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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Orale Antikoagulation bei Vorhofflimmern Indikation Kontraindikation CHADS-Score usw.



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Boergemaus
11.01.2015, 20:28
Hallo Forengemeinde!

Ich wollte mich erkundigen, wie ihr es aktuell mit dem großen Thema der oralen Antikoagulation (OAK) bei Vorhofflimmern (VHF) handhabt? Es gibt da meines Erachtens immer wieder Fragen und Unklarheiten über Indikation, Kontraindikationen, „beste“ Substanz, Indikation zum Absetzen der OAK usw...

1. Welches Präparat wird bei euch warum bevorzugt? Gebt ihr lieber Phenprocoumon oder eher die direkten oralen Antikoagulanzien, wenn der Patient keine höhergradige Niereninsuffizienz hat? Fragt ihr den Hausarzt vorher, mit welchem Präparat er „glücklich’“ wäre und was sein Budget hergibt?

2. Nach den aktuellen Empfehlungen sollte ja meines Wissens jeder Patient mit Vorhofflimmern (egal ob paroxysmal, persistierend, lang anhaltend persistierend oder permanent – wo mir hier die Sinnhaftigkeit der Klassifikation bei gleicher Konsequenz nicht klar ist...) und einem CHADS-VASC-Score von >1 antikoaguliert werden. Das wäre in der Praxis dann eigentlich fast jeder VHF-Patient auf einer internistischen Station - eine immense Anzahl. Kann das gut sein? Was macht ihr bei einem Score von genau 1 Punkt – OAK oder nichts (oder gar ASS?) oder Individualentscheidung? Und wenn individuell – nach welchen Kriterien?
Ausnahme wäre eine Frau unter 65 Jahre ohne weitere Risikofaktoren – die würde man doch nicht antikoagulieren – oder? Und die gleiche Frau über 65 Jahre?

3. Wie handhabt ihr es mit dem HAS-BLED-Score und vor allem – wozu gibt es den eigentlich?
Patienten mit hohem CHADS-VASC-Score haben i.d.R. auch einen hohem HAS-BLED-Score. Also wonach muss ich mich dann richten, wenn Kriterien des einen Scores im anderen ebenfalls mit vorkommen? Und woher weiß ich, ob jemand eine labile INR hat, wenn ich ihn auf eine OAK ersteinstelle bzw. er eine DOAK bekommt oder hat?

4. Wie lange behandelt ihr Patienten mit persistierendem VHF mit OAK, die ihr erfolgreich elektrisch oder medikamentös kardiovertiert habt? Dauerhaft oder nur für eine bestimmte Zeitspanne? Welche Empfehlung gebt ihr dann im Entlassungsbrief dem Hausarzt? (z.B. ambulantes Langzeit-EKG zur Kontrolle des Sinusrhythmuserhalt?) Eigentlich sollte man meines Wissens die OAK bei diesen Patienten NICHT aufheben, oder? Und würdet ihr asymptomatische Patienten mit VHF dann überhaupt noch kardiovertieren, wenn die Konsequenz einer OAK in beiden Fällen die gleiche wäre?

5. Welchen Patienten mit Indikation zur OAK bei VHF gebt ihr keine OAK? Ich stehe immer wieder vor dem Problem der immer immenseren Anzahl sehr und sehr sehr alter Patienten mit zufällig diagnostiziertem VHF oder seit Jahren bekanntem und mit ASS therapiertem VHF.
Stellt ihr die alle „leitliniengerecht“ auf eine OAK ein bzw. um oder schiebt ihr die Verantwortung gar dem Hausarzt zu? Wenn nicht einmal mehr Sturzneigung eine Kontraindikation darstellt (meines Wissens muss man dutzende Male stürzen, damit der Nachteil den Vorteil einer OAK überwiegt), wer bekommt bei euch keine OAK und warum?
Irgendwie muss man sich im Entlassungsbrief ja sinnvoll rechtfertigen, warum man Patient xy trotz prinzipieller Indikation eine OAK „vorenthalten“ hat. Das finde ich extrem unangenehm und aktuelle scheint es mir so, dass man – genau gegensätzlich zu früher – eher Patienten auf eine OAK einstellt (trotz teilweise berechtigter Bedenken des Arztes), als diese ohne laufen zu lassen.

6. Gibt der Arzt einem VHF-Patienten OAKs und dieser bekommt eine Hirnblutung, ist der Arzt „daran schuld“. Gibt der Arzt einem VHF-Patienten keine OAKs und dieser bekommt einen Schlaganfall, ist auch der Arzt „daran schuld“. Wie geht ihr mit diesem Dilemma um?

7. Welchen Patienten setzt ihr eine etablierte OAK ab? Was sind echte Kontraindikationen gegen eine OAK außer bei frischer Blutung?


Fragen über Fragen, aber ich bin sehr gespannt auf eure Antworten und hoffe auf eine rege Diskussion zu diesem für mich sehr interessanten und vor allem stets aktuellen Thema. :-top

dantheg
12.01.2015, 03:38
1. Welches Präparat wird bei euch warum bevorzugt? Gebt ihr lieber Phenprocoumon oder eher die direkten oralen Antikoagulanzien, wenn der Patient keine höhergradige Niereninsuffizienz hat? Fragt ihr den Hausarzt vorher, mit welchem Präparat er „glücklich’“ wäre und was sein Budget hergibt?

Ich tendiere zu den neueren Medikamenten denn die sind mindestens genauso gut, einfacher Hand zu haben und tendenziell haben sie weniger Nebenwirkungen. Die fehlende Möglichkeit eines wirksamen Antidots (Vitamin K) sollte man mit den Patienten besprechen. Ich praktiziere in den USA und die Zuzahlung bei den neueren Präparaten ist manchmal ein Thema; muss man mit den Patienten besprechen.


2. Nach den aktuellen Empfehlungen sollte ja meines Wissens jeder Patient mit Vorhofflimmern (egal ob paroxysmal, persistierend, lang anhaltend persistierend oder permanent – wo mir hier die Sinnhaftigkeit der Klassifikation bei gleicher Konsequenz nicht klar ist...) und einem CHADS-VASC-Score von >1 antikoaguliert werden. Das wäre in der Praxis dann eigentlich fast jeder VHF-Patient auf einer internistischen Station - eine immense Anzahl. Kann das gut sein? Was macht ihr bei einem Score von genau 1 Punkt – OAK oder nichts (oder gar ASS?) oder Individualentscheidung? Und wenn individuell – nach welchen Kriterien?
Ausnahme wäre eine Frau unter 65 Jahre ohne weitere Risikofaktoren – die würde man doch nicht antikoagulieren – oder? Und die gleiche Frau über 65 Jahre?

