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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Analytischer Denker oder wandelndes Lexikon?



Voralpenland
02.06.2017, 21:02
Hallo Zusammen!

Ich befinden mich in meinem ersten Semester der Humanmedizin. Das Curriculum umfasst Biologie, Chemie, Physik, Terminologie und Psychologie/Soziologie.
Das Studium erstreckt sich bisher im sturen Auswendiglernen. Nur Physik und Chemie erfordern ab und an, wirklich äußerst selten, analytisches Verständnis und die Bereitschaft, einen Sachverhalt wirklich zu begreifen und das Wissen anzuwenden. Das liegt mir, das motiviert mich. In Biologie hingegen müssen die Prozesse einfach stur auswendiggelernt und runtergebetet werden, der Aufbau und die Funktionsweise von Zellorganellen detailreich beschrieben werden.. Das erzieht mich zu einem Lexikon, nicht zu einem kritischen Denker.

Wie entwickelt sich das nun im Laufe der Vorklinik, was erwartet mich in der Klinik? Nachdem ich einige Lehrbücher der Klinik mir angesehen habe, habe ich das ungute Gefühl, erst recht den ganzen Tag über stur auswendig lernen zu müssen, lange nüchterne Listen von Informationen mir einzuverleiben: Krankheiten, Symptome, Krankheitsverläufe, Therapien.

Liege ich mit meinem Pessimismus richtig oder werden bald höhere Ansprüche an mein analytisches Denkvermögen gestellt?

Mit freundlichen Grüßen

Rettungshase
02.06.2017, 21:20
Naja, um gedanklich Zusammenhänge herstellen zu können, müssen erst mal die Grundlagen sitzen. Die MC-Prüfungen tun ihr Übriges.

Du kannst dir z.B. natürlich stur in den Kopf ballern, dass Asthmatiker keine NSAID bekommen sollten. Oder du lernst den Wirkmechanismus und kannst das dann praktisch in Sachen Pharmakotherapie anwenden.

OhDaeSu
02.06.2017, 21:45
Nein, das bleibt so. Dass man mal länger
als 10min braucht um einen Zusammenhang zu begreifen, ist die absolute Ausnahme. Wenn du analytisch denken willst, studiere Informatik, Mathe, Philosophie oder Jura.

Dino111
02.06.2017, 22:21
Neurologie ist eines der wenigen klinischen Fächer wo man noch etwas analytisches Denken benötigt. Ein Oberarzt meinte mal für die Chirurgen ist es Hexenwerk oder Vodoo wie die Neurologen ohne Bildgebung und einem Hammer lediglich ausgestattet die klinische Symptomatik auf wenige Krankheiten beschränken können :D ansonsten wie mein Vorredner es bereits sagte, der Rest ist lediglich von der Menge des Wissens anspruchsvoll, nicht vom analytischen Aspekt her. Natürlich gibt es immer Ausnahmen in einigen pathophysiologischen Zusammenhängen, aber die sind nicht sonderlich häufig

davo
02.06.2017, 22:49
Nicht verzagen. In Physiologie z.B. musst du, wenn du denken kannst, nur recht wenig lernen. Alles andere kann man sich herleiten. Dasselbe gilt dann natürlich auch für viele (die meisten?) Krankheitsbilder in der Kardiologie und Pneumologie. Physiologie und Pathophysiologie des Herzens sind IMHO Logik pur. Auch in der Pharmakologie und der Labormedizin ist vieles völlig logisch, sobald man mal die Grundlagen gelernt hat.

Auch in BC kann man mit logischem Denken das Lernen signifikant verkürzen. Selbst in Anatomie kann man das, v.a. bei den Organen und in der Neuroanatomie.

Aber es stimmt natürlich auch, dass viele Dinge einfach so sind, wie sie sind. Oft weiß niemand, warum Medikament X schlechter wirkt als Medikament Y, obwohl es doch den pharmakologisch-theoretisch viel besseren Wirkmechanismus hätte. Und oft weiß niemand, warum ausgerechnet Leute mit X eher eine Krankheit bekommen als Leute mit Y.

Man braucht halt immer eine gewisse Wissensbasis, die nicht logisch ist, aber sobald man die mal hat, kann man sich auch vieles herleiten usw.

"Kritischer Denker" wirst du natürlich nicht (aber wer wird das schon - der Soziologie-Student, der unreflektiert das wiederkäut, was sich andere zusammengesponnen haben?), denn Erkrankungen und Therapien sind nunmal so, wie sie sind. Aber sei nicht zu negativ eingestellt, denn mit der Zeit wirst du sehen, dass man als kluger Denker viele Vorteile in der Medizin hat. Sei es, um beurteilen zu können, wie gut eine Studie gemacht ist, sei es, um erschließen zu können, welche Diagnostik warum am effektivsten ist. Warte einfach mal ab, bis Physiologie kommt, dann wirst du vielleicht erstmals sehen, was ich meine.

bobo99
03.06.2017, 11:04
Liege ich mit meinem Pessimismus richtig oder werden bald höhere Ansprüche an mein analytisches Denkvermögen gestellt?



