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Kaas
05.05.2023, 11:41
Hallo zusammen,
werden bei euch in der ZNA restalkoholisierte Patienten grundsätzlich gegen ärztlichen Rat entlassen? Also zB auch bei unter 1 Promille, ausreichender Orientierung und vollständiger Gang- und Standsicherheit?

DA1994
05.05.2023, 13:51
Alle alkoholisierten Patienten gehen, wenn sie das körperlich können, und in der Regel ohne Absprache. Auf Ethanolspiegel verzichte ich in der Regel, was man nicht weiß macht auch keine rechtlichen Probleme, und medizinisch hat er mMn keine Bedeutung

Stuntman Mike
05.05.2023, 14:29
… was man nicht weiß macht auch keine rechtlichen Probleme …
Ich finde zwar dieses Procedere vom gesunden Menschenverstand richtig, aber der o.g Satz ist meines Erachtens falsch. Wenn du zentrale Untersuchungen (und dazu gehört bei Alkoholintox nunmal der Spiegel) gar nicht erst durchführst, begehst du einen Befunderhebungsfehler, und das ist schlimmer, als wenn du ggf. ein Ergebnis falsch interpretierst.
Bei uns ist die Regel, dass alles unter 2 Promille unkritisch ist. Die Patienten dürfen einfach gehen. Über 2 Promille müssen wir, wenn nicht stocknüchtern, überwachen. Wenn jemand partout nicht bleiben will, informieren wir Polizei und Ordnungsamt. Das ist zwar im Dienst extrem undankbar, aber so sind wir auf der sicheren Seite.

Hier in der Stadt wurde im Nachbarkrankenhaus mal im Winter ein stark alkoholisierter Patient einfach entlassen bzw nicht aufgenommen. Der ist dann direkt in den nächsten Fluss gefallen und gestorben. War ein Riesendrama, brauch ich nicht…

DA1994
05.05.2023, 15:01
2 Promille wäre bei unser Stammkundschaft schon gefährlich für einen Alloholentzugskrampf. Werte über 4, teilweise 5 Promille sind keine Seltenheit. Es erfolgt hier auch keine Laborentnahme, lediglich eine VBGA. Ausnahme sind natürlich vital bedrohte Patienten, die allermeisten lagen aber einfach hilflos am Busbahnhof o.ä. und haben bis zu 500 Notaufnahmekontakte jährlich

anignu
06.05.2023, 00:52
Bei uns ist die Regel, dass alles unter 2 Promille unkritisch ist. Die Patienten dürfen einfach gehen. Über 2 Promille müssen wir, wenn nicht stocknüchtern, überwachen. Wenn jemand partout nicht bleiben will, informieren wir Polizei und Ordnungsamt. Das ist zwar im Dienst extrem undankbar, aber so sind wir auf der sicheren Seite.
Ich hab schon einen 18jährigen mit 1,8 Promille gesehen der tatsächlich deswegen im Koma auf der ITS lag. Untrainiert halt. Und die 3+ Promille denen man nichts anmerkt auch.

Aus meiner Sicht ist sehr wichtig zu dokumentieren wie "fit" die Patienten geistig und körperlich sind. Sind sie zu allen Qualitäten orientiert? Sicherer Gang? Hat man das Gefühl dass sie Wissen was sie tun? Dokumentation ist in so einem Fall wichtiger als vieles andere. Und auf der Basis kommt man irgendwann zur Entscheidung Aufnahme ja/nein.
Und wenn man selbst den Patienten aufnehmen will, der Patient aber nicht will, muss im Zweifel halt mal die Polizei informiert werden.

ProximaCentauri
06.05.2023, 07:53
Wenn die Patienten Urteilsfähig sind, dann können sie gehen, auch ohne zu unterschreiben. Wenns tatsächlich einen Grund gibt sie zu behalten (z.B. Kopfverletzung o.ä.), dann ist das mit der Urteilsfähigkeit halt schwierig, und dann lassen wir im Zweifelsfall den Notfallpsychiater drüber schauen, und dann gibts entweder bestätigte Urteilsfähigkeit (und dann würde ich tatsächlich unterschreiben lassen), oder halt keine, und dann bleiben die und werden entsprechend abgeklärt/behandelt.
Ein Promillewert an und für sich war bei uns nie wirklich ein Grund, jemanden festzuhalten, man kennt ja die Baseline etc. nicht.