Du musst den CHADS-Vasc Score nicht als Gesetz sehen sondern als Entscheidungshilfe in deinem Umgang mit Patienten. Mit Hilfe des Scores kann ich dem Patienten relativ genau sagen was die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls im nächsten Jahr beträgt. Ein Patient mit CHADS-Vasc von 2 aber dem der Opa eine Hirnblutung unter Marcumar hatte wird vielleicht anders entscheiden wenn er einen Score von 5 hat. Bei einem Score von 1 (die gibts tatsächlich!) kann man Aspirin geben. Auch gilt der CHADS-Vasc Score nur für non-valvular (nicht-valvulärem?) VHF. Wenn einer eine dicke Mitralstenose und VHF hat, auch bei einem CHADS von 0, gehört er antikoaguliert (zugegeben, ich habe diesen Patienten noch nicht getroffen).


3. Wie handhabt ihr es mit dem HAS-BLED-Score und vor allem – wozu gibt es den eigentlich?
Patienten mit hohem CHADS-VASC-Score haben i.d.R. auch einen hohem HAS-BLED-Score. Also wonach muss ich mich dann richten, wenn Kriterien des einen Scores im anderen ebenfalls mit vorkommen? Und woher weiß ich, ob jemand eine labile INR hat, wenn ich ihn auf eine OAK ersteinstelle bzw. er eine DOAK bekommt oder hat?

Wie beim CHADS-Vasc Score ist der HAS-BLED Score ebenfalls lediglich eine Entscheidungshilfe. Blutverlust ist allerdings meist einfacher zu therapieren als ein Schlaganfall. In besonderen Fällen wie bei den Zeugen Jehovas ist es vielleicht anders.


4. Wie lange behandelt ihr Patienten mit persistierendem VHF mit OAK, die ihr erfolgreich elektrisch oder medikamentös kardiovertiert habt? Dauerhaft oder nur für eine bestimmte Zeitspanne? Welche Empfehlung gebt ihr dann im Entlassungsbrief dem Hausarzt? (z.B. ambulantes Langzeit-EKG zur Kontrolle des Sinusrhythmuserhalt?) Eigentlich sollte man meines Wissens die OAK bei diesen Patienten NICHT aufheben, oder? Und würdet ihr asymptomatische Patienten mit VHF dann überhaupt noch kardiovertieren, wenn die Konsequenz einer OAK in beiden Fällen die gleiche wäre?

4 Wochen nach Kardioversion sollte man antikoagulieren. Persönlich würde ich nicht kardiovertieren bei asymptomatischen Patienten außer es gibt einen guten Grund dafür. Eine Kontrolle des Rhythmus kann man erwägen, weiß nicht ob es hierzu Leitlinien gibt.


5. Welchen Patienten mit Indikation zur OAK bei VHF gebt ihr keine OAK? Ich stehe immer wieder vor dem Problem der immer immenseren Anzahl sehr und sehr sehr alter Patienten mit zufällig diagnostiziertem VHF oder seit Jahren bekanntem und mit ASS therapiertem VHF.
Stellt ihr die alle „leitliniengerecht“ auf eine OAK ein bzw. um oder schiebt ihr die Verantwortung gar dem Hausarzt zu? Wenn nicht einmal mehr Sturzneigung eine Kontraindikation darstellt (meines Wissens muss man dutzende Male stürzen, damit der Nachteil den Vorteil einer OAK überwiegt), wer bekommt bei euch keine OAK und warum?
Irgendwie muss man sich im Entlassungsbrief ja sinnvoll rechtfertigen, warum man Patient xy trotz prinzipieller Indikation eine OAK „vorenthalten“ hat. Das finde ich extrem unangenehm und aktuelle scheint es mir so, dass man – genau gegensätzlich zu früher – eher Patienten auf eine OAK einstellt (trotz teilweise berechtigter Bedenken des Arztes), als diese ohne laufen zu lassen.

Compliance ist ein Thema - bei den Suchtpatienten passe ich etwas auf, da könnte es sinnvoll sein die Entscheidung dem Hausarzt zu überlassen. Ich hatte letztens eine Patientin die eigentlich eine Indikation hatte, die ist allerdings in den letzten 3 Jahren 3 mal gestürzt. Eigentlich gar nicht mal so häufig aber bei allen Stürzen hatte sie eine kleine Hirnblutung (ohne Antikoagulation) ... mit ihr habe ich besprochen dass es vielleicht keine gute Idee wäre zu antikoagulieren. Aber generell, ja klar, wenn die Indikation besteht und der Patient nicht gut therapiert ist dann sollte man richtig therapieren! Wenn einer mit CHADS-Vasc von 4 etwa nur Aspirin nimmt dann ist das keine ausreichende Therapie, außer es gibt gute Gründe hierfür.


6. Gibt der Arzt einem VHF-Patienten OAKs und dieser bekommt eine Hirnblutung, ist der Arzt „daran schuld“. Gibt der Arzt einem VHF-Patienten keine OAKs und dieser bekommt einen Schlaganfall, ist auch der Arzt „daran schuld“. Wie geht ihr mit diesem Dilemma um?

Nebenwirkungen haben alle Medikamente - falls die Indikation stimmt und du die Risiken mit dem Patient besprochen (und dokumentiert) hast dann müsste es passen.


7. Welchen Patienten setzt ihr eine etablierte OAK ab? Was sind echte Kontraindikationen gegen eine OAK außer bei frischer Blutung?

Eine Allergie wäre eine echte Kontraindikation. Wenn sich die Nierenfunktion verschlechtert muss man eventuell Präparate wechseln.

Peter_1
12.01.2015, 11:14
Hallo Forengemeinde!

Ich wollte mich erkundigen, wie ihr es aktuell mit dem großen Thema der oralen Antikoagulation (OAK) bei Vorhofflimmern (VHF) handhabt? Es gibt da meines Erachtens immer wieder Fragen und Unklarheiten über Indikation, Kontraindikationen, „beste“ Substanz, Indikation zum Absetzen der OAK usw...

1. Welches Präparat wird bei euch warum bevorzugt? Gebt ihr lieber Phenprocoumon oder eher die direkten oralen Antikoagulanzien, wenn der Patient keine höhergradige Niereninsuffizienz hat? Fragt ihr den Hausarzt vorher, mit welchem Präparat er „glücklich’“ wäre und was sein Budget hergibt?

Ja bitte, unbedingt den Hausarzt mit einbeziehen, es gibt von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft eine Empfehlung: http://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/TE/LF/index.html
Auch die DEGAM sieht das so: http://www.degam.de/files/Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Dokumente/S1-Handlungsempfehlung/S1-HE_NOAK_Kurzfassung.pdf
Sprich: NOAKs bitte nicht bei jedem Patienten im "Erstangriff", obwohl das schwer in Mode ist gerade. Es kann durchaus sein, dass es Regresse gibt, oder aber bei Komplikationen auch juristische Auseinandersetzungen zum Nachteil des Hausarztes (und ggfs. der Klinik) geben.



