Liebe Lesende,
die Frage des Themas ist etwas polemisch formuliert, trifft aber recht genau meine Sorgen. Es gibt wohl wenig Berufe, an die mehr stereotype Eigenschaften gebunden sind, als den der Ärzt*in. Ich schreibe diesen Beitrag, weil ich Angst habe, ob ich vielleicht nicht dazugehöre. Ich suche einen Rat und zweite Meinung von jemandem, der ähnliches durchdacht hat und vielleicht schon einen Schritt weiter ist. In mir hat sich ein Konflikt aufgetan, der meine berufliche Zukunft betrifft und ich versuche diesen Konflikt in den kommenden Zeilen so gut es geht abzuzeichnen. Stellt gern Fragen, wenn es mir nicht gelingt. Und ansonsten: Vielen Dank fürs Lesen und die Zeit nehmen.
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Auf der einen Seite des Konflikts steht ein Mann Ende 20, der sich mit anderen Vorstellungen über den Arbeitsmarkt nach dem Abitur dazu entschieden hat, Psychologie zu studieren. Er wollte entweder eine Wissenschaftskarriere haben oder Psychotherapeut werden, vielleicht sogar beides. Nun hat er entdeckt, was für furchtbare Karrieren das sein können. Während seines Studiums hatte er zwei Gelegenheiten, den Alltag in einer Psychiatrie kennenzulernen. Währenddessen ist ihm aufgefallen, wie sehr Ärzt*innen bzw. Psychiater*innen den Psycholog*innen bzw. psychologischen Psychotherapeut*innen gegenüber strukturell bevorteilt sind:
- Verständlicherweise sind Klinikstrukturen auf Ärzt*innen ausgelegt, sodass formelle Hierarchien die Psycholog*innen im Regelfall auslassen.
- Psychotherapeut*innen befinden sich in ihrer Ausbildung (nach dem Studium beginnend) in einer finanziell prekären Situation, da sie (noch) nur einen Praktikantenstatus haben. Während der Assistenzarzt im ersten Jahr also schön nachrechnet, wie sich sein TV-Ä-Gehalt entwickelt, muss der ca. 32-jährige angehende Psychotherapeut seine Kröten weiter zusammenhalten.
- Der angehende Psychiater tritt in einen Berufsstand ein, in dem Mangel herrscht. Er muss nicht umziehen, und kann in der Stadt, die er mag, leben und muss kein spätmoderner Berufsnomade werden. Psycholog*innen hingegen gibt es viele.
Dieser Mann denkt sich nun: Warum einen Master machen und dann 5 Jahre in einer prekären Ausbildung sein, nur um dann schlechtere Arbeitsmarktchancen und Gehalt zu bekommen - und kein berufliches Alleinstellungsmerkmal gegenüber der Tätigkeit als Psychiater erlangen?
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Auf der anderen Seite steht jemand, der keine (somatischen) Krankenhäuser mag, weil sie so real sind und auf Funktion reduziert. Der mit dem Arztberuf Leistungsdenken und Standesbewusstsein, Fleiß und unmissverständlichen Realitätsbezug verbindet.
Und selber jemand ist, der lieber "arm und frei" ist, ausschläft, eher links ist, mit viel Zeit für Freund*innen und Freizeit. Jemand, dem man aufgrund seiner Verträumtheit nicht unbedingt zutrauen würde, knallharte Entscheidungen zu treffen.
Jemand mit Interesse an sozialwissenschaftlichen, abstrakten, ästhetischen und politischen Themen. Der Technik und Naturwissenschaft als notwendiges Beiwerk des Lebens empfindet, selbst aber leblos und langweilig. Der sich nur graut, wenn er die vorklinischen Fächer sieht. Er hat im Psychologiestudium schon die Biologische Psychologie, in der man sehr konkret biologisch-anatomische Grundlagen kognitiver Prozesse zu verstehen versucht, als langweiligstes Fach empfunden (obwohl er die Arbeiten von Nora Volkow sehr spannend findet). Es ist höchstens noch jemand, der auf der einen Seite Trost darin sieht, noch länger Student und damit freier zu sein, als jemand im 9-to-5-Grind, aber andererseits Angst hat, mit Anfang-20ern zu studieren und sich damit (vor allem mit Abschaffung der Wartezeitquote) eher allein zu fühlen.
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Was würdet ihr diesem Menschen raten? Glaubt ihr, er wird sein Studium abbrechen und unglücklich in der zweiten Reihe als Psychologe sitzen? Glaubt ihr, er findet seinen Weg als Psychologe woanders hin? Oder macht er sich unnötige Gedanken und wird auf den richtigen Stühlen sitzen, wenn er die Plackerei mit der ganzen Theorie über den Citratzyklus und die Thoraxanatomie hinter sich gebracht? Der mit seiner Neugier vielleicht sogar etwas Neues, Spannendes hinzugewinnt?
Abschließend: Er geht davon aus, dass er Medizin studieren kann. Der Bachelor ist nicht abgeschlossen und mit ~860 von 900 Punkten im Abitur hat er hoffentlich Wahlfreiheit (auch wenn die Coronajahrgänge natürlich unvorhergesehene Überraschungen bereithalten können). Er würde außerdem einen Studienkredit für das Medizinstudium aufnehmen.