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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Das Versorgunsstärkungsgesetz - wieder Unsinn in Paragraphenform



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Thomas24
17.12.2014, 21:19
Heute wurde im Kabinett das Versorgungsstärkungsgesetz beschlossen- inklusive der "Termingarantie beim Facharzt binnen von vier Wochen"...

Auf Kosten der kassenärztlichen Vereinigungen (die ja mit unseren Zwangsbeiträgen finanziert werden) sollen "Servicestellen" eingerichtet werden, in denen "qualifiziertes Personal" den anrufenden Kassenpatienten binnen von vier Wochen einen Termin bei einem FA organisieren soll. Falls das innerhalb der vier Wochen Frist nicht möglich sein soll, dürfen sich die Patienten dann zur Behandlung in ein Krankenhaus begeben, und die entstehenden Kosten werden den niedergelassenen vom Budget abgezogen (da Sie ja ihren Sicherstellungsauftrag nicht hinreichend wahrgenommen hätten:-kotz).

Wenn man das Beispiel mal konkret an meinem Fachgebiet durchexerzieren will: hier in einer strukturschwachen Randlage Sachsens mit alternder Bevölkerung gibt es derzeit 13 niedergelassene Augenärzte. Von denen werden binnen fünf Jahren weitere fünf ihre Tätigkeit einstellen und in Rente gehen. Nachfolger, die an einer Übernahme der dann freiwerdenden Kassensitze interessiert wären (ok, wer kann es Ihnen verdenken) gibt es: Null. Dafür gibt es regelmässig Anrufe der niedergelassenen Kollegen an die frischgebackenen FA Kollegen, ob man sich denn mal die Praxis ansehen wolle etc. Rein rechnerisch ist der Kreis sogar noch augenärztlich überversorgt, weil die Bedarfsplanung mehrere Jahrzehnte alt ist und weder die technisch- medizinischen Innovationen der letzten Jahre, noch die zunehmende Überalterung hier in der Region (die jungen, gesunden und Leistungsfähigen ziehen den Arbeitsplätzen hinterher, d.h. in die Ballungsräume Dresden/ Leipzig/ Jena oder gleich in den Westen) in keiner Weise berücksichtigt ist. Sei es drum. Diese 13 Männlein stemmen die Flächenversorgung und alle sind am oberen Limit ihrer Leistungsfähigkeit. Wenn sich von den 13 Kollegen absehbar noch 5 in die Rente verabschieden werden, ohne einen Nachfolger zu finden, dann gehen in einigen Jahren hier buchstäblich die Lichter aus. Bereits jetzt liegen die Termine für nicht- akute Fälle zwischen 3-6 Monaten, in vielen Praxen herscht Aufnahmestopp für Neupatienten. Die "überzähligen" Sitze sollen dann von den KVen aufgekauft und stillgelegt werden (schön, auch dass geht auf Kosten der Zwangsmitglieder).

Ok, denkt sich der Patient, dann ruf ich eben die Servicestelle an- dafür ist die ja da. Ok, die wird sich erstmal redlich bemühen, dann feststellen, dass in den genannten 13 Praxen der Region alles dicht ist, und dann eben drumherum telefonieren müssen. Muss Oma Müller, Meyer oder Schmidt eben 60-80 km weit nach Chemnitz oder Zwickau fahren. Mit ihrer beidseitigen AMD, oder ihrer Op würdigen Cataract ist das ja auch alles kein Problem- Sie sieht ja nichts mehr, aber bei der deutschen Bahn kann man sich ja auch durchfragen. Ok, wenn die Omi Glück hat, hat Sie Angehörige, die Sie fahren werden- vorausgesetzt, dass Sie in der Nähe wohnen und auch Zeit haben. Wie gesagt, viele junge Menschen haben die Region verlassen, weil Sie den Arbeitsplätzen hinterhergezogen sind. Den angebotenen Termin in der nächsten Großstadt will Omi aber sowieso nicht, weil a) Zwickau und Chemnitz sind ihr zu weit weg und/ oder b) die Praxis, die ihr vorgeschlagen wurde kennt Omi auch gar nicht. Sie will einen Arzt den Sie schon kennt, und dem Sie vertraut (kann man ja auch verstehen)- und nicht *irgendeinen* Arzt, der noch einen Termin innerhalb der vier Wochen freihatte und ihr vermittelt wurde. Mal abgesehen davon, dass die von der Fachgesellschaft vorgeschriebenen monatlichen Kontrollintervalle bei intravitrealer Injektionstherapie bei exsudativer AMD gaaaaanz schön optimistisch sind, wenn die Kontrolle für Funduskopie/OCT jedes Mal eine 80 km Fahrt bedeutet. Na gut, denkt sich der schlaue Patient: DANN GEH ICH EBEN INS KRANKENHAUS.