2. Nach den aktuellen Empfehlungen sollte ja meines Wissens jeder Patient mit Vorhofflimmern (egal ob paroxysmal, persistierend, lang anhaltend persistierend oder permanent – wo mir hier die Sinnhaftigkeit der Klassifikation bei gleicher Konsequenz nicht klar ist...) und einem CHADS-VASC-Score von >1 antikoaguliert werden. Das wäre in der Praxis dann eigentlich fast jeder VHF-Patient auf einer internistischen Station - eine immense Anzahl. Kann das gut sein? Was macht ihr bei einem Score von genau 1 Punkt – OAK oder nichts (oder gar ASS?) oder Individualentscheidung? Und wenn individuell – nach welchen Kriterien?
Ausnahme wäre eine Frau unter 65 Jahre ohne weitere Risikofaktoren – die würde man doch nicht antikoagulieren – oder? Und die gleiche Frau über 65 Jahre?
Ob das gut ist werden wir wahrscheinlich erst Jahrzehnte später sehen, aber im Endeffekt sieht es so aus wie Du es sagst, fast jeder Flimmerer hat die Indikation zur Antikoagulation.



3. Wie handhabt ihr es mit dem HAS-BLED-Score und vor allem – wozu gibt es den eigentlich?
Patienten mit hohem CHADS-VASC-Score haben i.d.R. auch einen hohem HAS-BLED-Score. Also wonach muss ich mich dann richten, wenn Kriterien des einen Scores im anderen ebenfalls mit vorkommen? Und woher weiß ich, ob jemand eine labile INR hat, wenn ich ihn auf eine OAK ersteinstelle bzw. er eine DOAK bekommt oder hat?
Der HASBLED SCORE ist nicht so unbedingt gut evidenzmässig abgesichert, letztlich ist und bleibt es eine klinische Abwägungssache.



4. Wie lange behandelt ihr Patienten mit persistierendem VHF mit OAK, die ihr erfolgreich elektrisch oder medikamentös kardiovertiert habt? Dauerhaft oder nur für eine bestimmte Zeitspanne? Welche Empfehlung gebt ihr dann im Entlassungsbrief dem Hausarzt? (z.B. ambulantes Langzeit-EKG zur Kontrolle des Sinusrhythmuserhalt?) Eigentlich sollte man meines Wissens die OAK bei diesen Patienten NICHT aufheben, oder? Und würdet ihr asymptomatische Patienten mit VHF dann überhaupt noch kardiovertieren, wenn die Konsequenz einer OAK in beiden Fällen die gleiche wäre?
Eigentlich müssten die (so ausreichender CHADS-VASC) dauertherapiert werden, auch ein dokumentierter SR im 24h EKG schließt letztlich ein Flimmern 2h nach Abgabe des LZ EKGS nicht aus.



5. Welchen Patienten mit Indikation zur OAK bei VHF gebt ihr keine OAK? Ich stehe immer wieder vor dem Problem der immer immenseren Anzahl sehr und sehr sehr alter Patienten mit zufällig diagnostiziertem VHF oder seit Jahren bekanntem und mit ASS therapiertem VHF.
Stellt ihr die alle „leitliniengerecht“ auf eine OAK ein bzw. um oder schiebt ihr die Verantwortung gar dem Hausarzt zu? Wenn nicht einmal mehr Sturzneigung eine Kontraindikation darstellt (meines Wissens muss man dutzende Male stürzen, damit der Nachteil den Vorteil einer OAK überwiegt), wer bekommt bei euch keine OAK und warum?
Irgendwie muss man sich im Entlassungsbrief ja sinnvoll rechtfertigen, warum man Patient xy trotz prinzipieller Indikation eine OAK „vorenthalten“ hat. Das finde ich extrem unangenehm und aktuelle scheint es mir so, dass man – genau gegensätzlich zu früher – eher Patienten auf eine OAK einstellt (trotz teilweise berechtigter Bedenken des Arztes), als diese ohne laufen zu lassen.
Das ist immer eine Einzelfallentscheidung, so etwas gehört zusammen mit den Patienten (oder zus. den Angehörigen) besprochen, ich denke da kann man keine strikte Regel ableiten, im Zweifel auch da mal den HAusarzt anrufen, damit alle an einem Strang ziehen.



6. Gibt der Arzt einem VHF-Patienten OAKs und dieser bekommt eine Hirnblutung, ist der Arzt „daran schuld“. Gibt der Arzt einem VHF-Patienten keine OAKs und dieser bekommt einen Schlaganfall, ist auch der Arzt „daran schuld“. Wie geht ihr mit diesem Dilemma um?

Indem man die Patienten in die Entscheidungsfindung mit einbezieht und ordentlich aufklärt. Im konkreten Fall sollte nach ärztlichem Ermessen natürlich so gehandelt werden, dass das größere Risiko Ausschlag gibt und dies auch so kommunzieren.



7. Welchen Patienten setzt ihr eine etablierte OAK ab? Was sind echte Kontraindikationen gegen eine OAK außer bei frischer Blutung?
Tja, ist wirklich schwierig da allgemeingültige Gesetze zu verfassen, finde ich (unbefriedigende Aussage für Dich, sorry, ist mir klar).

Lava
12.01.2015, 13:40
Hallo Forengemeinde!

7. Welchen Patienten setzt ihr eine etablierte OAK ab? Was sind echte Kontraindikationen gegen eine OAK außer bei frischer Blutung?



Sturzneigung?

Relaxometrie
12.01.2015, 13:57
Was sind echte Kontraindikationen gegen eine OAK außer bei frischer Blutung?
unzureichend eingestellter arterieller Hypertonus
kürzlich stattgehabter Schlaganfall (auch ischämischer Schlaganfall)
unbehandelte Magen-Darm-Ulcera
Sturzgefahr (hat Lava ja schon geschrieben)
generell höheres Blutungsrisiko, als Nutzen des OAK (CHADS2-Score (bzw. CHA2DS2-VASc-Score) versus HAS-BLED-Score)

Diese Aufzählung ist bestimmt nicht vollzählig, aber eine Auswahl der Dinge, die mir jetzt eingefallen sind.

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12.01.2015, 14:47
Hallo Forengemeinde!

1. Welches Präparat wird bei euch warum bevorzugt? Gebt ihr lieber Phenprocoumon oder eher die direkten oralen Antikoagulanzien, wenn der Patient keine höhergradige Niereninsuffizienz hat? Fragt ihr den Hausarzt vorher, mit welchem Präparat er „glücklich’“ wäre und was sein Budget hergibt?


