist aber illusorisch zu glauben, daß man dabei 100 Prozent Erfolg hat. Wenn der Aufwand überhaupt tragbar ist.

Beispiel 24h-Dienste: ist es für jede Abteilung möglich, ein Dienstmodell zu entwickeln, womit diese vermieden werden können? Ich glaube nicht, v.a. bei kleinen Häusern/Abteilungen.

Insofern tragen alle Ärzte meiner Ansicht nach das von Dir schon genannte Restrisiko. WIe das dann im Einzelfall gewertet wird, wenn wirklich was passiert, hängt dann auch vom Grad der Fehlleistung, aber auch vom Gutachter ab.

Relaxometrie
23.06.2012, 10:37
Hmmm, Du sprichst bei allen diesen Beispielen immer von "Verschulden", entweder seitens des Arztes oder des Systems. Es ist halt die Frage, ob Fehler immer vermeidbar sind.
Versteh mich nicht falsch, natürlich müssen Fehler soweit als möglich vermieden werden, es ist aber illusorisch zu glauben, daß man dabei 100 Prozent Erfolg hat. Wenn der Aufwand überhaupt tragbar ist.
Das sehe ich ganz genau so. Ich versuche mich nur gerade meinungsmäßig zu "positionieren", was den Grenzbereich Organisationsverschulden-Übernahmeverschulden angeht. Man bekommt ja immer wieder mal zu hören "Wenn das und das passiert, wird jeder Gutachter gegen einen sein". Mir ist auch klar, daß letztlich jeder Schadensfall anders gelagert ist und im Voraus nicht alle Eventualitäten abgesichert werden können. Daß Fehler leider passieren, ist auch klar. Trotzdem ist es gerade in der Zeit des Berufsanfangs immer wieder so, daß beispielsweise viele junge Ärzte viel zu früh in Dienste gelassen werden (je nach Personalmangel teils dramatisch früh, wie auch hier im Forum immer wieder zu lesen ist). Wenn "das System" das so möchte, ist es eine Entscheidung, die der einzelne Arzt nicht beeinflussen kann. Aber er sollte dann auch nicht haftbar gemacht werden können, wenn etwas passiert (es sei denn, er hat grob fahrlässig gehandelt). Und genau DAS ist der Punkt, der meiner Meinung nach unzureichend geregelt ist. Wenn etwas passiert, kann ich mir vorstellen, daß dann ganz schnell mit "Übernahmeverschulden" argumentiert wird, anstatt die Zwangslage des Anfängerarztes zu berücksichtigen.

loxi
23.06.2012, 16:11
Das ist in der Tat eine sehr interessante Frage. Es geht hier denek ich nicht nur um Fehler sondern auch um Aufgaben, die man Übernehmen muss, ohne dafür eigentlich qualifiziert zu sein.

Ist es z.B. ein Übernahmeverschulden, wenn man als einziger Arzt im Haus Nachtidenste macht, ohne z.B. ACLS zu beherrschen und dann ne Reanimation meistern muss, oder ist das dann Schuld des CA/Verwaltung, wenn man jemanden ohne diese Kentnisse zum Dienst einteilt?

Desiderius
23.06.2012, 21:43
Das ist in der Tat eine sehr interessante Frage. Es geht hier denek ich nicht nur um Fehler sondern auch um Aufgaben, die man Übernehmen muss, ohne dafür eigentlich qualifiziert zu sein.

Ist es z.B. ein Übernahmeverschulden, wenn man als einziger Arzt im Haus Nachtidenste macht, ohne z.B. ACLS zu beherrschen und dann ne Reanimation meistern muss, oder ist das dann Schuld des CA/Verwaltung, wenn man jemanden ohne diese Kentnisse zum Dienst einteilt?

Aber zu diesem Punkt (einziger Arzt in der Nacht ohne ALS/ACLS zu Reanimation) , ist es nicht die Verantwortung des Arztes der den Dienst machen muss dies anzugeben und den Dienst zu verweigern ? Dies wäre in meinen Augen ein Übernahmeverschulden!