Örgs, wieder falsch. Wir sind hier im Umkreis von 80 km die EINZIGE Augenklinik und bereits jetzt personell ziemlich unterbesetzt. Der Großteil der Assistentenschaft besteht aus Teilzeiteltern, mit kleinen Kindern, die -selbst wenn Sie dennn wollten, nicht mal eben "Ok, da sitzen noch so viele Patienten in der Ambulanz rum, da mach ich eben Überstunden, bis die Patienten versorgt sind" arbeiten können. Da wollen Kinder von Kita/ Schule abgeholt, betreut und bekocht werden, da sind Kinder mal krank (= Teilzeitkraft fällt dann ungeplant aus), und von Urlaubssaison, Krankheit, Fortbildung etc. ist da noch keine Rede. Der Ehepartner arbeitet auch im Klinikum in einem Akutfach und kann auch nicht "mal eben spontan einspringen", weil seine eigene Station/ Funktionsabteilung auch brennt. Die verbliebene Rumpfmannschaft aus Vollzeitkräften hat ohnehin jetzt schon mit der Abarbeitung der elektiven Terminen, Konsile, Notfälle etc zu kämpfen. Über jeden ungeplanten zusätzlichen "ich hab draussen keinen Termin bekommen, deswegen sitz ich bei euch" Patienten werden sich meine Kollegen und ich freuen. "Na prima, schön, dass Sie da sind- nehmen Sie schonmal Platz. Haben Sie ihr Lunchpaket dabei? Sie werden es brauchen." :-kotz

Ach ja, es gilt ja Facharztstandard. Meine Assistenten haben zum Großteil einen Migrationshintergrund und werden es dem would- be Patienten schon irgendwie verständlich machen, dass es laaaange dauern wird. "Wann komm ich endlich dran?" " Wenn Sie dran sind." "Ja- ich sitze aber schon seit vier Stunden hier!" "Schön, dann sehen Sie uns ja schon seit vier Stunden beim herumrennen zu."
Und da in Deutschland der Facharztstandard gilt, wird jeder Patient auch noch einem Facharzt vorgestellt werden müssen- aber, oh weh: die einzigen Fachärzte haben a) auch noch andere Pflichten, wie so nebensächliche Dinge, wie Operationslisten abarbeiten etc. (mal abgesehen, dass die Dichte an muttersprachlichen Fachärzten in einer ostdeutschen Provinzklinik eher, ähm, überschaubar ist-), und alle, sowohl Assistenten, als auch Fach/ Oberärzte sich bis dato schon nicht über mangelnde Arbeit beklagen können UND DANN NACH GETANER ARBEIT AUCH MAL NACH HAUSE WOLLEN- und keinerlei Motivation verspüren, politische Fehlplanungen durch absehbar regelmässig anfallende Überstunden auszubaden, um sich dann auch noch von den wartenden ungeplanten Patienten für etwaige Wartezeiten anmotzen zu lassen.

Naja, könnte man theoretisch Abhilfe schaffen, indem man mehr Personal einstellt? Öhm... nein, es *existiert* hier vor Ort einfach kein Nachwuchs mehr, den wir irgendwoher noch kurzfristig rekrutieren könnten. Bulgarien, Rumänien und die Slowakei haben uns schon ihren Nachwuchs kostenlos ausgebildet und uns dann überlassen, und auch diese Quelle sprudelt nicht unendlich...und Griechen, Spanier etc. bekommen wir hier in die sächsische Provinz nicht hin. Nicht in Zeiten von PEGIDA Aufmärschen ganz in der Nähe und wenn Ihnen Alternativen im Westen angeboten werden. Und deutsche Bewerber? Wer glaubt, dass sich ein dt. Bewerber gezielt hierhin bewirbt, der glaubt auch an den Weihnachtsmann. Evtl. wenn man einen persönlichen oder familiären Bezug hierhin hat, aber ansonsten: nö. Es gäbe da noch Unmenge an E-mail Bewerbungen für Gastärzte /Hospitanten aus dem nahöstlichen/ nordafrikanischen Raum "I have a stipend of my government in xxyz and would like bla bla". Jeder, der mal so einige "Gastärzte" aus den Golfstaaten/ Nordafrika etc. mal live und in farbe erleben durfte, verspürt nur wenig Lust dauerhaft im Team auf eine derartige Verstärkung setzen zu müssen. Mal angenommen, es gäbe geeignetes und hinreichend qualifiziertes Personal in ausreichender Menge, und dieses wäre auch bereit hierhin zu kommen- da gibt es noch die Geschäftsführung, die einer Stellenausweitung sicher nicht ohne weiteres zustimmen wird. Erst mehr Umsatz generieren, dann mehr Stellen. Punkt. Und im Zweifel sind Überstunden der Belegschaft noch immer billiger, als direkt eine neue Stelle zu schaffen. Umsatzerlöse werden eher über Operationen und stationäre Fälle geschaffen, nicht über Unmengen an ambulanten Fällen.