Bei uns:
Bei VHF mit begleitender KHK+TAH (ggf. Z.n. Intervention in VG) leichte Tendenz zu Marcumar.
Pat. Z.n. CABG intermediär, eher noch Marcumar.
Bei "nur" VF bevorzugen wir NOAK (in ein paar Studien wohl n' Hauch besser als VKAs bzgl. einiger Blutungsereignisse :-nix). Wobei die NNT bei Vorteilen im Promille-Bereich meist >200 ist. Und Tagestherapiekostenvergleiche NOAK vs. Marcumar einem Tränen in die Augen teiben... Aber ich bin ja zum Glück noch kein Endentscheidungsträger ;-)
Niereninsuffizienz: Einzelfallentscheidung, oft mit Nephrologen gemeinsam. Problem: Singifikant höhere Gefäßverkalkung unter Marcumar-Therapie vs. renale Elimination.

Wir besprechen das möglichst immer mit HA, er muss das ja weiterbetreuen.



2. Nach den aktuellen Empfehlungen sollte ja meines Wissens jeder Patient mit Vorhofflimmern (egal ob paroxysmal, persistierend, lang anhaltend persistierend oder permanent – wo mir hier die Sinnhaftigkeit der Klassifikation bei gleicher Konsequenz nicht klar ist...) und einem CHADS-VASC-Score von >1 antikoaguliert werden. Das wäre in der Praxis dann eigentlich fast jeder VHF-Patient auf einer internistischen Station - eine immense Anzahl. Kann das gut sein? Was macht ihr bei einem Score von genau 1 Punkt – OAK oder nichts (oder gar ASS?) oder Individualentscheidung? Und wenn individuell – nach welchen Kriterien?
Ausnahme wäre eine Frau unter 65 Jahre ohne weitere Risikofaktoren – die würde man doch nicht antikoagulieren – oder? Und die gleiche Frau über 65 Jahre?


Wenn VHF-Episode dann i.d.R. Antikoagulation. Die CHRYSTAL-AF Studie bzw. die Rate des "kryptogenen Schlaganfalls" sprechen in unserer Interpretation z.Zt. eher für ein großzügigeres Regime (auch bei der Implantation von Eventrekordern agieren wir jetzt deutlich niederschwelliger), dann auch eher mit NOAKs (s.O.).
Grenzfallentscheidungen erfolgen auf mehreren Schultern (CA, OA, HA, Pat.).



3. Wie handhabt ihr es mit dem HAS-BLED-Score und vor allem – wozu gibt es den eigentlich?
Patienten mit hohem CHADS-VASC-Score haben i.d.R. auch einen hohem HAS-BLED-Score. Also wonach muss ich mich dann richten, wenn Kriterien des einen Scores im anderen ebenfalls mit vorkommen? Und woher weiß ich, ob jemand eine labile INR hat, wenn ich ihn auf eine OAK ersteinstelle bzw. er eine DOAK bekommt oder hat?


Du hast Recht, die Schnittmenge ist groß. Gibt aber schon Unterscheidungskriterien, die sich auch in der Risikostratifizierung relevant widerspiegeln (CNI, CLD, NSAID/TAHs, C2, Blutung). Spiel das mal beispielsweise auf MedCalc oder QxCalculate oder händisch durch... Grundsätzlich kann man das auch im Kopf grob abkaspern ;-)
Beispiel:
Frau, 67J., Diabetes, aHTN, jetzt TAA/VHF --> 4 Pkt. respektive 4%/y => Empfehlung zur Antikoagulation gut begründbar, mit statistisch (!) überschaubarem Blutungsrisiko (2 Pkt./ 1.88% p.a.). Benefit dürfte also überwiegen.
Gleiche Frau mit diff. OGIB bei Gastritis in VG oder C2-Problematik --> HAS-BLED 3 Pkt. respektive 3.7% => Ich erkläre dem Pat. das Blutungsrisiko und bspw. Stroke-Risiko in etwa pari sind und erläutere die ggf. resultiereden Krankheitsbilder/Komplikationen (bspw. Stroke und OGIB). Ferner dokumentiere ich das erhöhte Bltgs.-Risiko auch in die OAK-Aufklärung und bei der Diskussion für eine präventive Gastroskopie habe ich auch ein besseres Argument.
Subsumierend bespreche ich das mit den "üblichen Verdächtigen".



4. Wie lange behandelt ihr Patienten mit persistierendem VHF mit OAK, die ihr erfolgreich elektrisch oder medikamentös kardiovertiert habt? Dauerhaft oder nur für eine bestimmte Zeitspanne? Welche Empfehlung gebt ihr dann im Entlassungsbrief dem Hausarzt? (z.B. ambulantes Langzeit-EKG zur Kontrolle des Sinusrhythmuserhalt?) Eigentlich sollte man meines Wissens die OAK bei diesen Patienten NICHT aufheben, oder? Und würdet ihr asymptomatische Patienten mit VHF dann überhaupt noch kardiovertieren, wenn die Konsequenz einer OAK in beiden Fällen die gleiche wäre?


Dauerhafte OAK.
Empfehlungen: Kontrolle von INR ggf. (logisch), jährliche Kontrolle der Nierenfunktion finde ich bei dem durchschnittlichen Patientengut grenzwertig wenig. Hier empfehle ich abgestuft:
- NOAK neu und dosisangepasst: Ersten 4 Monate 4-wöchentlich, dann 1/4 jährlich bis 1/2 jährlich
- NOAK allgemein: halbjährlich mindestens
Cardioversion mache ich nicht, um eine OAK zu vermeiden. Ziel wäre eine Rhythmuskontrolle zur Verbesserung des cardialen Outputs, weil entweder direkt symptomathisch oder indirekt im Alltag bei körperlicher Belastung bspw... Relativ weich ist IMO die Indikation für Patienten die sich durch die Palpitationen/Arrhythmie gestört fühlen, aber ergometrisch gut belastbar sind. Hier kläre ich vor EKV dann auch sehr, sehr klar auf, bzw. weise auf die "weiche Indikation/Patientenwunsch" explizit hin.
Trotz TEE-Standard passiert ja glgtl. doch mal irgend etwas.
Sonst finde ich Frequenzkontrolle auch prima, bei überschaubarer Atrium-Größe und "jungen" Patienten meist aber gerne ein CV-Versuch.



