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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : "Du Mörder, du Tierquäler...."



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Shizr
23.03.2014, 15:53
da hast du recht! Ohne Tierversuche, deren biochemie ganz anders funktioniert als unsere, hätte man niemals dieses tolle Beruhigungs und Antiübelkeitsmittel entdeckt.. mh wie hieß das noch gleich?
Contergan stimmts?
naja Armen und Beinen werden meines Erachtens nach eh viel zu viel Bedeutung beigemessen.
Sachlicher Argumentation wird offenbar auch zu viel Bedeutung beigemessen.

Erstens:
Ja, es gibt Unterschiede in der Physiologie, der Enzymausstattung usw.
Aber die sind nicht alle so gravierend, dass man Erkenntnisse aus dem Tierversuch prinzipiell nie auf den Menschen übertragen könnte. Es gibt Einschränkungen, gar keine Frage, aber es ist durchaus gut möglich, aus der Wirkung einer Substanz beim Tier Vorhersagen bezüglich der Wirkung beim Menschen zu treffen.



Zweitens:
Thalidomid ist ein echtes Problem. Vorher ging man nämlich davon aus, dass Teratogenität im Tierversuch gleichbedeutend mit Teratogenität im Menschen wäre. Und dass das Fehlen von Teratogenität im Tierversuch auch bedeuten würde, dass die Substanz nicht teratogen beim Menschen wäre.

Wir wissen seit dem Contergan-Skandal, dass es eine "Artspezifität" der Teratogenität gibt. Während Thalidomid bei Mäusen und Ratten nicht teratogen ist, ist es sehr wohl teratogen beim Menschen. (Und laut wikipedia auch bei Weißen Neuseeländern, die sind aber als Tiermodell absolut ungebräuchlich.)


Also was machen?
Auf die Untersuchungen zur Reproduktionstoxizität will wohl niemand verzichten, eine Wiederholung des Contergan-Skandals kann man sich nicht ernsthaft wünschen.
Aber im Bereich Teratogenität gibt es, soweit ich weiß, einfach absolut keine Alternative zu Tierversuchen.
(Nebenbei, den - scheinbar ernst gemeinten - Vorschlag, Menschenversuche an "Mördern und Vergewaltigern" durchzuführen, nebst dem Hinweis, "leider" sei das wegen der Menschenrechte nicht möglich, finde ich ziemlich krank. Ehrlich.)


Es ist leider ganz simpel:
Man sollte versuchen, überall da, wo es möglich ist, auf Tierversuche zu verzichten, man sollte an Alternativen zu Tierversuchen forschen, aber es gibt Einsatzbereiche, wo (leider) Tierversuche absolut unverzichtbar sind, weil die entsprechende Fragestellung in vitro nicht zu beantworten ist.
Zellkulturen können nicht alles. Auch wenn die radikalen Fanatiker das gerne glauben wollen, niemand in der pharmazeutischen Wissenschaft macht Tierversuche, weil er Spaß daran hat, Tiere zu quälen.
Man macht Tierversuche, weil es Fragestellungen gibt, die vor dem Einsatz am Menschen beantwortet sein müssen, und die man nicht via Zellkultur oder Computersimulation beantworten kann, sondern nur am lebenden Organismus.

Das ist nicht schön, ich würde es auch begrüßen, wenn man auf Tierversuche komplett verzichten könnte. Aber die Wissenschaft ist eben noch nicht weit genug.

Nette
23.03.2014, 18:16
Wieder mal sehr sachlich und kompetent ausgedrückt!!! ;-)
Ich sehe dass halt auch so. Natürlich sollten nicht unnötig Tierversuche gemacht werden, dennoch bleibt uns oftmals nicht die Wahl! Die Medizin ist noch nicht so weit nur an Kulturen zu forschen...was auch nicht für alle Versuche sinnvoll ist (siehe chirurgische Versuche).
Man sollte aber Ärzte/ Tierärzte nicht immer direkt verurteilen und beschimpfen! Wir helfen dem Forschritt! Und die Tierversuche unterliegen strengen Auflagen, Tierschutzbeauftragte überwachen die Versuche und es wird NICHTS leitfertig durchgeführt!