Ich kann mir vorstellen, dass das Konzept der Servicestellen in Ballungsregionen mit großer Wirtschaftskraft, gut ausgebauter Verkehrsinfrastruktur und entsprechender Klinik- und Praxisdichte funktionieren könnte. Aber in einem Flächenland in einer peripheren Randlage mit geringer Praxis und Klinikdichte- no chance.
Es stellt sich wirklich die Frage, wie gewisse Leute in Deutschland in verantwortliche Positionen gerückt sind- offensichtlich besteht für "Gesundheitspolitiker" aller Couleur die Qualifizierung in der Trias- Kreissaal, Hörsaal, Plenarsaal. Ohne Umweg über eine berufliche Tätigkeit in der freien Wildbahn.:-???
Ich freu mich auf die praktische Umsetzung des VVG in 2015, Mazel Tov uns allen, die in der direkten klinischen Patientenversorgung hängen.

Muriel
17.12.2014, 21:30
Schick das doch mal an entsprechende Stellen, Thomas; -)
Ich frage mich ja, ob unser Angebot der freien Sprechstunde an zwei Vormittagen in der Woche ausreichend ist. Denn letztendlich hat der Patient da ja acht mal in diesen vier Wochen die Möglichkeit, zeitnah angeschaut zu werden. Und Ausreden wie "da muss ich aber zu früh aufstehen"dürften da ja nun wirklich nicht gelten.

Sebastian1
18.12.2014, 00:46
So ein Gesetz ist vollkommener Humbug. Ich weiss auch gar nicht, warum Ärzte immer so einen berufsrechtlichen Sonderstatus bekommen. Wenn ich an Heiligabend um 23 Uhr die Tür zufallen lasse und den Schlüsseldienst rufen muss, dann versuch ich mal, denen nur Bereitschaftsentgelt von 80% zu zahlen - aber wegen Budgetüberschreitung zieh ich davon auch nochmal 25% ab.
Und was 100% sind, das leg ich natürlich fest.
Thomas, wenn ich an der Stelle der niedergelassenen Kollegen in so einer Region wäre, würde ich mir sehr gut meinen Privatpatientenanteil angucken (der wird vermutlich sehr überschaubar sein) und dann arg rechnen, ob ich nicht lieber meine Kassenzulassung zurückgebe...

Salzi19
18.12.2014, 06:43
Ich finde diese termingarantie furchtbar...die soll ja dann auch für Zahnärzte gelten, oder?

Thomas24
20.12.2014, 12:53
So ein Gesetz ist vollkommener Humbug. Ich weiss auch gar nicht, warum Ärzte immer so einen berufsrechtlichen Sonderstatus bekommen. Wenn ich an Heiligabend um 23 Uhr die Tür zufallen lasse und den Schlüsseldienst rufen muss, dann versuch ich mal, denen nur Bereitschaftsentgelt von 80% zu zahlen - aber wegen Budgetüberschreitung zieh ich davon auch nochmal 25% ab.
Und was 100% sind, das leg ich natürlich fest.
Thomas, wenn ich an der Stelle der niedergelassenen Kollegen in so einer Region wäre, würde ich mir sehr gut meinen Privatpatientenanteil angucken (der wird vermutlich sehr überschaubar sein) und dann arg rechnen, ob ich nicht lieber meine Kassenzulassung zurückgebe...

Natürlich hast du da Recht, der P- Anteil ist in der Region niedrig. Aber die Kollegen sind zum großen Teil entweder vom alten Schlag "Ich kann meine Patienten doch nicht alleine lassen- wer soll die denn versorgen?", das hab ich auch schon gehört. Kann ich verstehen- die Patienten sind das schwächste Glied in der Kette. Und die anderen Kollegen haben Kredite, Kinder in der Ausbildung etc., die können nicht mal eben die Kassenzulassung zurückgeben- das gibt die Region wirtschaftlich nicht her. Die Armen sind in dem Mistsystem gefangen.

