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Immerweiter90
29.05.2023, 08:36
Guten Tag,

Ich habe eine Frage bezüglich Krankmeldung. Und wie ihr Patienten bei euch behandelt.

Erstmal zu mir. Bin 32 Jahre, Facharzt für Anästhesiologie und ich mache seit 2 Monaten Allgemeinmedizin als Quereinsteiger. Die Praxis und die Arbeit sind top, ich kann mich nicht beschweren. Allerdings habe ich das Gefühl, dass meine Chefin viel zu locker mit Krankmeldungen ist. Jeder, der reinkommt und sagt ich brauche eine Krankmeldung, bekommt sie und es wird wenig gefragt.

Das Problem aktuell ist, ich frage halt nach.

Die eine Patientin kam und sagt ich arbeite zu viel und bin kurz vorm Burnout aber hat seit Monaten keinen Urlaub mehr genommen, 20 Tage Urlaub aus 2022 und dieses Jahr alle Urlaubstage. Dann habe ich gesagt erstmal die Urlaubstage nehmen. Nun hat sie eine Beschwerdeemail über mich geschrieben und wurde direkt eine Woche krankgeschrieben.

Oder die eine kommt und sagt ich arbeite viel und habe Kinder, jetzt habe ich Lust auf 2 Wochen nichts zu tun, ich brauche für mindestens 2 Wochen eine Krankmeldung. Ich habe gesagt, nur weil Sie Kinder haben, haben Sie keinen Anspruch auf mehr Urlaubstage von mir. Danach wieder Drama und Diskussionen und Tränen.

Ich komme aktuell nicht ganz klar damit. Wie geht ihr damit rum? Seid ihr locker mit Krankmeldungem? Will man die Patienten immer zufrieden machen? Will man die Patienten nicht verlieren, deswegen bekommen sie, was sie wollen? Wo ist die Grenze? Wann sagt man den Patienten, suchen Sie sich bitte eine andere Praxis?

Viele Grüße

Frisko
29.05.2023, 10:01
Das mache ich von der gelebten Anamnese abhängig. Und wie es kommuniziert wird. Wenn ich die schon lange kenne, das Pensum an Care-Arbeit kenne, die Familienstrukturen, ggf. sogar die Arbeitgeber und das Bild stimmig ist, dann schreibe ich die definitiv krank. Wobei ich keine zwei Wochen machen würde, sondern immer erstmal eine und dann Wiedervorstellung.

Kommen die komplett neu zu mir, brauche ich mehr Informationen. Dann mache ich meistens 1-2 Tage und dann bitte mit Termin und etwas mehr Zeit wiederkommen oder regulären Hausärzt*in aufsuchen.

Mein Weiterbilder hat immer gesagt: "Will ich den Streit und die Unruhe wirklich?"
Und sofern die tatsächlich ehrlich sind, was sie ja scheinbar sind, dann ginge meine Tendenz immer in Richtung AU.

Die wirkliche Diskussion geht bei mir meistens so ab vier Wochen los, weil ich dann auch aktiv auf Mithilfe des/der Patient*in dränge.
Was ist jetzt genau los?
Mobbing?
Burn-Out?
Trennung oder Streit mit dem/der Partner*in?
Familie/Haustier gestorben oder im Sterben liegend?

Hatte ich danach tatsächlich sehr gute Kontakte und Beziehungen, wenn ich am Anfang etwas die Augen zugedrückt habe. Kann deine Zurückhaltung verstehen. Und wenn es wirklich dreist als "Gib mal Urlaub!" kommuniziert wird, dann mach ich das auch nicht.

Mich regen die auf, die viermal im Monat für zwei Tage kommen. Und dann meist was Somatisches vorschieben. Ätzend.

Haffi
29.05.2023, 10:30
Es ist und bleibt ein häufiger Streitpunkt. Es passiert mir nach wie vor mindestens einmal täglich, dass ein/e PatientIn völlig entsetzt über die "Kürze" seiner/ihrer AU ist. Erst letzte Woche kam eine Patientin mit einem gewöhnlichen Harnwegsinfekt zurück in die Praxis und fragte unsere MFAs erbost, ob das ein Fehler sei, dass ich sie "nur" zwei Tage und nicht noch die Folgewoche, sprich 9 (!!) Tage aus dem Verkehr gezogen habe. Selbst die zwei Tage waren eigentlich schon zu viel. Ich argumentiere da mittlerweile mit "höheren Mächten" um Beschwerden oder entsprechende Google-Bewertungen zu vermeiden. "Ich krieg da tierisch Ärger mit der Krankenkasse...komm Sie bitte einfach nochmal wieder wenn die Beschwerden weiter anhalten..."

