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Aktive Benutzer in diesem Thema

  1. #1
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    Hallo!

    Ich habe mich kürzlich, aber in oberflächlicher Weise, über das Thema Antipsychiatrie belesen. Dabei kamen mir ein paar Fragen in den Sinn, von denen ich mir erhoffe, dass sie hier beantwortet werden können.

    Zitat Zitat von http://de.wikipedia.org/wiki/Antipsychiatrie
    Die Diagnose psychischer Krankheiten sei primär das Produkt sozialer, politischer und juristischer Prozesse und damit historisch bedingt.
    So lautet eine These der antipsychiatrischen Bewegung. Ich habe mich gefragt, wie relevant diese These heute noch ist. Inwieweit kann sich die Psychiatrie gegen diese These wehren?

    Zitat Zitat von Einführung in die Psychologie; Bourne, Ekstrand, S.480
    Ein Verhalten, das in dem einen Kulturkreis völlig akzeptabel ist, wird in einem anderen als hochgradig deviant angesehen. Thomas Szasz war einer der ersten Psychiater, die die entschiedende Frage stellten: "Wer definiert die Normen und somit auch die Abweichung?" [...] Daher sollten wir uns immer bewußt sein, daß jede Diagnose, ob nun formell oder informell, in einen sozialen Kontext gestellt wird und in der Regel die Werte und Normen einer Gesellschaft widerspiegelt.
    (Anschließend wurde auf die Geschichte in Form von Homosexualität als psychische Erkrankung hingewiesen und darauf, dass eine Veränderung der Diagnostik auf Abstimmungen eines geschlossenen Komitees beruht (aber nicht genannt wurde auf welchem))
    Zitat Zitat von Einführung in die Psychologie; Bourne, Ekstrand, S.480
    Jede Gesellschaft, die bereit ist Abweichende als Abnormale hinzustellen, sollte erkennen, daß diagnostische Urteile immer auch Werturteile sind.
    Als Beispiele sind mir dazu die histrionische Persönlichkeitsstörung und BPS eingefallen (ich betrachte die beiden Zitate im Zusammenhang). Erstere, vermute ich mal laienhaft, wird zum Beispiel in China eher diagnostiziert als in Europa, da ich vermute, dass ein egozentrisches, theatralisches Verhalten in Europa anerkannter und tolerierter (und somit subtiler) ist als in einem eher konservativem Land wie China?
    Eher auf die Thesen eingehend, kam mir BPS in den Sinn: Wenn das Hörensagen um die häufige Diagnose BPS stimmt, stellt sich die Frage, inwieweit BPS mit unserer Sicht auf die Gesellschaft zusammenhängt.

    Eine weitere interessante These ist auch diese:
    Zitat Zitat von Einführung in die Psychologie; Bourne, Ekstrand, S.480
    Gesellschaften, die ihren Mitgliedern eine größere Bandbreite an harmlosem Verhalten zugestehen (das heißt ein Verhalten, welches Sicherheit und Wohlbefinden anderer nicht gefährdet), sind wahrscheinlich gesünder und anpassungsfähiger.
    Was sagt die Fachschaft dazu?


    Anschließend wurde die Qualität der Diagnostik diskutiert. Dabei wurden die Reliabilität und Validität von Diagnosen kritisiert: Die Realiabilität sei kaum gegeben, da es wenig Übereinstimmungen in den Diagnosen gebe (Statistiken von 1962 für DSM-I wurden angegeben). DSM-II zeige zwar eine Verbesserung, erfülle aber nicht die Wünsche. Für die Validität entsprachen, laut Bourne und Ekstrand, DSM-I und DSM-II den Anforderungen nur wenig. Eine Prognose des Verhalten sei nur in wenigen Fällen gegeben. Schließlich wurde der Nutzen der Differenzierung zwischen den Kategorien angesprochen. Der Umfang der Therapien wurde in kritischem Ton abschließend dargestellt, aber nicht weiter diskutiert.
    (Sollten Fragen zum originalen Text auftauchen, kann ich ihn auch gerne abtippen und hier einstellen. Aber ich habe mir vorerst die Arbeit erspart, da ich denke, dass es nicht zwangsweise direkt zum Thema gehört, es aber etwas anschärft ^^)

    Mit diesen Informationen (oder eher Anregungen) erhalten die oberen Aussagen einen noch bittereren Beigeschmack. Da die Statisken aber Asbach uralt sind und es sicherlich Kritik an diesen Thesen und schlaue Antworten auf meine Fragen gibt, sei der Thread nun für eine Diskussion eröffnet.



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  2. #2
    Haldolodri
    Mitglied seit
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    Zitat Zitat von Sprawl Beitrag anzeigen
    Hallo!