5. Welchen Patienten mit Indikation zur OAK bei VHF gebt ihr keine OAK? Ich stehe immer wieder vor dem Problem der immer immenseren Anzahl sehr und sehr sehr alter Patienten mit zufällig diagnostiziertem VHF oder seit Jahren bekanntem und mit ASS therapiertem VHF.
Stellt ihr die alle „leitliniengerecht“ auf eine OAK ein bzw. um oder schiebt ihr die Verantwortung gar dem Hausarzt zu? Wenn nicht einmal mehr Sturzneigung eine Kontraindikation darstellt (meines Wissens muss man dutzende Male stürzen, damit der Nachteil den Vorteil einer OAK überwiegt), wer bekommt bei euch keine OAK und warum?
Irgendwie muss man sich im Entlassungsbrief ja sinnvoll rechtfertigen, warum man Patient xy trotz prinzipieller Indikation eine OAK „vorenthalten“ hat. Das finde ich extrem unangenehm und aktuelle scheint es mir so, dass man – genau gegensätzlich zu früher – eher Patienten auf eine OAK einstellt (trotz teilweise berechtigter Bedenken des Arztes), als diese ohne laufen zu lassen.

6. Gibt der Arzt einem VHF-Patienten OAKs und dieser bekommt eine Hirnblutung, ist der Arzt „daran schuld“. Gibt der Arzt einem VHF-Patienten keine OAKs und dieser bekommt einen Schlaganfall, ist auch der Arzt „daran schuld“. Wie geht ihr mit diesem Dilemma um?


Dieses Dilemma bleibt aus meiner Sicht, irgendwie wäre es dann auch langweilig & wir würden hier uns nicht ausstauschen sondern Affen täten unseren Job.
Wie ich oben schon schrieb: Ich wäge letzten Endes ab (Faktoren: Komorbiditäten, Eindruck auf Stationsalltag - hier insbesondere dokumentierte Stürze problematisch, Scores, RS mit Kollegen/Vorgesetzten & Patient & HA & Angehörigen ggf., Bauchgefühl). Rechtfertigen finde ich in Briefen recht einfach dann: Indikation formal vorhanden wg. XYZ, allerdings hoher HAS-BLED-Score (X %) und klinisch/pflegerisch deutliche Sturzneigung (dokumentiert) und/oder relevante Blutungsereignisse in der Vorgeschichte (ABCD). Demnach Verzicht auf eine OAK gemäß RS mit Pat./Angeh./HA.

Zum Thema Schuld:
Schuld hat idR. nur der Patient selbst/liebe Gott/Karma whatever. Wir machen ein Therapieangebot gemäß akt. Studienlage/Leitlinie unter Berücksichtigung der indiv. Situation (Dienstleistung der höheren Art =/ Werkvertrag mit Garantie). Darüber und über die Pro's&Con's sowie die Problematik von Statistik kläre ich auf.
Schließlich biete ich eine Einschätzung/Empfehlung an (und weise draufhin das ich kein Prophet bin). Unterschreiben muss am Ende der Patient.



7. Welchen Patienten setzt ihr eine etablierte OAK ab? Was sind echte Kontraindikationen gegen eine OAK außer bei frischer Blutung?


Relevante Bltg.Ereignisse in der VG, falls du diese in deiner Frage nicht bereits inkludiert hattest...


Gruß LOGO (der hier auch noch viel Nachholbedarf hat)

PS: Danke für die interessanten Beiträge :-)

Evil
12.01.2015, 17:33
Als Hausarzt bevorzuge ich für die dauerhafte Antikoagulation momentan noch Phenprocoumon, wenn nicht gerade ein deutlich erhöhtes Risiko für ICB vorliegt. Hauptargument ist für mich die Möglichkeit des Monitorings, die gleichzeitig auch eine bessere Anbindung des Patienten an mich bringt. Abgesehen davon fehlen noch Langzeiterfahrungen mit den NOAK. Und bei fitten Patienten besteht immer die Möglichkeit der Selbstmessung, da hat bisher noch keine Krankenkasse Probleme gemacht.

Ich denke, daß die NOAK in wenigen Jahren Marcumar komplett ersetzen werden, spätestens sobald Langzeitdaten und eine günstige Möglichkeit zur Gerinnungsmessung vorliegen.

SuperSonic
12.01.2015, 20:26
Gebt ihr lieber Phenprocoumon oder eher die direkten oralen Antikoagulanzien, wenn der Patient keine höhergradige Niereninsuffizienz hat?
Letzteres, da aber nur Eliquis oder Xarelto. Pradaxa wird bei uns nicht neu verordnet. Frag mich nicht, warum genau. Irgendwas mit ungünstigem Blutungsprofil, hieß es mal.


Fragt ihr den Hausarzt vorher, mit welchem Präparat er „glücklich’“ wäre und was sein Budget hergibt?
Nein.


Was macht ihr bei einem Score von genau 1 Punkt – OAK oder nichts (oder gar ASS?) oder Individualentscheidung? Und wenn individuell – nach welchen Kriterien?
Nichts oder ASS. Solche Fälle hatte ich bisher nur vereinzelt, war dann individuelle OA-Entscheidung. Wirklich handfeste Kriterien gibt es da m. W. nicht.


Ausnahme wäre eine Frau unter 65 Jahre ohne weitere Risikofaktoren – die würde man doch nicht antikoagulieren – oder? Und die gleiche Frau über 65 Jahre?
Weiblich und >65 J. sind schon 2 Punkte und damit ist die Indikation zur OAK gegeben. Bei nur 1 Punkt eben noch nicht.


3. Wie handhabt ihr es mit dem HAS-BLED-Score und vor allem – wozu gibt es den eigentlich?
Ist bei uns nicht wirklich im Einsatz.


4. Wie lange behandelt ihr Patienten mit persistierendem VHF mit OAK, die ihr erfolgreich elektrisch oder medikamentös kardiovertiert habt? Dauerhaft oder nur für eine bestimmte Zeitspanne? Welche Empfehlung gebt ihr dann im Entlassungsbrief dem Hausarzt? (z.B. ambulantes Langzeit-EKG zur Kontrolle des Sinusrhythmuserhalt?)
Nach Kardioversion mind. 4 Wochen, besser 3 Monate. Regelmäßige LZEKG-Kontrollen.


Und würdet ihr asymptomatische Patienten mit VHF dann überhaupt noch kardiovertieren, wenn die Konsequenz einer OAK in beiden Fällen die gleiche wäre?
Ja, bei jüngeren, noch fitten Patienten wird bei uns oft eine EKV versucht, auch wenn sie asymptomatisch sind.