anignu
29.05.2023, 18:10
Und wenn man sagt "wenns nach 2 Tagen nicht besser wird müssen sie unbedingt wieder kommen. Sowas kann sich echt in die falsche Richtung entwickeln und dann müsste ich sie ins Krankenhaus einweisen"? Denn das wiederum will ja dann doch keiner ;-)

Absolute Arrhythmie
29.05.2023, 18:57
Ich mach das auch immer so, dass ich die Leute wenige Tage krank schreibe und dann nochmal kommen lasse. Nach dem Motto: " wenn's Ihnen dann immer noch nicht besser geht müssen wir weiter gucken"

pashtunwali
29.05.2023, 22:21
Ich war mal bei einem Hausarzt, der auch wirklich jeden krank geschrieben hat.
Hat mich schockiert. Ich glaube irgendwann stumpft man da ab und der HA dachte sich easy einen Schein abgerechnet …

GloriaSchmidt
30.05.2023, 17:06
Mein Hausarzt geht richtig ab bei „sowas“ und sagt: „Wenn ich sie Krankschreibe, leben Sie auf Kosten der Gesellschaft! Sie können sich doch nicht auf Kosten der Allgemeinheit ausruhen!“ 😆

Ich finde es aber auch schwierig - bin ja Psychiater, da kämpfe ich jeden Tag diesen Kampf 😫

morgoth
30.05.2023, 18:31
Umgekehrt sind Ärzte - nach meinem Verständnis - aber auch nicht dafür da, Beschäftigte (insbesondere auf Mindestlohnbasis) zu erziehen und diese koste was wolle an den Arbeitsplatz zurückzuschicken. "Auf Kosten der Gesellschaft" relativiert sich ja sehr schnell, wenn man sich anschaut, wie viel Geld für andere Dinge ausgegeben wird - da kriegt man schon noch ein Kassiererin-Krankengeld unter. Zudem die ersten sechs Wochen ja sowieso der Arbeitgeber zahlt.
Oder nochmal anders ausgedrückt: Ärzte sollten nicht die Finanzwächter eines 80 Millionen-Staates sein.

Ich kann aber akzeptieren, wenn Kollegen dies (für alle gleich) strenger sehen. Völlig in Ordnung!

Haffi
30.05.2023, 18:52
Umgekehrt sind Ärzte - nach meinem Verständnis - aber auch nicht dafür da, Beschäftigte (insbesondere auf Mindestlohnbasis) zu erziehen und diese koste was wolle an den Arbeitsplatz zurückzuschicken.

Naja, wenn das jeder so sehen würde, wäre die logische Konsequenz, dem Arzt die Kompetenz über eine solche Entscheidung zu entziehen und anderen Berufsgruppen zu übertragen.

Wie immer macht es doch die Mitte. Weder muss man Dr. Holiday sein, noch muss man um jeden Tag mit dem Patienten kämpfen. Man kennt ja auch seine Pappenheimer.

GloriaSchmidt
30.05.2023, 19:23
Umgekehrt sind Ärzte - nach meinem Verständnis - aber auch nicht dafür da, Beschäftigte (insbesondere auf Mindestlohnbasis) zu erziehen und diese koste was wolle an den Arbeitsplatz zurückzuschicken. "Auf Kosten der Gesellschaft" relativiert sich ja sehr schnell, wenn man sich anschaut, wie viel Geld für andere Dinge ausgegeben wird - da kriegt man schon noch ein Kassiererin-Krankengeld unter. Zudem die ersten sechs Wochen ja sowieso der Arbeitgeber zahlt.
Oder nochmal anders ausgedrückt: Ärzte sollten nicht die Finanzwächter eines 80 Millionen-Staates sein.

Ich kann aber akzeptieren, wenn Kollegen dies (für alle gleich) strenger sehen. Völlig in Ordnung!