    Ich habe mich kürzlich, aber in oberflächlicher Weise, über das Thema Antipsychiatrie belesen. Dabei kamen mir ein paar Fragen in den Sinn, von denen ich mir erhoffe, dass sie hier beantwortet werden können.

    Das Problem ist, dass man erstmal klären müßte, was genau "Antipsychiatrie" ist. Insgesamt die Kritik an der Psychiatrie ? Eine bestimmte Bewegung der 70er Jahre, die medizinhistorisch untrennbar mit den politischen Ereignissen dieser Zeit verbunden ist ? Die Gesamtheit der aktuellen Antipsychiatriebewegung in Deutschland, oder spezielle, von federführenden Persönlichkeiten nicht zu trennende Gruppierungen ? Nicht zuletzt Scientology, der ich derzeit den medienwirksamsten Status einräumen würde. Es ist schier unglaublich, hinter welchen antipychiatrischen Projekten sich überall Verbindungen zu dieser Organisation ziehen lassen.


    Ich habe mich letztlich berufsbedingt damit sehr intensiv beschäftigt und kann nur sagen, dass zum Beispiel einige Schriften von Laing durchaus lesenswert sind und zum Nachdenken anregen. Letztlich sind aber die radikalen Projekte, die aus diesen Ansätzen hervorgegangen sind, alle gescheitert. Wie ich auch den aktuellen Ansätzen, die sowohl komplett auf Psychopharmaka wie auch auf "Pathologisierung" verzichten wollen, einfach keine Zukunft einräume.

    Was ich damit sagen will: Die Weiterentwicklung der Psychiatrie, die natürlich nur durch eine permanente Infragestellung ihrer Methoden möglich war und ist: Das ist eine wertvolle Sache.
    Antipsychiatrie aber als Ideologie erinnert mich fatal an gewisse wirtschaftswissenschaftliche Idiologien, die zwar sehr menschenfreundlich klingen, aber der Welt letztlich bisher nur Unglück brachten.
    Da werden einfach keine praxistauglichen Antworten auf reale Probleme gefunden. Und so ist es auch mit dem, was ich unter einer, primär ideologisch geprägten Antipsychiatrie verstehe.
    Wenn man deren Vorstellungen folgen würde, und plötzlich Zwangseinweisungen/Zwangsbehandlungen, EKT, Psychopharmaka und letztlich Diagnosen und die Psychiatrie ingesamt verbieten würde: Am meisten würden die Kranken darunter leider.

    Abschließend ein persönliches Beispiel: Ich durfte mir neulich von einem "Antipsychiater" vorwerfen lassen, dass ich, wenn ich einen Menschen mit einer akuten psychotischen Episode bei Schizophrenie behandele, ich damit das "aktive Ausleben seiner einzigartigen kreativen Begabungen" unterdrücke.
    Wenn man jemals einen zutiefst verängstigten, hochgradig suizidgefährdeten jungen Menschen in einer Notaufnahme fixieren mußte, wird man wissen, wie weit diese Träumereien an der Realität vorbeigehen.

    So etwas steht bei mir auf der selben Ebene, wie beispielsweise Impfgegner, die glauben, dass ein Kind nicht gegen Masern geimpft werden darf, weil diese Erkrankung wichtig für seine Persönlichkeitsentwicklung sei. Darüber könnte man aus meiner Sicht nur lachen, wenn nicht immer wieder Kinder an einer Masernenzephalitis sterben müßten.

    Aber wie es natürlich Gründe gibt, Impfemfehlungen kritisch zu hinterfragen, gibt es auch Gründe, Diagnosen und Therapien der Psychiatrie zu hinterfragen. Das subsummiere ich aber nicht unter dem Begriff "Antipsychiatrie" , sondern unter dem Begriff Medizin.

    lg
    Anti
    Geändert von Antracis (28.05.2009 um 10:04 Uhr)
    Lasst mich Arzt, ich bin durch!



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  3. #3
    wieder an Bord :-) Avatar von Muriel
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    Zitat Zitat von Antracis Beitrag anzeigen
    Antipsychiatrie aber als Ideologie erinnert mich fatal an gewisse wirtschaftswissenschaftliche Idiologien, die zwar sehr menschenfreundlich klingen, aber der Welt letztlich bisher nur Unglück brachten.
    Worauf beziehst Du Dich hier? Stichwort Kommunismus?
    Interessantes Thema, wusste bisher nicht einmal, dass es da ganze Bewegungen gibt. Dass es Kritik an psychiatrischen Therapien/Anschauungen etc gibt, klar, aber in dieser Breite war mir das bisher unbekannt.



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  4. #4
    Haldolodri
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    Zitat Zitat von Muriel Beitrag anzeigen
    Worauf beziehst Du Dich hier? Stichwort Kommunismus?
    Kommunismus ist ja auch ein weites Feld, aber ich hatte tatsächlich etwas aus dieser Richtung im Sinn. Allerdings ist es wohl auch nicht schwer, diese Aussagen aktuell auf den Kapitalismus zu münzen.