5. Welchen Patienten mit Indikation zur OAK bei VHF gebt ihr keine OAK? Ich stehe immer wieder vor dem Problem der immer immenseren Anzahl sehr und sehr sehr alter Patienten mit zufällig diagnostiziertem VHF oder seit Jahren bekanntem und mit ASS therapiertem VHF.
Stellt ihr die alle „leitliniengerecht“ auf eine OAK ein bzw. um oder schiebt ihr die Verantwortung gar dem Hausarzt zu? Wenn nicht einmal mehr Sturzneigung eine Kontraindikation darstellt (meines Wissens muss man dutzende Male stürzen, damit der Nachteil den Vorteil einer OAK überwiegt), wer bekommt bei euch keine OAK und warum?
Irgendwie muss man sich im Entlassungsbrief ja sinnvoll rechtfertigen, warum man Patient xy trotz prinzipieller Indikation eine OAK „vorenthalten“ hat. Das finde ich extrem unangenehm und aktuelle scheint es mir so, dass man – genau gegensätzlich zu früher – eher Patienten auf eine OAK einstellt (trotz teilweise berechtigter Bedenken des Arztes), als diese ohne laufen zu lassen.
Die 90-jährige demente PEG-ernährte Omma mit ASS wird bei Erstdiagnose VHF natürlich nicht reflexartig auf (N)OAK umgestellt. Bei weniger eindeutigen Fällen darf man im Zweifel ruhig die Entscheidung dem Hausarzt überlassen, der die Pat. oft seit vielen Jahren betreut und die Gesamtsituation einfach besser beurteilen kann. Im Arztbrief also der Vorschlag "Diskussion Umstellung ASS auf (N)OAK". Keine Ahnung, wieso einem das unangenehm sein sollte.


6. Gibt der Arzt einem VHF-Patienten OAKs und dieser bekommt eine Hirnblutung, ist der Arzt „daran schuld“. Gibt der Arzt einem VHF-Patienten keine OAKs und dieser bekommt einen Schlaganfall, ist auch der Arzt „daran schuld“. Wie geht ihr mit diesem Dilemma um?
Wenn Patienten entsprechend aufgeklärt wurden, ist es kein Dilemma, sondern Schicksal.


7. Welchen Patienten setzt ihr eine etablierte OAK ab? Was sind echte Kontraindikationen gegen eine OAK außer bei frischer Blutung?
Dauerhaft absetzen? Hatte den Fall noch nicht. Könnte ich mir aber bei rezidivierenden Stürzen vorstellen. Vorübergehend absetzen natürlich bei Blutung, Akkumulation, vor invasiven Maßnahmen.

Hellequin
12.01.2015, 21:27
unzureichend eingestellter arterieller Hypertonus
kürzlich stattgehabter Schlaganfall (auch ischämischer Schlaganfall)
unbehandelte Magen-Darm-Ulcera
Sturzgefahr (hat Lava ja schon geschrieben)
generell höheres Blutungsrisiko, als Nutzen des OAK (CHADS2-Score (bzw. CHA2DS2-VASc-Score) versus HAS-BLED-Score)

Diese Aufzählung ist bestimmt nicht vollzählig, aber eine Auswahl der Dinge, die mir jetzt eingefallen sind.
Ein Schlaganfall ist nicht generell eine Kontraindikation für eine Antikoagulation. Letztendlich ist vor allem die Größe des Schlaganfallareal und das vorliegen/nicht vorliegen einer hämorrhagischen Transformation entscheidend.
Nach der aktuellen Studienlage wird auch das Blutungsrisiko bei Stürzen überschätzt ( z.B. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22840664 ). Kontraindikation für eine Antikoagulation wäre aber zum Beispiel eine deutliche Amyloidangiopathie.

Peter_1
13.01.2015, 13:39
Ich bekomme ja immer einen Föhn wenn im Krankenhaus ambulant gut eingestellte Marcumarpatienten ohne Rücksprache mit mir sogar auf NOAKs umgestellt werden! Die Neueinstellung standardmässig jeglicher Patienten sofort auf NOAKs ist auch nicht nachvollziehbar, aber Umstellung einfach nur unkollegial und vollkommen daneben. Ich würde auch für Entscheidungsträger im Krankenhaus einfordern wollen, sich mal mit den Richtlinien der ambulanten Arzneimitteltherapie (wirtschaftlich, ausreichend, notwendig, zweckmäßig, kurz: WANZ) auseinanderzusetzen. Ein relevanter Zusatznutzen der NOAKS gegenüber gut eingestellten Marcumarpatienten ist nach wie vor nicht erwiesen, auf die fehlenden Langzeitdaten im "real life" möchte ich ebenso hinweisen. Eine erneute Umstellung ambulant für die Patienten bedeutet ein neues Gefährdungspotential während der Umstellung.

Autolyse
13.01.2015, 15:41
[...]
1. Welches Präparat wird bei euch warum bevorzugt? Gebt ihr lieber Phenprocoumon oder eher die direkten oralen Antikoagulanzien, wenn der Patient keine höhergradige Niereninsuffizienz hat? Fragt ihr den Hausarzt vorher, mit welchem Präparat er „glücklich’“ wäre und was sein Budget hergibt?
Wenn wir nicht wussten, dass der Hausarzt ein bestimmtes Schema fährt(beispielsweise jedem Patienten Rivaroxaban verordnet), dann Rücksprache mit dem Weiterbehandler und Umstellung findet nicht statt.

Den Überlegungen liegt grundsätzlich folgendes zu Grunde: Bei einer INR-Einstellung <67% im Zielbereich sind die DOAKs überlegen, Zwischen 67% und 70%(die in den deutschen Studienzentren durchgehend erreicht wurden, afair) besteht kein Unterschied und bei über 70% der INR-Werte im Zielbereich besteht ein Vorteil für die Cumarinderivate. Bei differenzierten Patienten mit zu erwartender Compliance auf jeden Fall ein Cumarinderivat. Leider sind die Krankenkassen sehr kniepig mit den Geräten zur INR-Selbstmessung, auch bei höherem Score, da wir das als optimalste Lösung erachten. Bei zunehmender geistiger Schlichtheit tendieren wir zu den DOAKs und dann insbesonere zum Apixaban, da es das beste Profil der drei Medikamente zu haben scheint. Rivaroxaban nur bei bekannt incomplianten Patienten um die Einnahmehäufigkeit zu reduzieren und Dabigatran gar nicht.


2. Nach den aktuellen Empfehlungen sollte ja meines Wissens jeder Patient mit Vorhofflimmern (egal ob paroxysmal, persistierend, lang anhaltend persistierend oder permanent – wo mir hier die Sinnhaftigkeit der Klassifikation bei gleicher Konsequenz nicht klar ist...) und einem CHADS-VASC-Score von >1 antikoaguliert werden. Das wäre in der Praxis dann eigentlich fast jeder VHF-Patient auf einer internistischen Station - eine immense Anzahl. Kann das gut sein? Was macht ihr bei einem Score von genau 1 Punkt – OAK oder nichts (oder gar ASS?) oder Individualentscheidung? Und wenn individuell – nach welchen Kriterien?
Ausnahme wäre eine Frau unter 65 Jahre ohne weitere Risikofaktoren – die würde man doch nicht antikoagulieren – oder? Und die gleiche Frau über 65 Jahre?
ASS bei VHF machen wir nicht. Die AVERROES-Studie deutet daraufhin, dass man sich damit keinen wesentlichen Vorteil erkauft, sondern vielmehr nur Nachteile.