McDübel
24.06.2012, 00:31
Ärzte müssen bei der Patientenbehandlung den Facharztstandard gewährleisten: Sie sind verpflichtet, nach dem anerkannten und gesicherten Standard der medizinischen Wissenschaft zu behandeln und die jeweilige Behandlung so vorzunehmen wie ein sorgfältig arbeitender Facharzt. Das gilt auch bei (noch) nicht vorhandener Facharztanerkennung

Von diesem Absatz bin ich ein wenig irritiert...wie soll ich denn bitteschön als Anfänger in meinem ersten Dienst (womöglich schon nach 4 Wochen?) einen "Facharztstandard" bei der Behandlung gewährleisten??


Es gilt ein objektivierter Sorgfaltsmaßstab: Die erforderliche Sorgfalt ist die des besonnenen und gewissenhaften Arztes des jeweiligen Fachgebiets. Auf individuelle Besonderheiten des Arztes oder die Situation, in der er sich zum Zeitpunkt der Behandlung befunden hat, kommt es nicht an. Mangelnde Ausbildung und Erfahrung, personelle oder instrumentelle Schwierigkeiten vor Ort entlasten den Arzt oder das Krankenhaus grundsätzlich nicht. Der Arzt haftet somit zivilrechtlich auch für ein aus seiner Lage subjektiv entschuldbares, dem objektiven medizinischen Standard aber nicht entsprechendes Verhalten.


Ein Behandlungsfehler liegt immer vor, wenn der Arzt vor der Behandlung nicht erkannt hat, dass diese die Grenzen seines Fachgebietes, seiner persönlichen Fähigkeiten oder der ihm zur Verfügung stehenden apparativen Ausstattung überschreitet.


Wenn ich mir Absatz 2 und 3 angucke, müsste man also so agieren, wie Desiderius bereits geschrieben hat...den Dienst verweigern! So, schön und gut, und wie soll man das jetzt in der Realität umsetzen? Macht doch keiner... :-nix

Quelle (2008): http://www.aekno.de/page.asp?pageId=4659&noredir=True

Evil
24.06.2012, 11:08
Ist es z.B. ein Übernahmeverschulden, wenn man als einziger Arzt im Haus Nachtidenste macht, ohne z.B. ACLS zu beherrschen und dann ne Reanimation meistern muss, oder ist das dann Schuld des CA/Verwaltung, wenn man jemanden ohne diese Kentnisse zum Dienst einteilt?
Ich denke, das wäre eine Kombination aus beidem, der Assistent könnte also zumindest teilbelangt werden.


Von diesem Absatz bin ich ein wenig irritiert...wie soll ich denn bitteschön als Anfänger in meinem ersten Dienst (womöglich schon nach 4 Wochen?) einen "Facharztstandard" bei der Behandlung gewährleisten??
Indem Du bei allen Unsicherheiten den Hintergrund anrufst, dafür ist der schließlich da. Facharztstandard bedeutet nicht, daß immer ein Facharzt anwesend ist, sondern daß der Patient nach diesen Standards behandelt wird. Je erfahrener ein Assistent ist, in desto mehr Bereichen kann er das, und wo er es nicht kann, muß der Facharzt einrücken oder, sofern möglich, fernmündlich Anweisungen geben.
Problematisch wird das in zeitkritischen Notfällen, sprich bei Reanimationsbedingungen (z.B. ACLS), da MUSS aber im Haus ein entsprechender Arzt da sein, der das beherrscht. Wobei da meines Wissens auch die Zusatzbezeichnung "Notfallmedizin" ausreicht, die man schon vor dem Facharzttitel erwerben kann.