    Zu den "Bewegungen" ließe sich wirklich vieles schreiben. Die radikalsten, "politischen" Strebungen sind sicher in der Antipsychiatrie der Jahre 1965 bis 1975 zu sehen, die untrennbar mit der "Studentenbewegung" dieser Zeit verbunden ist. Letztlich ist das aber ein zeitlich begrenztes Phänomen gewesen, ohne das aber andererseits die radikalen Impulse der folgenden Jahre nicht denkbar gewesen wären. Gleichwohl muß man feststellen, das die essentielle Grundlage für den wichtigen "Systemwechsel" von großen "Anstalten" außerhalb der Städte zur gemeindenahen Versorgung in normalen Krankenhäusern die Antipsychiotika waren, die ab 1952 nach und nach zur Verfügung standen. (Haloperidol 1958, Clozapin kam schon 1966!)
    Man muss es sich auch wirklich so vorstellen, dass damals durchaus junge Assistenzärzte frisch von der Uni in die Psychiatrie kamen, die wesentliche Stützen der Studentenbewegungen waren und nun den Laden kräftig aufmischten.
    Aber das ist wie gesagt ein abgeschlossenes Kapitel, wie auch in Amerika einige Stützen der Bewegung, nachdem ihre groß angelegten Alternativprojekte gescheitert waren, letztlich dann eine psychotherapeuthische Praxis eröffneten und in der Versenkung verschwanden.

    Aktuell ist in Deutschland sicher Scientology der plakativste Psychiatriekritiker. Derzeit sieht man auch oft Plakate, wo eine blutgetränkte Arztliege mit Fixierungsschnallen abgebildet ist, Werbung für die Ausstellung "Psychiatrie: Tod statt Hilfe". Auch das ist Scientology.
    Federführend ist in Deutschland sonst auch noch Peter Lehmann, der sogar einen eigenen Verlag betreibt. Letztlich ist aber diese Bewegung wie gesagt ein recht stilisiertes Phänomen, wenn man auf der anderen Seite den Grad der Etablierung vergleicht, den die Psychiatrie mittlerweile in der breiten Bevölkerung und sogar manchmal auch unter ärztlichen Kollegen findet.

    Das größte Problem ist aus meiner Sicht einfach die Tatsache, dass psychische Erkrankungen immer noch oft ein Tabuthema sind und die Informationen vielfach aus untauglichen Quellen stammen. Ganz ehrlich: Woher bezieht der Durchschnittsbürger sein Wissen über Psychoanalyse ? Richtig, amerikanische Fernsehserien. Und woher weiß er etwas über EKT (Elektrokonvulsionstherapie) ? Genau, er hat "Einer flog über das Kuckucksnest gesehen". Das sind halt nicht immer ideale Voraussetzungen, aber immerhin tut sich langsam etwas. Gerade beim Thema Depressionen hat sich die Bevölkerung schon geöffnet und irgendwann wird man wohl auch mit Schizophrenien nicht mehr so große Geheimniskrämerei betreiben.

    Abschließend eine wahre Anekdote: Nach der Erstausstrahlung von "Einer flog über das Kuckkucksnest" gab es eine offizielle Eil-Anfrage des Berliner Abgeordneten-Hauses an die Universitätspsychiatrie in Berlin, ob man solche Methoden etwa noch in Berlin einsetzen würde mit bitte um schnelle Antwort.
    Nur, um sich einfach mal klarzumachen, wie so der Informationsfluss funktioniert.

    lg
    Anti
    Geändert von Antracis (28.05.2009 um 10:53 Uhr)
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  5. #5
    Registrierter Benutzer
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    @Antracis: Und wie antwortest du auf die Thesen der Antipsychiater (ob einzelne oder Organisationen)? Denn unabhängig von ihrer Ideologie und ihren Plänen haben ihre Fragen und Vorstellungen, in isolierter Betrachtung, durchaus Geltung. Einfache Gegenbeispiele sind keine gute argumentative Ausgangslage, um deren Einwände abzuschmettern. Es sollte also wissensschaftliche Argumente geben, die ihre Argumente derart erschüttern, dass ihnen kein Glauben mehr geschenkt werden kann (und ich denke, die gibt es, sonst hätten sich wohl zwei medizinische Klassen auf dem psychiatrischen Gebiet entwickelt).
    Natürlicherweise sind die Argumente der Antipsychiater so aufgezogen, dass sie auch für den Laien einleuchtend klingen. Da ich der Bewegung und den Argumenten aber skeptisch gegenüberstehe, versuche ich meine Skepsis durch Gegenargumente zu bestätigen.



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