3. Wie handhabt ihr es mit dem HAS-BLED-Score und vor allem – wozu gibt es den eigentlich?
Patienten mit hohem CHADS-VASC-Score haben i.d.R. auch einen hohem HAS-BLED-Score. Also wonach muss ich mich dann richten, wenn Kriterien des einen Scores im anderen ebenfalls mit vorkommen? Und woher weiß ich, ob jemand eine labile INR hat, wenn ich ihn auf eine OAK ersteinstelle bzw. er eine DOAK bekommt oder hat?
Das ist nochmal ein stärkeres Argument für das Cumarinderivat. Mit Blutungen unter VKA hat man mittlerweile genügend Erfahrungen und Maßnahmen zur Hand.


4. Wie lange behandelt ihr Patienten mit persistierendem VHF mit OAK, die ihr erfolgreich elektrisch oder medikamentös kardiovertiert habt? Dauerhaft oder nur für eine bestimmte Zeitspanne? Welche Empfehlung gebt ihr dann im Entlassungsbrief dem Hausarzt? (z.B. ambulantes Langzeit-EKG zur Kontrolle des Sinusrhythmuserhalt?) Eigentlich sollte man meines Wissens die OAK bei diesen Patienten NICHT aufheben, oder? Und würdet ihr asymptomatische Patienten mit VHF dann überhaupt noch kardiovertieren, wenn die Konsequenz einer OAK in beiden Fällen die gleiche wäre?
Dauerhaft. Kardioversionen für asymptomatische Patienten finden faktisch nicht statt.


5. Welchen Patienten mit Indikation zur OAK bei VHF gebt ihr keine OAK? Ich stehe immer wieder vor dem Problem der immer immenseren Anzahl sehr und sehr sehr alter Patienten mit zufällig diagnostiziertem VHF oder seit Jahren bekanntem und mit ASS therapiertem VHF.
Stellt ihr die alle „leitliniengerecht“ auf eine OAK ein bzw. um oder schiebt ihr die Verantwortung gar dem Hausarzt zu? Wenn nicht einmal mehr Sturzneigung eine Kontraindikation darstellt (meines Wissens muss man dutzende Male stürzen, damit der Nachteil den Vorteil einer OAK überwiegt), wer bekommt bei euch keine OAK und warum?
Irgendwie muss man sich im Entlassungsbrief ja sinnvoll rechtfertigen, warum man Patient xy trotz prinzipieller Indikation eine OAK „vorenthalten“ hat. Das finde ich extrem unangenehm und aktuelle scheint es mir so, dass man – genau gegensätzlich zu früher – eher Patienten auf eine OAK einstellt (trotz teilweise berechtigter Bedenken des Arztes), als diese ohne laufen zu lassen. [...]
Wir rücken im Brief mit der Wahrheit raus und gewichten zwar das Für und Wieder und geben unsere Stellungnahme ab, aber letztlich überlassen wir die Entscheidung in solchen Fällen dem Hausarzt(mit ganz vereinzelten Ausnahmen), da wir davon ausgehen, dass dieser über diese im Regelfall multimorbiden Patienten den besseren Überblick hat. Als Abschieben der Entscheidung empfinde ich das jedoch nicht. Ich erachte es nur für realistisch, dass der Hausarzt seinen Patienten nach Jahren bis Jahrzehnten besser kennt und damit besser als ich die für den Patienten "richtige" Entscheidung treffen kann.

Ich möchte den ganzen Komplex noch um einen weiteren Punkt ergänzen:
8. Blutungen unter den DOAKs. Beim Umhören habe ich den Eindruck gewonnen, dass nicht wenige Kollegen beim Out-of-Protocol-Klientel der freien Wildbahn von eher vermehrten Blutungsereignissen sprechen als das früher(was auch immer das umfassen mag) der Fall gewesen sei. Insbesondere die Endoskopiker sprechen davon, dass man es viel häufiger mit diffusen Blutungen ohne klaren behandelbaren Fokus zu tun habe. Das verstärkt bei mir dann doch eher die Skepsis gegenüber den DOAKs. Zumal wir nicht glauben, dass sich nach dem katastrophalen Ergebnis von RE-ALIGN nochmal jemand an die künstlichen Herzklappen traut, zumindest nicht in überschaubarer Zeit.

Peter_1
13.01.2015, 17:06
@Autolyse:
zu euch komme ich in die Klinik wenn ich mal was hab :)
Klingt nach einem vernünftigen Konzept bei euch, leider meiner Beobachtung nach eher selten momentan!

Boergemaus
18.01.2015, 21:55
Vielen Dank für die vielen sinnvollen und interessanten Kommentare. Wie man sieht, ist das Procedere mit der oralen Antikoagulation bei verschiedenen "Häusern" unterschiedlich. Insgesamt würde ich es nach meinem aktuellen Wissensstand am ehesten wie Autolyse handhaben.

ASS zur Prophylxae bei VHF sollte meines Erachtens out sein (Japan AF Stroke Trial 2006), da bezüglich Prophylaxe Placebo nicht überlegen.
Nach Kardioversion in den Sinusrhythmus würde ich die OAK ebenfalls nicht beenden, da bislang keine Daten für sicheres Beenden vorliegen.
Meines Wissens ist Sturzrisiko eher keine Kontraindikation, da viele dutzende Stürze vorliegen müssen (hab leider gerade keine Quelle zu Hand), damit das Risiko den Nutzen der OAK überwiegt.

Die Beiträge von euch haben mir wieder neue Betrachtungsweisen zu dem Thema gegeben und werden sicher Einfluss auf einige meiner zukünftigen Entscheidungen haben. :-)

expecting
19.01.2015, 18:12
Ich hätte mal ein paar Fragen zu dem Thema, die sich mir beim Lernen gestellt haben. Ich studiere noch, also sind es vielleicht "dumme" Fragen, Verzeihung dafür ^^

Was wird gemacht, wenn ein Patient unter OAK einen Herzinfarkt erleidet? Normalerweise wird da doch eine Lyse-Therapie eingeleitet. Darf man das auch bei OAK-Patienten machen, oder haben die dann "Pech"? :/

Schützt die OAK-Therapie auch vor Herzinfarkten, oder nur vor tatsächlich embolischen Ereignissen?

Darf man einem OAK-Patienten zusätzlich ASS geben (entweder low dose z.B. bei KHK, oder höher dosiert als Schmerzmittel)?