anignu
06.05.2023, 20:05
dann lassen wir im Zweifelsfall den Notfallpsychiater drüber schauen
Krass. Das ist natürlich die sauberste Variante. Ich kenn glaub ich gar kein Haus incl. Maximalversorger die einen Notfallpsychiater haben. Und hab somit selbst noch nie in einem Haus mit Notfallpsychiater gearbeitet. Der Psychiater ist bei uns glaub ich immer am Dienstag unter tags da oder so. Für den Rest der Woche muss man selbst schauen wie man um die Runden kommt.

jijichu
06.05.2023, 21:55
Krass. Das ist natürlich die sauberste Variante. Ich kenn glaub ich gar kein Haus incl. Maximalversorger die einen Notfallpsychiater haben. Und hab somit selbst noch nie in einem Haus mit Notfallpsychiater gearbeitet. Der Psychiater ist bei uns glaub ich immer am Dienstag unter tags da oder so. Für den Rest der Woche muss man selbst schauen wie man um die Runden kommt.

Ich hab meine Weiterbildungszeit in einem Maximalversorger absolviert und ich hatte vielleicht 5 Dienste in der gesamten Zeit, in der ich nicht gerufen wurde, um mir intoxikierte Patienten anzusehen.

nie
07.05.2023, 07:15
Verrückt… unsere Psychiater muss man selbst dann noch an den Haare herbeiziehen wenn der psychotische Patient schon die halbe ZNA zerlegt hat oder der suizidale Patient mehrfach glaubhaft bestätigt, dass er auch weiterhin gewillt ist, sich umzubringen. Außerhalb der normalen Dienstzeiten sowieso, da muss dann nämlich der Oberarzt von zuhause reinkommen. Da bewegt sich keiner in die Notaufnahme weil der alkoholisierte Patient gehen will…

Bei uns ist es auch so, dass eigentlich gehen darf, wer in der Lage ist, die Notaufnahme auf den eigenen Füßen zu verlassen. Und die, die es nicht sind, kommen meist nicht weit wenn sie es versuchen. Wir haben halt ein riesen Gelände, da finden die in der Regel nicht von selbst runter. Meist hat der Geländedienst die im Auge und sammelt sie dann halt wieder ein wenn sie sich irgendwo „niederlassen“.

ProximaCentauri
07.05.2023, 20:38
Krass. Das ist natürlich die sauberste Variante. Ich kenn glaub ich gar kein Haus incl. Maximalversorger die einen Notfallpsychiater haben. Und hab somit selbst noch nie in einem Haus mit Notfallpsychiater gearbeitet. Der Psychiater ist bei uns glaub ich immer am Dienstag unter tags da oder so. Für den Rest der Woche muss man selbst schauen wie man um die Runden kommt.

Wir haben ne extra psychiatrische Koje auf der Notfallstation, die ist quasi eh 24/7 auch besetzt mit Patienten, ist dann eher so dass man mal kurz warten muss bis der aktuelle Psychotiker versorgt ist bevor der Betrunkene beurteilt wird.
Hatte aber auch im Nicht-Maximalversorger eigentlich immer ein Psychiater Dienst, und die mussten bei Suizidalität etc. vorbeikommen zur Beurteilung, weil es im Prinzip so gehandhabt wird, dass für die ärztliche Zwangsunterbringung immer der Psychiater unterschreiben und den Patienten über das Verfahren aufklären muss. Das will dann kein Mediziner stattdessen übernehmen, also gibt's überall Notfallpsychiater.

anignu
07.05.2023, 22:52
weil es im Prinzip so gehandhabt wird, dass für die ärztliche Zwangsunterbringung immer der Psychiater unterschreiben und den Patienten über das Verfahren aufklären muss. Das will dann kein Mediziner stattdessen übernehmen, also gibt's überall Notfallpsychiater.
Ok, wie gesagt, ich kenn das völlig anders. Wir mussten bei Zwangsunterbringungen immer die Polizei anrufen. Die sind dann gekommen und man musste denen glaubhaft erklären warum eine Zwangsunterbringung erforderlich ist und die Polizei hat diese dann angeordnet. Also für den Fall das wir quasi nicht mehr alleine zurecht gekommen sind. Psychiater kenn ich in sämtlichen Akuthäusern in denen ich war ausschließlich für Konsile für Depressionen und für Psycho-Onko-Sachen.