Was ich mit dem Post bezwecken wollte: Klar einfach, dass Ärzte/ Tierärzte auch in der Öffentlichkeit dazu stehen sollen/ können ohne gleich einen "Farbeimer" ab zu bekommen und ohne gleich beschimpft zu werden!
Natürlich will ich hier keine Werbung für Tierversuche machen!!!!
Aber diese experimentellen Tierversuche sind oft nötig um weiter zu kommen.

DrJoa
23.03.2014, 18:41
hallöchen,

ich finde es wichtig dass über sowas mal gesprochen wird. es ist nunmal teil unserer ausbildung, wird aber gerne immer mal unter den tisch gekehrt und keiner mag darüber reden. es gelten wirklich strenge richtlinien für tierversuche. es ist aber wohl jedem klar dass die nicht überall eingehalten werden. schwarze schafe gibt es überall, aber man kann einfach nicht alle immer unter eine decke stecken.

und ich glaube auch eher weniger dass jemand sein kind für solche "versuche" zur verfügung stellen würde. und ich weiß nicht ob man selber vielleicht auch nicht lieber auf "altbwährtes" zurückgreift, anstatt irgendwas neues ausprobieren lässt von dem man noch nicht weiß wie es sich auf den körper auswirkt.

was ich total unangemessen finde sind tierversuche für kosmetika. das ist einfach unnütz meiner meinung nach.

vg Jo

kartoffelbrei
23.03.2014, 18:45
was ich total unangemessen finde sind tierversuche für kosmetika. das ist einfach unnütz meiner meinung nach.

Deswegen sind die ja zum Glück auch in der EU verboten!

Muriel
23.03.2014, 18:53
Und meine Diss hat für die Augen das Ersatzverfahren zum Thema gehabt ;-)

TorVeti
24.03.2014, 14:53
"Ersatzverfahren für Augen"???
Kannst du mir kurz was dazu erzählen?

Muriel
24.03.2014, 15:13
Bisher war das Standardverfahren zur Testung von Chemikalien am Auge der Draize Test, bei dem die zu testende Substanz in das Auge lebender Kaninchen geträufelt wurde. Dies ist ein extrem schmerzhaftes Verfahren, das zudem auch noch bzgl. der Vorhersagekraft der Wirkung am menschlichen Auge nicht optimal ist. Es gab schon einige andere Ansätze mit Zellkulturen etc. unterschiedlichster Art zum Ersatz, alles nur semikompatibel. Wir hatten nun ein neues Verfahren, den Ex vivo eye irritation test, entwickelt. Dazu bekamen wir Kaninchenköpfe vom Schlachthof, also "Abfälle" der Fleischindustrie. Wir enukleierten die Augen und präparierten sie soweit, dass nur noch die Cornea mit umgebendem Skleralring stehen blieb und spannten dieses Präparat dann in eine neu entwickelte Kammer ein, durch die endothelseitig ein Ernährungsmedium floss. Letztendlich kann man mit diesem System zum Einen mit Testung verschiedenster Parameter (Makro-und Mikroanatomie, Stoffwechseluntersuchungen sowie Zytokinmessungen) nachweisen, dass die HH so überleben und zum Anderen, und das ist das Interessante, dass sie nach Abrasio und Verätzungen Heilungsprozesse aufweisen. Wir konnten also für verschiedene Substanzen auch in Dosis-Wirkungs-Testungen Regenrationsprozesse (oder auch nicht) zeigen. Von der Colipa wird dieses Verfahren mittlerweile vorangetrieben.

TorVeti
24.03.2014, 18:00
Wow das klingt ja echt interessant. Und das man die Prozedur an toten Kaninchenköpfen durchführen konnte ist natürlich eine super Sache.
Wenn ich fragen darf: wann hast du deine Diss geschrieben und wie lange hast du dafür gebraucht?
Hast du dir das Thema selbst ausgedacht?
Wie oft stehen denn experimentelle Tierversuche bei einer Diss im Vordergrund bzw ist es ein großteil der Dissertationen wo Tierversuche gemacht werden?