Nur weil andere Dinge noch teurer sind, macht es das ja nicht besser. Ich hab sooooo viele Patienten, die wirklich bis zum Auslaufen des Krankengeldes und darüber hinaus AU sind, aber weder Medikamente noch Psychotherapie noch Reha wollen…
Klar, ich muss die nicht „erziehen“ . Und Hausärzte machen das oft solang mit, bis die Kasse sich meldet, dann wird zum Psychiater geturft, wobei oft keine Behandlung gewünscht ist sondern einzig und allein die AU.
Da fühl ich mich manchmal veräppelt

Corinna
31.05.2023, 11:23
zur ursprünglichen Frage: Was sagt denn die Chefin, also weiterbilderin? Sie wird doch ihren Ansatz irgendwie begründen?

Absolute Arrhythmie
31.05.2023, 12:59
Naja, irgendwann wird jeder ausgesteuert und bezieht dann ALGII. Ich sehe es auch nicht als meine Aufgabe an, die Leute zu erziehen. Was ich hingegen schon mache ist nachfragen. Also wenn jmd das dritte Mal in kurzer Zeit ne AU will, oder so lange wie möglich krank geschrieben werden will, dann frag ich schon nach was dennb dahinter steckt.
Aber ganz ehrlich: wenn ich den Patienten nicht krank schreibe rennt er von Arzt zu Arzt bis es jemand tut. Das verursacht auch Kosten und es gibt dann keine dauerhafte Instanz die den Patienten auch Mal auf psychische Probleme etc abcheckt.

FirebirdUSA
31.05.2023, 15:24
Naja, wenn das jeder so sehen würde, wäre die logische Konsequenz, dem Arzt die Kompetenz über eine solche Entscheidung zu entziehen und anderen Berufsgruppen zu übertragen.

Danke!

drdrdr.
31.05.2023, 15:35
Was manche Hausärzte ein Theater machen, als ob man ne AU aus eigener Tasche bezahlen würde. Wenn jemand kein Bock auf Arbeit hat, wird er einen Weg schon finden sie zu umgehen.


Das system ist einfach Müll. Wenn man vom ersten Krankheitstag nur 70-80% Prozent seines Gehaltes kriegen würde, dann würde es sich jemand zweimal überlegen eine Krankmeldung zu fordern.

Reflex
31.05.2023, 15:46
Nur weil andere Dinge noch teurer sind, macht es das ja nicht besser. Ich hab sooooo viele Patienten, die wirklich bis zum Auslaufen des Krankengeldes und darüber hinaus AU sind, aber weder Medikamente noch Psychotherapie noch Reha wollen…
Klar, ich muss die nicht „erziehen“ . Und Hausärzte machen das oft solang mit, bis die Kasse sich meldet, dann wird zum Psychiater geturft, wobei oft keine Behandlung gewünscht ist sondern einzig und allein die AU.
Da fühl ich mich manchmal veräppelt

Patienten, die rigeros alle psychiatrischen-psychotherapeutischen Behandlungen ablehnen, schreibe ich als Facharzt in der Regel nicht längerfristig weiter krank. Denn wenn es keinen Behandlungsauftrag des Patienten gibt, muss ich die ja auch nicht weiter behandeln. Patienten haben eben auch eine Mitwirkungspflicht. Das sind aber eher die Ausnahmen. Wenn die AU der Konfliktvermeidung dient, kann man das mit zugewandten Patienten auch in der Regel besprechen und solange es ein therapeutisches Konzept gibt, bin ich bei längerfristigen AU auch tiefen entspannt. Manche Patienten brauchen eben Zeit, andere fallen durch sämtliche Raster und sind eben nicht arbeitsfähig. Das Problem ist aber halt auch, dass die AU System bedingt für alles möglich jenseits der Erkrankung inzwischen herhalten muss, wofür sie aber gar nicht gedacht ist…

Evil
31.05.2023, 16:35
Naja, wenn das jeder so sehen würde, wäre die logische Konsequenz, dem Arzt die Kompetenz über eine solche Entscheidung zu entziehen und anderen Berufsgruppen zu übertragen.

Wie immer macht es doch die Mitte. Weder muss man Dr. Holiday sein, noch muss man um jeden Tag mit dem Patienten kämpfen. Man kennt ja auch seine Pappenheimer.
100%ige Zustimmung!