Qwert1133
09.05.2023, 15:15
Hm das scheint ja in vielen Kliniken deutlich pragmatischer gehandhabt zu werden - bei uns wird in der NFA der Blutalkohol festgestellt und wenn zu hoch müssen die Leute zur Überwachung dableiben. Entlassung erst nach erneutem Alkoholtest möglich.

Ich kenne mich mit der Rechtslage nicht 100% aus, aber soweit ich weiß gilt, dass die Klinik gegenüber jedem Patienten, der in der NFA auftaucht, eine Garantenstellung hat.

Zitat aus dem Ärzteblatt aus einem Artikel zur Jugendpsychatrie, die Rechtslage sollte aber auf alle Patientengruppen übertragbar sein (Artikel: Obhuts- und Fürsorgepflicht: Rechtsunsicherheit; 2001): „Die Krankenhäuser haben gegenüber dieser Patientengruppe eine Garantenstellung. Das bedeutet, wenn die Obhuts- und Fürsorgepflicht nicht wahrgenommen wird, werden die Folgen einer Tat des Patienten (sei es, dass dieser vorsätzlich oder nur fahrlässig oder gar schuldlos gehandelt hat) dem Arzt als vorsätzliche Unterlassenstat zugerechnet (siehe § 13 Strafgesetzbuch). Der Arzt muss sich also für die Eigengefährdungen, Selbstschädigungen, Selbsttötungen sowie Fremdschädigungen des Patienten wegen vorsätzlicher Körperverletzung, vorsätzlicher Tötung oder vorsätzlicher Sachbeschädigung verantworten.“

Dementsprechend ist der Arzt haftbar, wenn eine offensichtlich betrunkener Patient, z.B. mit 1,7‰ im Test entlassen wird, im Anschluss in sein Auto steigt und einen schweren Verkehrsunfall begeht. Oder der Patient beschließt auf der nächsten Parkbank zu übernachten und erfriert. Oder der Patient läuft in seinem alkoholisiertem Zustand über eine rote Ampel und das Fahrzeug, das ausweichen muss, erwischt ein Kind auf dem Gehweg.

Da kann man sich dann recht sicher sein, dass der Anwalt von dem Patienten versuchen wird, das Ganze der Klinik anzuhaften. Da ihr ziemlich wahrscheinlich nicht mit eurem Oberarzt über sowas telefoniert, übernehmt ihr damit auch die Verantwortung. Eine Unterschrift von einem Betrunkenen ist wahrscheinlich nichts Wert, sobald es hart auf hart kommt.

Sehe ich die Rechtslage zu eng?

Teevee
09.05.2023, 17:26
Ich weiß nicht, ob es hierzu schon urteile gibt, aber wenn ein Dauertrinker es mal wieder übertreibt und mit 4 promille vigilanzgemindert vom Rettungsdienst gebracht wird, nach unauffälligem CT und etwas überwachungszeit wieder runter auf 2,xx promille geht und darunter dann wieder halbwegs adäquat seinen „status quo“ erreicht und wieder gehen will, sehe ich da kein Problem darin, ihn wieder gehen zu lassen.

Vorausgesetzt natürlich, der Pat ist hinrichend kontrolliert und nicht mehr hilflos, sondern in einem stabilen zustand (wie stabil so jemand eben ist in seinem dauerzustand). Eine sichere dokumentation is eh Pflicht.

es ist nicht aufgabe der Notaufnahme und generell der klinik, jeden bis zur 0-promille-nüchternheit und zum 100% wünschenswert-gesunden AZ dazubehalten und zu peppeln. Ein sonst nicht alkoholkranker mensch, der es übertreibt und bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt kann freilich bis zum ausnüchtern überwacht werden. Ein dauertrinker rutscht dir eher in den entzug, wenn zu ihn zu lange trockenfallen lässt..

Hier muss mMn mit gewissem augenmaß eine gewisse ausgangs-baseline als grenze gezogen werden..

rafiki
09.05.2023, 17:36
Sehe ich die Rechtslage zu eng?