Muriel
24.03.2014, 19:22
Angefangen habe ich vor elf Jahren, die Versuche waren nach zweieinhalb Jahren größtenteils durch. Das Schreiben war dann nicht so meine Stärke ;-) prinzipiell hatte ich 2008 die Arbeit fertig, die letzten paar Kleinigkeiten hatten sich durch meine Faulheit aber noch drei Jahre hingezogen. Das Thema wurde mir angeboten. Ich kenne einige, die Versuche mit Tieren, dann aber meist Mäusen, gemacht haben. Zahlen kenne ich aber keine. Die meisten meiner Kommilitonen waren aber durchaus ohne Tiere unterwegs, auch im Labor.

gnuff
24.03.2014, 21:14
...Mir wärs auch recht, wenn Mörder und Vergewaltiger für solche Versuche eingesetzt werden würden, leider ist das aber mit den Menschenrechten nicht vereinbar...

Kann man so einen Satz wirklich in ein Internetforum rotzen ohne stockbesoffen zu sein? Geht's noch? "Leider ist das mit den Menschenrechten nicht vereinbar" ??? Egal was Du rauchst, hör auf damit... :-wand

Nessiemoo
25.03.2014, 05:55
Ich mache auch eine tierexperimentelle Arbeit. Wie viele hier, finde ich es gut, dass die Tierversuche reduziert werden, dass man zumidnest weniger belastende Verfahren benutzt, und wenn möglich, es mit anderen Methoden ersetzt. V.a Kosmetik Tests usw.

Momentan gibt es aber eben für manche komplizierte Verfahren eben keine Alternativen, z.B zeigen meine Tierversuche eher das Gegenteil was zellen gezeigt haben ^^, und endlich...ich denke irgendwie dass alle Tierversuchgegner verzichten ja auch sehr ungern auf das medizinische Fortschritt, der durch Tierversuchen entstanden ist.

Ich finde aber es wirklich krass - ich bin eine der wenigen aus meinem Semester, die in der Tat was mit Tieren macht und 99% der Zeit kriege ich eine Reaktion wie "NEIN OMG WIRKLICH? Tötest du die? Wie kannst du sowas machen? ich hatte eine Ratte als Haustier." Also ich kann Leute auf einer Hand zusammenzählen, die so nicht reagiert haben.

Absolute Arrhythmie
25.03.2014, 06:17
Es ist halt einfacher Tierversuche abzulehnen, als sich eine differenzierte Meinung zu einem komplexen Thema zu verschaffen... ^^

Elvira93
25.03.2014, 12:00
Hallo ihr,

sagtmal ist es nicht eh so, dass Medikamente bevor sie auf den Markt kommen an Menschen getestet werden müssen? (Ich kenn mich da ehrlich gesagt gar nicht so aus)
Und wie ist das mit neuen OP-Methoden: werden die generell erst an Tieren getestet oder wie läuft das?

LG Steffi

Shizr
25.03.2014, 16:46
sagtmal ist es nicht eh so, dass Medikamente bevor sie auf den Markt kommen an Menschen getestet werden müssen? (Ich kenn mich da ehrlich gesagt gar nicht so aus)
Im Prinzip ja.


Normalerweise gibt es eine präklinische Phase, in der z.B. an Zellkulturen oder auch an Tieren gearbeitet wird. Erst mal sicherstellen, dass die neue Wunderdroge überhaupt die Wirkung hat, die man sich davon verspricht. Und dass sie nicht nebenbei irgendwelche fatalen Nebenwirkungen auf Säugetierzellen hat.
Die präklinische Phase dauert üblicherweise etliche Jahre. Und laut FDA schaffen nur unter 10% den Sprung aus der präklinischen in die klinische Studienphase.
(Interessanterweise fliegen wohl von den Substanzen, die diesen Sprung schaffen, nur knapp 10% wegen unerwarteter Nebenwirkungen, weil man aus den Tierexperimenten doch recht gut die unerwünschten Arzneimittelwirkungen abschätzen kann. Wegen der nicht 100%igen Übertragbarkeit wird es aber dann in der klinischen Studienphase richtig spannend.)


Es folgt auf die präklinische die klinische Phase.
Zu Beginn gibt es Phase 0 / Phase I: Da gibt man seine Substanz gesunden Probanden, um die Verträglichkeit und Sicherheit abschätzen zu können. Pharmakokinetik und -dynamik sind in dieser Phase relativ wichtig. Bioverfügbarkeit, first-pass-Effekte, Metabolisierung etc., und natürlich die Dosis-Wirkungs-Beziehung.