Du liegst mit deinem Pessimismus richtig. Es geht eigentlich sogut wie nur um auswendig lernen, das verstärkt sich im klinischen Studium sogar noch. Was mein mathematisch-logisches Verständnis betrifft, haben ich seit dem Abitur massiv abgebaut (und da habe ich Mathe echt gern gemacht). Letzthin hatte ich sogar Schwierigkeiten mit einem Dreisatz, da war ich selbst ein bisschen erschrocken. Der Vorteil daran ist, dass du dir keine Sorgen machen musst, das Studium nicht zu schaffen. Solange du genügend Motivation hast dich hinzusetzen und das Zeug auswendig zu lernen, kann eigentlich nix passieren.

Also Kopf hoch!

OhDaeSu
03.06.2017, 11:52
Und pass auf, wenn Mediziner von "logisch" reden. Da sprechen sie mMn von einer Sache, die sie nicht verstehen. Oftmals wird der Begriff "logisch" verwendet, wenn man einer Erklärung für ein Phänomen folgen kann. Und natürlich entsteht dadurch eine gewisse Systematik, ein gewisses Grundverständnis. Das Lernen wird leichter und man besteht Klausuren besser. Im Endeffekt ist die Erklärung zwar einleuchtend, aber ziemlich beliebig. D.h. es könnte auch einfach anders sein. Und dafür würde man auch wieder eine gute Erklärung finden.

Klar, auch bei Mathe/Info muss man sich Definitionen etc merken. Medizin ist schon auch aufwändig, aber eben viel mehr Bulimie-Lernen. Jeder Fakt für sich, den du kreuzt, ist in 1min zu ergooglen. Aber du musst halt verdammt viele Fakten ohne Googlen wissen. Ich hab in meinem Erststudium mal zwei Semester formale Logik belegt. Da musst du (wie auch bei allen mathelastigen Sachen) aus gegebenen Prämissen formal etwas herleiten, und das hat dann auch Bestand. Basales Beispiel: Aus den Vorraussetzungen "Wenn A dann B" und "Nicht-B" folgt zwingend "Nicht-A". In der Medizin überlegst du nicht mal eben "Hey, Cephalosporine wirken nicht gut gegen Enterokokken. Logisch." oder "Absolut einleuchtend, dass die Purinsynthese genau so und nicht anders abläuft."

tldr:
MINTler: logisch => nach strukturwissenschaftlichen Regeln ableitbar, aus gegebenen Prämissen folgt zwingend ein bestimmtes Ergebnis
Mediziner: logisch => nicht völlig aus der Luft gegriffen, die Erklärung ist nachvollziehbar, nachdem das Ergebnis bereits feststeht

OhDaeSu
03.06.2017, 11:58
"Kritischer Denker" wirst du natürlich nicht (aber wer wird das schon - der Soziologie-Student, der unreflektiert das wiederkäut, was sich andere zusammengesponnen haben?

Mathematiker fallen mir da als allerserstes ein. Nach einem Jahr gibst du nur noch richtige Übungszettel oder gar keine mehr ab. Weil du lernst, deine eigene (und auch anderer Leute) Beweisführung sehr gründlich zu überprüfen und du oftmals schon merkst, dass dein Beweis ne Lücke hat.

davo
03.06.2017, 12:05
Edit: Argh. Jetzt hab ich ausgerechnet beim Lästern einen Fehler gemacht. Peinlich. Aber meine Grundkritik bleibt bestehen. Vieles in der Medizin beruht auf Logik im engeren Sinn. Gerade bei der Differenzialdiagnostik.

roxolana
03.06.2017, 23:00
Wer Auswändiglernen hasst und analytisch denken will, der ist in einem MINT-Studiengang deutlich besser aufgehoben als in der Medizin. Ich hab beides studiert und da liegen Welten dazwischen.

Feuerblick
03.06.2017, 23:43
Ja, sicher, vieles ist Auswendiglernen. ABER Denken schadet selbst als Arzt auch nicht wirklich. Was du auswendig gelernt hast, ist deine Basis, aber Differentialdiagnosen kann man eigentlich nur dann vernünftig betreiben, wenn man es verstanden hat und anwenden kann, was man sich in den Kopf gepaukt hat.
Aber klar, wenn du wirklich analytisch denken willst, bist du in der Medizin naturgemäß nicht gut aufgehoben.