Und zuletzt: könnte man theoretisch auch mit Clexane o.Ä. dauerhaft antikoagulieren bei VHF, Z.n. Thrombose und ähnlichen Indikationen, wo ansonsten OAK gegeben werden? Macht man das nur nicht, weil es unpraktischer und unangenehmer ist, oder gibt es auch medizinische Gründe dagegen?

Strodti
20.01.2015, 13:05
Die Lysetherapie ist ja nur indiziert, wenn nicht in annehmbarer Zeit eine Möglichkeit zur Koronarangiographie gegeben ist. In den meisten Rettungsdienstbereichen gibt es ausreichend Coro-Labore, dass praktisch keine Lysetherapie stattfindet. Im Krankenhaus ist die Lysetherapie bei Myokardinfarkt auch sehr selten geworden... da können die Kardiologen sicher mehr zu erzählen.
Eine effektive Antikoagulation gilt als Ausschlusskriterium für eine systemische Lysetherapie. Beim Marcumar gilt ein INR >1,7 als Kontraindikation. Da es für die NOAK keine sicheren Labortests flächendeckend gibt, würde ich bei regelmäßiger Einnahme einer suffizienten Dosierung auch keine Lysetherapie durchführen. Auf die schnelle habe ich dazu aber keine Literatur gefunden.
Eine Antikoagulation mittels NMH (wie Clexane) macht auf Dauer Probleme: Es bleiben die Komplikationen häufiger subcutan Applikationen, die Gefahr einer HIT und damit die Notwendigkeit regelmäßiger Blutbildkontrollen und die normalen Nebenwirkungen wie Osteoporose oder Haarausfall. Der Patientenkomfort ist bei einer einmaligen Tabletteneinnahme sicher höher als die 2x tägliche s.c. Injektion.

Eilika
20.01.2015, 13:19
Wobei ja zum Beispiel vor/in der Schwangerschaft auf niedermolekulare umgestellt wird. Das ist dann auch eine Zeit von mindestens 9-10 Monaten, in denen man regelmäßig sub cutan injiziert...

Hellequin
20.01.2015, 16:19
Eine effektive Antikoagulation gilt als Ausschlusskriterium für eine systemische Lysetherapie. Beim Marcumar gilt ein INR >1,7 als Kontraindikation. Da es für die NOAK keine sicheren Labortests flächendeckend gibt, würde ich bei regelmäßiger Einnahme einer suffizienten Dosierung auch keine Lysetherapie durchführen. Auf die schnelle habe ich dazu aber keine Literatur gefunden.
Für Schlaganfälle gibt es einen Artikel im Ärzteblatt: http://www.aerzteblatt.de/archiv/131126/Neue-direkte-Orale-Antikoagulanzien-Was-im-Notfall-zu-beachten-ist . Letzten Endes ist die Lyse unter NOAK eine off-label-Therapie mit unklarem Ausgang.

inglebird
24.01.2015, 22:08
Super interessant, eure Meinungen zu lesen. Bin mit den selben Problemen regelmäßig konfrontiert und dass einmal pro Woche Vertreter von Xarelto und Eliquis vorbeikommen, die zusammenfassend gesagt gerne hätten, dass alle Patienten auf das jeweilige NOAK umgestellt werden, macht die Sache nicht einfacher...

Übrigens, angeblich gibt es bei Eliquis wohl keine Regressansprüche an den weiterbehandelnden Hausarzt mehr. Hat die Frau von Pfizer zumindestens gesagt. Wie sind denn die Erfahrungen der ambulant betreuenden Kollegen hierzu?

Christoph_A
27.01.2015, 08:43
Hatte mit Doaks noch nie große Probleme, "meine" Hausärzte verschreiben das auch anstandslos weiter, wenn ich es verordne.
Was die Komplikationen angeht hatte ich bisher auch nicht mehr als mit dem guten alten Marcumar, aber das ist natürlich subjektiv allein mein Empfinden.
Gehe auch schwer davon aus, daß, bis auf bestimmte Spezialfälle, z.B. Klappenprothesen, im Alltagsgeschäft das Marcumar innerhalb der nächsten zehn Jahre fast verschwinden wird, zumal ja auch die DGK massiv (siehe Positionspapier vom letzten Kardiologentag in Mannheim) in diese Richtung driftet.
P.s.: Daß ausgerechnet das eine Produkt der DOAKs so viel erfolgreicher ist als alle anderen, liegt an der, gelinde gesagt, grenzwertig aggressiven Werbestrategie der Leute aus Leverkusen. In dem Fall ein wirklich gelungenes Beispiel von Produktbewerbung.

Peter_1
27.01.2015, 12:39
Übrigens, angeblich gibt es bei Eliquis wohl keine Regressansprüche an den weiterbehandelnden Hausarzt mehr. Hat die Frau von Pfizer zumindestens gesagt. Wie sind denn die Erfahrungen der ambulant betreuenden Kollegen hierzu?

Es versichert der Bock, dass es keinerlei Problem für den Gärtner sei wenn er die Kohlköpfe frisst. Mal selber nachdenken was von solchen Aussagen zu halten ist?
Schon mal den Nutellavertreter gefragt, welche Nussnougatcreme die beste ist?

@ChristophA:

Woher nimmst Du Deine Sicherheit, dass "Deine" Hausärzte kein Problem mit Deinen Empfehlungen hat?
Ich rufe nochmal die Kriterien des SGB in Erinnerung: eine Medikamentenverordnung muss: wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckmässig sein. Ist sie das nicht, so kann es Probleme geben, zumal es eben eine Welt ausserhalb der DGK gibt, nämlich die für Hausärzte relevanten DEGAM empfehlungen und das Statement der Arzneimittelkommission. Die DGK (genauso wie die ESC) könnte sich mal etwas selbstkritisch mit den Interessenskonflikten ihrer "Leitwölfe" auseinander setzen. Die Neurologen sind da vorbildlicher, die haben auf die Verquickung ihrer Leitwölfe zumindest schon mit einer Initiative reagiert http://www.neurologyfirst.de/. Auch die Amis werden stringenter im Befreien ihrer Leitwölfe von Interessenskonflikten, bei uns scheint da noch ein weiter Weg. Rein wissenschaftlich gibt es keine Evidenz dafür gut eingestellte Marcumarpatienten auf schweineteure Medikamente einzustellen, zu denen es noch nicht mal relevante Langzeitdaten gibt. Bei unzureichender Einstellung, oder sonstigen rel. Kontraindikationen zu Marcumar, kein Thema.

Ich vermute einige Deiner Hausärzte werden fluchend vor Deinen Entlassungsbriefen sitzen (ich mache es momentan zumindest recht häufig), ob sie den Patienten dann die ja nicht risikofreie Umstellung zumuten ist die nächste Frage.