McDübel
24.06.2012, 12:47
Hm, ok. Ich dachte, hier geht´s um so Grenzfälle, wie eben 30min. Anfahrtsweg vom Hintergrund oder das man Nachtdienst schiebt und ganz alleine im Haus ist. Auf solche Situationen bezog sich mein Beitrag. Denn was nützt es mir, wenn ich meinen Hintergrund am Telefon habe und er/sie mir sagt, wie ich bspw. bei einer Maskenbeatmung, die Maske korrekt zu positionieren habe und mir aber dennoch schlicht und ergreifend die Übung fehlt, um diese Anweisungen ordnungsgemäß durchführen/umsetzen zu können? Wenn ich letztendlich in brenzligen Situationen doch auf mich alleine gestellt bin (trotz Hintergrund am Telefon), kann ich eben keinen "Facharztstandard" gewährleisten. Inwieweit solche Szenarien nun wirklich stattfinden, kann ich nicht beurteilen. Kann mir auch nur schwer vorstellen, dass man bei einem Nachtdienst (als Anfänger) komplett alleine im Haus ist.?

Evil
24.06.2012, 15:15
Für brenzlige Situationen muß entweder noch jemand zusätzlich dasein, oder der diensthabende Assi muß fit genug sein, daß er bis zum Eintreffen des Hintergrundes die Situation einigermaßen unter Kontrolle hat, das ist klar.
Häuser, wo das anders läuft, sind mir bislang noch nicht begegnet, soll es aber gerüchteweise geben. Da kann ich nur jedem Kollegen raten, sich da schleunigst aus dem Staub zu machen.

Brutus
24.06.2012, 16:09
^^ Nee, die gibt es nicht nur gerüchteweise! :-(

Also, ich für meinen Teil sehe das so: wenn ich in der Anästhesie Dienste mache, dann kommt für JEDE Narkoseeinleitung der Hintergrund ins Haus! Und nicht nur für die Püscheltierchen! Denn selbst wenn ich im 2. oder 3. WBJ bin, wenn denn wirklich mal der schwierige Atemweg kommt (und er wird irgendwann kommen), dann sollte jemand da sein, der Kraft Gesetzes die Verantwortung auch schultern darf! Der Hintergrund muss ja nicht Einleiten, aber zumindest da sein. Ich habe beides erlebt. Sowohl WBA und FA vor Ort (der Gyn und der Gefäßchirurgie geschuldet), wobei der WBA die Intensivstation geschmissen hat, und bei Fragen / Problemen den FA direkt vor Ort hatte. Andererseits konnte man aber auch auf den Intensivling zurückgreifen, wenn man mal mehr als 4 Hände im OP brauchte...
Und andererseits EIN Diensthabender für alles (ITS/OP/Schockraum/REA). Und das waren zum Teil eben auch blutige Anfänger! Und je nachdem, von wo der Hintergrund kam, vergingen dann eben auch mal 30-45 Minuten. Da war es so geregelt, dass die Assistenten NUR mit Hintergrund einleiten, und bei Problemen eben auch telefonisch Rücksprache halten.

Gerade, wenn eine Gynäkologie am Haus ist, halte ich es für fahrlässig, wenn man als Anfänger ALLEINE Dienste macht / machen soll! Aber selbst für die Otto-Normal-Narkose ist es, zumindest für Anfänger, ein Unding...

Vielleicht sollte man sich an folgende Weisheit halten (aus dem Rettungsdienst geklaut): Solange der Patient anfängt, ist alles gut, dann kann man nur gewinnen. Selbst wenn der Patient auf der Intensiv abrupt schlecht wird, ER hat angefangen...
Anders sieht es aber im OP aus: Wenn ICH anfange, sprich einleite, und dann nicht in der Lage bin, plötzlich auftretende Komplikationen zu händeln, dann habe ich (und der Patient) ein Problem!

Relaxometrie
24.06.2012, 19:58
wenn ich in der Anästhesie Dienste mache, dann kommt für JEDE Narkoseeinleitung der Hintergrund ins Haus! Und nicht nur für die Püscheltierchen!
Püscheltierchen = Privatpatient?