Das beste an dem ganzen System ist ja, dass die KVen in "überversorgten" Gebieten die freiwerdenden Sitze aufkaufen soll. Öhm, mal angenommen bundesweit wären fiktiv 10.000 Sitze zu viel- und jeder Sitz würde mal zwischen 50.000 und 100.000 Euro kosten... macht nach Adam Riese 500.000.000 - 1 Milliarde. Wo soll das Geld herkommen? Ach ja, von der KV. Also von unseren eigenen Zwangsmitgliedsbeiträgen. :-kotz

Gallilei
20.12.2014, 13:43
Wenn ich so etwas lese, dann frage ich mich, ob die Entscheidung kontra Klinik und pro Praxis wirklich die richtige war/ist. KV-Ärger ob der ganzen Zwänge braucht doch kein Mensch. Gut, in der Kinderheilkunde wird das in diesem Fall nicht so wild sein. Da sind feste Termine ja meist für die Us reserviert und das Allermeiste andere kommt (sub-) akut dazu.

Peter_1
20.12.2014, 14:04
@Thomas: Deine Darstellung ist richtig, aber ich sehe noch weitere innerärztliche Ursachen, bzw. Systemursachen die bei Behebung zur Entspannung der Terminsituation führen könnten, die aber keiner anpackt!
1. Die Fehlanreize durch unser beklopptes Abrechnungssystem,die dazu führen, dass viele Kollegen IGeLn was das Zeug hält (das kostet ärztliche Zeit, wird aber (und muss) evtl. aus wirtschaftlichen Erwägungen gemacht werden). Den Fehlanreiz eigentlich gesunde Menschen mit ungefährlichen Befunden alle 6 Monate zur Kontrolle einzubestellen (geht schnell, hält nicht so lange auf wie der wirklich kranke Mensch). Die weiter bestehenden Anreize unseres Systems zum "Hamsterrad" (also viele Patienten durchzuschleusen in möglichst gerinegr Zeit).
2. den Anspruch und das Anrecht der Patienten mit dem Schnupfen vom HNO Arzt und mit dem Blutdruck vom Kardiologen
behandelt zu werden, also der fehlende Filter (kaum ein Land der Welt leistet sich so viele Spezialisten wie Deutschland und in Ländern die ein Primärarztsstem haben sind die Patienten eher besser als schlechter versorgt). Wenn der Patient Schnupfen, Blutdruck und Rücken hat, dann rennt er bei uns wenn es schlecht läuft zu 3 verschiedenen Ärzten statt damit zum Hausarzt zu gehen. Kaum ein LAnd der Welt hat folglich so viele Arzt-Patientenkontakte zu bieten wie Deutschland. Wenn der HNO Arzt also 10x Schnupfen(Tag behandelt, dann hat er weniger Zeit für diejenigen Patienten die sein spezielles Können wirklich brauchen.

Sebastian1
20.12.2014, 16:35
"Ich kann meine Patienten doch nicht alleine lassen- wer soll die denn versorgen?"Ja, das ist ja das perfide. Es geht letztlich immer um die Patientenversorgung. Aber genau diese Einstellung hält den Schweinezyklus am laufen.
Dass man noch in anderen Sachzwängen steckt, nicht zuletzt finanzielle Verbindlichkeiten, kommt erschwerend hinzu. Aber die Lösung kann doch nicht sein, ein praxisuntaugliches System aufzuoktroyieren, zusammen mit Androhung finanzieller Einbußen, wenn man nicht spurt.
Medizin sollte viel mehr ein freier Markt sein, dann würden sich Angebot, Nachfrage und Preise vermutlich mittelfristig regulieren. (Gut, auch da werden Leute an den Rändern des Systems runterfallen).
Naja, not gonna happen.

ehem-user-19-08-2021-1408
20.12.2014, 17:16
Wenn ich manchmal solche Sachen lese, habe ich das Gefühl, die Politik nutzt die Kranken um uns mit denen zu erpressen. "Keine Sorge, wartet nur. Irgendein Arzt kümmert sich schon ohne Entgelt drum, wenn es dem Patienten nur schlecht genug geht"
Noch ein Grund mehr für ne PKV.