Nein, das tust du nicht.
Trotzdem muss man pragmatische Entscheidungen treffen, da ansonsten das System an die Wand fahren würde (was es ohnehin schon tut). Im Zweifelsfall hält natürlich der Arzt seinen Kopf hin.

Teevee
09.05.2023, 17:37
Gleichzeitig gilt es natürlich zu bedenken, dass es eine andere Hausnummer ist, als Facharzt einen Patienten ambulant zu lassen und wieder wegzuschicken vs wenn man das als Assistent macht. Gibt durchaus Häuser, in denen aus medizinischen wie rechtlichen Gründen immer ein FA den Notaufnahmepat gesehen haben muss..

Stuntman Mike
09.05.2023, 17:44
Trotzdem muss man pragmatische Entscheidungen treffen, da ansonsten das System an die Wand fahren würde (was es ohnehin schon tut). Im Zweifelsfall hält natürlich der Arzt seinen Kopf hin.
Das mit dem Kopf hinhalten ist doch der Punkt. Mir persönlich ist es relativ egal, ob das System an die Wand fährt. Wenn die Vorgaben so sind, bitteschön. Geht halt das letzte Überwachungsbett an den Alki, so what. Ich verstehe die Rechtslage auch so wie Qwert1133. Wie ich oben geschrieben habe, sind bei uns die Vorgaben sehr klar. Damals bei dem ertrunkenen/erfrorenen Patienten wurde natürlich auch geklagt. Was dabei heraus kam, weiß ich aber leider nicht…

ProximaCentauri
09.05.2023, 20:47
Wir handhaben das dann oft so, dass wir die Leute eben von Angehörigen abholen lassen, bzw. wenn jemand ein Auto draussen stehen hat, dann haben wir auch schon mal das Strassenverkehrsamt benachrichtigt und natürlich Fahrverbote ausgesprochen. Austreten lassen heisst ja nicht, dass man die nachts um 3 im Frost nach draussen stellt. Meistens haben wir die Leute dann mal schlafen gelassen, dann ists morgen, sie sind wacher, und ruhiger, und lassen sich dann abholen (oder man bestellt ein Taxi). Ich würde die Pegeltrinker auch prinzipiell nicht auf 0Promille runterkommen lassen wollen, wenn sie dann auf dem Weg nach Hause einen Entzugskrampf machen ist auch niemandem geholfen. Und da gibts echt auch Kandidaten, die bei 2Promille zu zittern anfangen.

GloriaSchmidt
11.05.2023, 21:25
Das mit dem Kopf hinhalten ist doch der Punkt. Mir persönlich ist es relativ egal, ob das System an die Wand fährt. Wenn die Vorgaben so sind, bitteschön. Geht halt das letzte Überwachungsbett an den Alki, so what.

Sehe ich tatsächlich ganz genauso - mein Kopf, der hängt. Meine Approbation, meine Verantwortung. Soll das System halt verbessert werden.

Über 1,5 Promille habe ich noch nie jemanden gehen lassen. Bei Entzug gibts halt Rivotril. Wurde in unserer Psych auch absolut so gehandhabt.

DA1994
11.05.2023, 22:35
Mit welcher Rechtsgrundlage hälst du einen Menschen denn fest, der sich mit 2 Promille adäquat artikuliert und gang- und standsicher ist?

GloriaSchmidt
12.05.2023, 06:19
Mit welcher Rechtsgrundlage hälst du einen Menschen denn fest, der sich mit 2 Promille adäquat artikuliert und gang- und standsicher ist?

Verrückterweise laufen die nicht in der Psych auf… es gab immer nen Grund, warum man plötzlich in der Psych steht. Suizidalität, Randale im Vorfeld.
Stand und Gangsicher und adäquat im Kontakt und rein zufällig in die Psych spazieren gegangen hätte natürlich keine Rechtsgrundlage. Aber wenn die Betrunkenen kamen, dann entweder mit Polizei und Unsinn gemacht, oder selbstständig und mit Aufnahmewunsch 😀
Das ist wahrscheinlich in der ZNA anders, da hatte ich „Glück“, dass wir ne reine Psych waren 😋