Wie siehst Du die Lage, wenn nachts folgende Konstellation gegeben ist:
Oberarzt in Rufbereitschaft zu Hause, Anfahrtsdauer je nach Oberarzt 10-35 Minuten.
Ein fortgeschrittener Assistent macht Dienst auf der Intensivstation.
Ein Assistent, der halt einfach mal mit Diensten anfangen muß, macht den OP und den Kreißsaal (PDKs).

Desiderius
24.06.2012, 20:40
Von diesem Absatz bin ich ein wenig irritiert...wie soll ich denn bitteschön als Anfänger in meinem ersten Dienst (womöglich schon nach 4 Wochen?) einen "Facharztstandard" bei der Behandlung gewährleisten??


Wenn ich mir Absatz 2 und 3 angucke, müsste man also so agieren, wie Desiderius bereits geschrieben hat...den Dienst verweigern! So, schön und gut, und wie soll man das jetzt in der Realität umsetzen? Macht doch keiner... :-nix

Quelle (2008): http://www.aekno.de/page.asp?pageId=4659&noredir=True

Es gehoeren immer zwei dazu um solche Probleme zu verursachen. Wenn DU dich mit 4 Wochen Erfahrung auf solch einen Deal einlaesst dann solltest Du entwerder lernen NEIN zu Sagen mit Begründung oder eine neue Stelle suchen.
Und ja ich habe bei meinem alten Arbeitgeber geweigert Dienste zu machen und habe erzwungen die Kosten fuer die entsprechende Fortbildungen zu bezahlen. Dem Geschaeftsfuehrer habe ich einen kurzen Brief geschrieben mit der Mitteilung das bestimmtes Kurse mich erst Dienstfaehig machen werden und er doch sicher keine negative Presse haben wollte weil seine Ärzte schlecht ausgebildet waren.
Er hat es genehmigt und fertig war die Sache! Und wenn er es nicht bezahlt hätte wäre ich schneller gegangen :-)

Relaxometrie
24.06.2012, 20:50
Und ja ich habe bei meinem alten Arbeitgeber geweigert Dienste zu machen und habe erzwungen die Kosten fuer die entsprechende Fortbildungen zu bezahlen.
In welchem Fachbereich arbeitest Du?

Brutus
24.06.2012, 21:05
Püscheltierchen = Privatpatient?
Wie siehst Du die Lage, wenn nachts folgende Konstellation gegeben ist:
Oberarzt in Rufbereitschaft zu Hause, Anfahrtsdauer je nach Oberarzt 10-35 Minuten.
Ein fortgeschrittener Assistent macht Dienst auf der Intensivstation.
Ein Assistent, der halt einfach mal mit Diensten anfangen muß, macht den OP und den Kreißsaal (PDKs).
Ja, Püscheltiere=Privatpatienten... :D

Zu der Konstellation: naja. Bei uns war es andersrum. Der erfahrene (FA) machte den OP und den Kreisssaal und der Anfänger die ITS. Wenn dann nachts eine Sectio oder PDK kam, dann haben wir die Jungassis dazugeholt, damit die ihre Sectios bekommen haben. Aber der FA war eben dafür zuständig...

Relaxometrie
24.06.2012, 21:16
Bei uns war es andersrum. Der erfahrene (FA) machte den OP und den Kreisssaal und der Anfänger die ITS. Wenn dann nachts eine Sectio oder PDK kam, dann haben wir die Jungassis dazugeholt, damit die ihre Sectios bekommen haben. Aber der FA war eben dafür zuständig...
Wenn aber der "Anfänger" die ITS schmeißt, muß er dort ja eingearbeitet worden sein. Da man mit der ITS normalerweise nicht gerade direkt zum Berufsanfang beginnt, würde dieses Dienstsystem bedeuten, daß die Berufseinsteiger erst sehr spät Dienste machen? Wann haben die denn mit Diensten begonnen?

Brutus
24.06.2012, 21:21
3 Monate OP, dann 3 Monate ITS-Einarbeitung. Erste Dienste nach 6 Monaten. Aber eben mit einem FA im Haus! Das heißt, bei Problemen innerhalb von max. 5 Minuten aktive hilfe, passive sofort per Telefon!