Mal aber ne Frage von mir, der sich wenig mit Krankenkassen auskennt:
Woher wissen die kassenärztlichen Vereinigungen, ob und wieviele Termine in meiner Praxis zur Verfügung stehen? Woher haben sie die Daten? Woher wissen sie, wieviel Zeit ich mir pro Patient nehme bzw wie lange ich brauche?
Wieviele Patienten MUSS man denn sehen, um dem Anspruch der GKVs gerecht zu werden?
Ich hatte ja gedacht, dass man an Freiberufler arbeiten kann, wann und so viel man will. Wenn man zB 1 Woche dringend weg muss, macht man eben keine Termine in der Woche. Oder ist sowas nicht möglich?

Thomas24
20.12.2014, 17:25
@Sebastian Ja, das ist für die betroffenen Opfer maximal perfide- aber ein Schweinesystem muss halt perfide sein, damit es sich als Schweinesystem "made in Germany" qualifiziert. Leider hast du mit deiner Annahme recht- ein marktwirtschaftlich orientiertes Gesundheitssystem wird es so schnell hier nicht geben. Dafür immer mehr Rationierung und/ oder Umverteilung. Die Tatsache, dass das Bekenntnis vom Arztberuf als "freien Beruf" zwar noch im Referentenentwurf des Versorgungsstärkungsgesetzes noch drin stand, aber im nun verabschiedeten Gesetz von "freiem Beruf" keine Rede mehr ist, lässt nichts gutes ahnen.
Der Umstand, dass massgebliche SPD "Gesundheitsexperten" (wir wissen ja wohl alle, wer gemeint ist), jahrelang Aufsichtsratmitglied in einem börsennotierten Klinikkonzern war, der seinerseits sehr gerne auch in die ambulante Versorgung drängen will, hat schon ein gewisses Geschmäckle. Wer weiß, ob es in zwei- drei Jahrzehnten den freien, niedergelassenen Praktiker noch geben wird, oder das dann alles angestellte MVZ/ Polikliniken sind. Frösche springen ja bekanntlich aus dem kochenden Topf, wenn man Sie ins heisse Wasser wirft. Setzt man Sie rein und erhöht die Temperatur ganz allmählich, bleiben Sie brav im Topf sitzen.

@Peter 1, stimmt- aber das ganze wird noch besser. Der Patient erhält das Recht auf eine "zweite Meinung" vor elektiven Eingriffen. Natürlich auf Kassenkosten, und der Arzt muss unaufgefordert mindestens 10 Tage vor dem Eingriff darauf hinweisen (natürlich ordentlich deutsch- d.h. mündlich UND schriftlich dokumentiert).
Ich freu mich schon sehr darauf (ähem), demnächst auch noch Leute bei mir sitzen zu haben, die mich fragen: "Mein Arzt sagt, ich hab den grauen Star und soll mich operieren lassen- stimmt das?"... "Ich hab ein AMD und bekomme immer Spritzen ins Auge- muss das sein?". Bei derzeit allein knapp 600.000 Cataractoperationen im Jahr, wird das Einholen von "Zweitmeinungen" ein wahres Fest- und natürlich geht das auf Kassenkosten, nur die zusätzliche Zeit dürfen wir uns wieder mal irgendwoher aus den Rippen schneiden:-keks

Muriel
20.12.2014, 17:31
Man hat ja einen Versorgungsauftrag. Eine bestimmte Stundenzahl pro Woche muss Sprechstunde stattfinden, damit man einen halben oder vollen Sitz bekommt bzw. abrechnen darf. Es kann Dir natürlich keiner vorschreiben, ob Du fünf, zehn oder fünfzehn Minuten pro Termin einrechnest. Es ist ja auch ein Unterschied, wie das Patientenklientel einer Praxis aussieht. Ein gutes Stichwort dazu ist von Thomas anfangs schon mit beispielsweise den Patienten mit feuchter AMD gefallen. Die ganz eindeutigen und in der täglichen Praxis immer wieder als sinnvoll und wichtig bestätigten klaren Empfehlungen lauten, diese Patienten vierwöchentlich zu sehen. Das sind aber gerade in operativ tätigen Praxen nicht mal einige wenige sondern ganz schön viele. Alleine wir machen pro Woche ungefähr 30-40 Injektionen, die müssen zeitnah postop nachkontrolliert werden, sind also entsprechend viele Termine schon mal futsch. Dazu kommen pro Woche in etwa ebenso viele, die zu ihrer Vier-Wochen-Kontrolle kommen. Vor fünfzehn Jahren hat man diesen Patienten bei Diagnosestellung gesagt "Guten Tag, ich weiß zwar, was sie haben, sorry, kann man nix gegen tun, kommen Sie doch mal in einem Jahr wieder", vor zehn Jahren hat man einige zum PDT-Versuch in die Klinik geschickt, ansonsten aber auch nicht viel damit zu tun gehabt. Diesen Umstand aber z.B. hat nie jemand eingerechnet bei dieser bekloppten Planung. Naja, dafür darf man ja jetzt zumindest bei uns seit Q4 alles schön über EBM hierbei abrechnen, was defacto eine Reduzierung des Honorars hierbei um mehr als 50% bedeutet. So macht Arbeiten Spaß :-top :-kotz