Naja, irgendwann wird jeder ausgesteuert und bezieht dann ALGII. Ich sehe es auch nicht als meine Aufgabe an, die Leute zu erziehen. Was ich hingegen schon mache ist nachfragen. Also wenn jmd das dritte Mal in kurzer Zeit ne AU will, oder so lange wie möglich krank geschrieben werden will, dann frag ich schon nach was dennb dahinter steckt.
Aber ganz ehrlich: wenn ich den Patienten nicht krank schreibe rennt er von Arzt zu Arzt bis es jemand tut. Das verursacht auch Kosten und es gibt dann keine dauerhafte Instanz die den Patienten auch Mal auf psychische Probleme etc abcheckt.
Andererseits sollte man als Arzt schon so arbeiten, daß man sich an gewisse Prinzipien hält.
Es ist mir egal, ob die dann jemand anderes finden, der ihnen den gelben Schein gibt. Ich möchte meine eigene Arbeit für vertretbar halten.

Absolute Arrhythmie
31.05.2023, 19:41
Ich habe das glaube ich etwas zu kurz gefasst formuliert. Ich möchte auch nicht so arbeiten, dass ich einfach ohne nachzudenken jeden krank schreibe, um keine Diskussion zu haben. Aber bei sehr vielen Patienten ist es ja nunmal auch nicht einfach Unwille, der dahinter steckt, sondern eine psychische/psychosomatische Ursache. Betreibt so ein Patient nun Doktor-Hopping ist die Gefahr groß, dass er durchs Raster fällt und nicht die Hilfe bekommt, für er eigentlich braucht. Ich schreibe daher großzügig krank, aber immer nur kurz, dann spreche ich lieber öfter mit den Leuten und bekomme so vielleicht einen Zugang.
Wenn man die Patienten natürlich schon seit Jahren kennt kann man vielleicht auch direkt etwas mehr Nachbohren.

mbs
01.06.2023, 20:57
Ein Bekannter, der schon lange arbeitslos ist, lässt sich schon seit etwa zweieinhalb Jahren ununterbrochen von seinem Psychiater krankschreiben wegen "Depressionen"; ich bin ja selbst kein Experte in dem Fachgebiet, aber komisch ist, dass er viele Interessen und ein ziemlich genussreiches Leben hat. Er tut auch nichts damit irgendwas besser wird, keine stationäre Therapie, keine Reha, keine Psychotherapie, seine Medikamente nimmt er nicht weil sie sich libidomäßig negativ auswirken würden etc. Alles was er macht ist alle paar Wochen kurz die AU beim Psychiater abholen und sonst nichts.

Finde es heftig, dass so was durchgeht. Dass da selbst nach zweieinhalb Jahre noch immer kein Amtsarzt oder ähnliches überprüft ob das wirklich gerechtfertigt ist. Der hat auch nicht mehr lange bis zur Rente, nur eben keinen Anspruch darauf; dennoch halte ich es für praktisch ausgeschlossen, dass er je wieder in irgendeinen Job vermittelbar ist. Keine verwertbare Ausbildung und maximal demotiviert, logisch ist da eine Krankschreibung die bequemste Lösung.

Frage mich auch, wie ein Psychiater eine Diagnose stellen will der jemanden nur alle vier Wochen sieht und da nicht viel mehr macht als die AU ausfüllen. Die davor wollte das irgendwann nicht mehr mitmachen, und dann hat er sich einen neuen Psychiater gesucht. Irgendwie ist es krass wie viel Missbrauch dieses System zulässt ohne dass jemand nachfragt. Wahrscheinlich geht das noch jahrelang so weiter, auf Kosten der Allgemeinheit.

Jan1705
15.06.2023, 20:09
Für mich geht es darum, dass das, was der Patient erzählt schlüssig klingt. Ein Informatiker im Home Office z B. Ist auch in einer ganz anderen Situation wie ein Handwerker auf dem Bau. Und man kann ja auch erstmal ein paar Tage krank schreiben und dann nochmal schauen. Generell bin ich eher großzügig, das Leben ist für viele nicht so einfach wie in unserer Mediziner Bubble...

mbs
18.06.2023, 16:06
Manche scheinen aber auch jahrelang wegen "Depressionen" krankzuschreiben, ohne vom Betreffenden auch nur ansatzweise irgendwas zu fordern; man sollte meinen, dass so jemand zumindest mal eine Therapie oder einen stationären Aufenthalt machen müssen sollte. In dem genannten Beispiel handelt es sich aber auch um einen Psychiater und keinen Hausarzt. An sich sind Behörden auch selbst schuld, wenn sie das nicht mal überprüfen lassen. In kaum einem Land gibt es da so viel Missbrauchspotential wie in Deutschland.