Phase II ist dann schon ein wenig größer (und länger) angelegt, hier geht es darum, an kranken Probanden nachzuweisen, dass die Substanz überhaupt den erwünschten Effekt hat (proof of concept, IIa) und welche Dosis die richtige ist (dose finding, IIb).

Phase III ist dann der Teil, in dem es darum geht, nicht nur zu zeigen, dass die Substanz wirkt, sondern dass sie entweder besser als die etablierte Standardtherapie ist oder wenigstens nicht unterlegen. Phase III führt dann optimalerweise zur Marktzulassung.

Es gibt anschließend noch die Phase IV. Da geht es dann darum, die Substanz im Markt zu beobachten und im größeren Maßstab als in Phase III das Auftreten unerwünschter Nebenwirkungen zu kontrollieren. Manche Nebenwirkungen sind halt super-super-selten, so dass man sie im Studienkollektiv mit einigen hundert bis tausend Probanden einfach nicht statistisch erfassen kann.

TorVeti
25.03.2014, 16:55
Sehr schön! Hier bekomme ich mal Infos zu einem Thema was sonst tot geschwiegen wird. Finde es gut dass man sich hier mal darüber austauschen kann. In ferner Zukunft habe ich nämlich auch schon überlegt wie meine Diss aussehen könnte und mir wurde auch was tierexperimentelles Angeboten. Man kennt nur leider im Bekanntenkreis, oder sonst wo, zu wenig Leute die sowas machen oder es gar zugeben zu machen und einen ein paar Hintergrund Infos geben können/ wollen.

Elvira93
25.03.2014, 17:36
@ Shizr:

vielen, vielen Dank für deine ausführlichen Infos :). Da bin ich ja jetzt auf dem Gebiet mal um einiges besser informiert ;).

Ich finde den Bereich für eine spätere Dissertation auch interessant. Bei uns gibts auch im Studium schon Kurse, die in die Richtung gehen, z.B. FELASA-Kurse und Umgang mit Versuchstieren usw., die sind eigentlich super beliebt.
Gibts sowas an den anderen Unis auch?

Nette
25.03.2014, 17:44
Bei uns gibt es ab und zu eine Fortbildung zu Tierversuchen. Die nächste ist jetzt am 3. April in Gießen

papiertiger
25.03.2014, 18:20
Wie oft stehen denn experimentelle Tierversuche bei einer Diss im Vordergrund bzw ist es ein großteil der Dissertationen wo Tierversuche gemacht werden?

Zumindest bei den Humanmedizinern machen die tierexperimentellen Arbeiten jetzt keinen so großen Anteil aus. Hab da keine Zahlen, aber so im Umfeld umgeschaut würde ich sagen, dass bei uns auf 10 Leute, die eine experimentelle Arbeit machen vielleicht einer kommt, bei dem diese auch einen Tierversuch beinhaltet.

Wenn jemand allerdings ein grundsätzliches Problem mit allem hat, was irgendwie am Tier erprobt/aus Tier gewonnen oder was auch immer ist, dürfte er sich bei einer experimentellen Arbeit schwer tun. Ich arbeite nicht tierexperimentell und habe zB heute Objektträger mit Kollagen aus Mäuseschwänzen beschichtet, ein Zellkulturmedium mit fetalem Kälberserum angesetzt und einen Mouse Anti Goat Antikörper für Western Blots bestellt - das sind jetzt alles keine außergewöhnlichen Sachen in der täglichen Laborarbeit.

Miss_H
25.03.2014, 19:20
Hab da keine Zahlen, aber so im Umfeld umgeschaut würde ich sagen, dass bei uns auf 10 Leute, die eine experimentelle Arbeit machen vielleicht einer kommt, bei dem diese auch einen Tierversuch beinhaltet.

Da würde ich dir zustimmen, denn Tierversuche sind Versuche an oder mit lebenden Tieren. Die meisten arbeiten dann wohl eher mit toten Tieren.

Evil
25.03.2014, 20:20
Wahrscheinlich werden täglich weitaus mehr Tiere verspeist, die wesentlich schlechtere Lebens- und Sterbebedingungen haben als Versuchstiere.
Bei meinen Versuchen damals hatten die Ratten ein gutes Käfigleben, bis sie kurz vor der Präparation einen raschen und schmerzlosen Tod starben. Ich glaube, eine Umfrage unter gemeinen Kanalratten würde im Ergebnis für Käfighaltung votieren...