Thomas24
20.12.2014, 17:47
Wenn ich manchmal solche Sachen lese, habe ich das Gefühl, die Politik nutzt die Kranken um uns mit denen zu erpressen. "Keine Sorge, wartet nur. Irgendein Arzt kümmert sich schon ohne Entgelt drum, wenn es dem Patienten nur schlecht genug geht"
Noch ein Grund mehr für ne PKV.

Mal aber ne Frage von mir, der sich wenig mit Krankenkassen auskennt:
Woher wissen die kassenärztlichen Vereinigungen, ob und wieviele Termine in meiner Praxis zur Verfügung stehen? Woher haben sie die Daten? Woher wissen sie, wieviel Zeit ich mir pro Patient nehme bzw wie lange ich brauche?
Wieviele Patienten MUSS man denn sehen, um dem Anspruch der GKVs gerecht zu werden?
Ich hatte ja gedacht, dass man an Freiberufler arbeiten kann, wann und so viel man will. Wenn man zB 1 Woche dringend weg muss, macht man eben keine Termine in der Woche. Oder ist sowas nicht möglich?

Das weiss die Kasse (noch) nicht. Deswegen sollen die Kassenärztlichen Vereinigungen (d.h. unsere Zwangsorganisation) ja auch Servicestellen einrichten (mit unseren Zwangsmitgliedsbeiträgen), die in den einzelnen Kassen rumtelefonieren sollen. Das Problem: wer sich mit Call Centern auskennt, wird sicher wissen, dass das nicht die hellsten und besten Mitarbeiter sind, die einen solchen Job annehmen. Und wie sollen die bitteschön telefonisch herausfiltern, was innerhalb von vier Wochen angesehen werden muss und was nicht? Im Zweifel werden die immer annehmen, dass das ganze dringlich ist- um sich und ihre Vorgesetzten vor etwaigen Regressen zu schützen. Das wird super. Im Gesetz heisst es ja auch nebulös, dass "qualifiziertes Personal" in den Servicestellen sitzen soll, die den Patienten einen Termin in "zumutbarer Entfernung". Was "qualifiziert" in diesem Zusammenhang sein soll, weiss man noch nicht. Und was eine "zumutbare Entfernung" darstellt auch noch nicht- könnte mir vorstellen, dass in Mc Pomm eine ganz andere zumutbare Entfernung rauskommt, als im Rheinland.

Die Daten, wie viele und wie lange Patienten du gesehen und behandelt hast, erhebt die Abrechnungssoftware. Dummerweise nimmt die Software auch Plausibilitätskontrollen vor, die mit der Realität mal kollidieren- es wird dann einfach rechnerisch unterstellt, dass dein Tag anscheinend mehr als 24 Stunden hat, wenn die kummulierte Behandlungszeit zu lange ist (weil einfach eine gewisse Behandlungsdauer angenommen wird). Dann kommt auch schnell mal eine Prüfung ins Haus. Den Umstand, dass man auch mal einfach die Kontaktzeit kürzer hält und die Taktzahl hochtreibt, wenn der Laden brennt- kommt den Bürokraten nicht in den Sinn.

Du *musst* übrigens mind. 20 h in der Woche der Patientenversorgung zur Verfügung stehen, ich weiss nicht, ob einige KVen strengere Vorgaben machen. Aber dafür musst du seit einigen Jahren nicht mehr im gleichen Ort deiner Praxis wohnen (wie vorher vorgeschrieben). Im Zweifel musst du aber innerhalb von 30 min vor Ort sein können. Praxis auf dem platten Land und wohnen in der City ist nicht mal so eben möglich.

Wirtschaftlich gesehen "musst" du ja mindestens so viel Umsatz machen, dass du deine Miete, Strom, Angestellte, Versicherungen etc. bezahlen kannst- wie viele (Kassen-) Patienten das sind, muss man im Einzelfall mal durchrechnen. Die Quartalspauschale pro Patient für Augenärzte im KV Bereich Nordrhein liegt bei unter 15 Euro (IM QUARTAL!!). Bei so niedrigen Sätzen müssen schon so einige angesehen werden- das Problem: wenn man die durchschnittlichen Fallzahlen seiner Facharztgruppe nach oben überschreitet (also Beispielsweise 1500 Patienten im Quartal ansieht anstatt 1200), wird jeder Patient darüber mit 90% Abschlag vergütet. D.h. du bekommst weniger als 1,50 Euro pro Patient...
De facto ist es aber so, dass kein Mensch weiss, wie viel Euro du konkret bekommst zum Augenblick der Behandlung- du bekommst ja zunächst nur "Punkte" gutgeschrieben, wie viele Cent der einzelne Punkt dann im nachhinein Wert ist, steht erst einige Monate nach Quartalsende fest... Kafka hätte es nicht besser machen können.

Und wie ich es im Eingangsposting schon geschrieben hatte: die Bedarfsplanung ist teilweise Jahrzehnte alt- vor einigen Jahren hätte es noch niemand ahnen können, dass es mal eine intravitreale Anti- VEGF Therapie gegen die exsudative AMD geben würde. Das sind mal eben pro Woche 30-40 Patienten, die mal eben extra kontrolliert werden müssen... aber die Abrechnungsmodalitäten werden dem Fortschritt einfach nicht gerecht. Die Leitlinien von DOG und retinologischer Gesellschaft geben auch die Kontrollintervalle vor- da kann man nicht einfach sagen, "Nö- keine Zeit dafür. Bude voll. Sehen uns zur nächsten Injektion".

Sebastian1
20.12.2014, 17:54
Ich ruf glaub ich Heiligabend nachts den Schlüsselnotdienst. Wenn der da ist, sag ich, er bekommt von mir jetzt Punkte dafür. Und dann ruf ich ihn am 2. Weihnachtstag und an Silvester noch mal. Dann natürlich ohne Punkte, denn die Tür ist ja schonmal geöffnet worden in diesem Quartal.
Am Ende des Quartals sag ich ihm, was ein Punkt wert ist, ziehe ihm aber, weil er zu viele Türen geöffnet hat, nochmal einen dann noch zu beschliessenden Satz ab.

Und wenn ich ihm DAS vorher sage, vermute ich ganz stark, dass ich Weihnachten vor der Haustür verbringen darf.

Thomas24
20.12.2014, 18:01
Ich ruf glaub ich Heiligabend nachts den Schlüsselnotdienst. Wenn der da ist, sag ich, er bekommt von mir jetzt Punkte dafür. Und dann ruf ich ihn am 2. Weihnachtstag und an Silvester noch mal. Dann natürlich ohne Punkte, denn die Tür ist ja schonmal geöffnet worden in diesem Quartal.
Am Ende des Quartals sag ich ihm, was ein Punkt wert ist, ziehe ihm aber, weil er zu viele Türen geöffnet hat, nochmal einen dann noch zu beschliessenden Satz ab.

Und wenn ich ihm DAS vorher sage, vermute ich ganz stark, dass ich Weihnachten vor der Haustür verbringen darf.

Du kannst ja mal an seine Mitmenschlichkeit appellieren, und daran, dass er den Beruf ja wohl zum Nutzen der in Not geratenen ergriffen hat! Gerade - aber nicht nur- an Weihnachten! Und dann holst du die Moralkeule raus und setzt zum Finishing Move noch den "Eid des Schlüsseldienstes" an:-))

Wenn das nicht klappt, kannst du es ja mal mit Diffamierung versuchen- von wegen gierige Schlüsseldientler, die nur an ihr Geld, aber nicht an die armen Notleidenden denken, eh alle korrupt sind und ihre dicken Autos zum Golf spazieren wollen, ohne "richtig zu arbeiten":-?

Peter_1
20.12.2014, 18:01
Der Patient erhält das Recht auf eine "zweite Meinung" vor elektiven Eingriffen. Natürlich auf Kassenkosten, und der Arzt muss unaufgefordert mindestens 10 Tage vor dem Eingriff darauf hinweisen (natürlich ordentlich deutsch- d.h. mündlich UND schriftlich dokumentiert). :-keks
Ja das wird in der Tat spassig! Dieses ganze total verkorkste System ist irgendwie wie ein gordischer Knoten und von Reform zu Reform wird es absurder.

Thomas24
20.12.2014, 18:07
Ja das wird in der Tat spassig! Dieses ganze total verkorkste System ist irgendwie wie ein gordischer Knoten und von Reform zu Reform wird es absurder.

Es bewahrheitet sich, dass "gut gemeint" oft das Gegenteil von "gut gemacht" ist. Das Patientenrechtegesetz von Anfang des Jahres verlangt ja auch, dass ich von jeder Aufklärung (!) dem Patienten unaufgefordert eine Kopie machen muss... Und wir sind ja in Deutschland, also lasse ich mir den Empfang der Kopie auch schriftlich vom Patienten quittieren. Und was finde ich in den Papierkörben vor der Klinik? Jede Menge zerrissene Patientenaufklärungskopien... Wäre ja auch naiv zu glauben, dass Oma Müller alle Kopien brav nach Hause nimmt und nochmal durchliest. Gute Idee (dem Patienten eine Erinnerungsstütze und Handreichung mitgeben), miese Umsetzung. Mal wieder. Zweite Meinung halte ich eigentlich auch für eine oft sinnvolle Idee- aber der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert...

ehem-user-19-08-2021-1408
20.12.2014, 21:48
@ Thomas24

Danke für die Infos. Das mit den 15€/Q habe ich schon oft gehört.
Wäre es aber da nicht sinnvoller weniger Patienten zu sehen und seine Tage eher mit Terminen zu füllen, die mehr Geld bringen (OPs)?
Denn die 15€ gelten ja nur für Beratungsgespräche und die GKVs zahlen sicher für Extras noch drauf, oder?
1200 Pat x 15€ x 4Q macht 72,000€ im Jahr.... Oder sollen mit diesen 15€ auch Interventionen gedeckt werden?!

Hier in der Schweiz wurde gerade außerdem ein Gesetz verlängert, dass Ärzten erlaubt, selbst Medikamente an den Patienten zum Listenpreis abzugeben und Mengenrabatte der Hersteller für sich zu behalten.
Sowas ist in D nicht drin oder?

Muriel
20.12.2014, 22:32
Tja, wenn das so einfach wäre... Man bekommt ja noch nicht mal die tatsächlichen Patientenkontakte (Erstkontakte wohlgemerkt, der Patient hat ja die Quartalsflatrate) vergütet. Das Regelleistungsvolumen bemisst sich nach dem schon erwähnten unbekannten Punktwert und dann auch noch nach einem Faktor, der durch die Scheine des entsprechenden Vorjahresquartals bestimmt wird. Weniger Leute jetzt zu sehen mit dem "ich bin doch nicht bescheuert" Hintergedanken, rächt sich spätestens im Folgejahr. Gewisse Interventionen werden separat vergütet, klar. Aber wenn man mal schaut, was alles im Standard-RLV der Augenheilkunde drin ist... aberwitzig. Vor zwei Jahren, als die Abrechnung der KV im August für Q1 kam (jaja, solange weiß man gar nicht, was man eigentlich ein halbes Jahr vorher verdient hat), war die Freude groß, als man sah, dass eigentlich Leistungen in der Praxis/Sprechstunde für über 130000€ erbracht wurden, das RLV aber bei 72000€ lag, die KV aber immerhin großzügigerweise irgendwas um 80000€ gezahlt hatte (die ganz genauen Zahlen habe ich nicht mehr im Kopf ). Wir sprechen wohlgemerkt von 3 Sitzen und drei Monaten... wie eine rein konservative Praxis das stemmen soll, ist mir schleierhaft, auch wenn deren RLV ja großzügigerweise um drei Euro oder so höher liegt.

Hellequin
21.12.2014, 11:31
Das weiss die Kasse (noch) nicht. Deswegen sollen die Kassenärztlichen Vereinigungen (d.h. unsere Zwangsorganisation) ja auch Servicestellen einrichten (mit unseren Zwangsmitgliedsbeiträgen), die in den einzelnen Kassen rumtelefonieren sollen. Das Problem: wer sich mit Call Centern auskennt, wird sicher wissen, dass das nicht die hellsten und besten Mitarbeiter sind, die einen solchen Job annehmen. Und wie sollen die bitteschön telefonisch herausfiltern, was innerhalb von vier Wochen angesehen werden muss und was nicht?
Da die sich ja auch rechtlich absichern wollen, läuft das sicher auf eine EDV-basierte Triagelösung heraus. Problem ist, das die meisten Triagelösungen zu sehr auf das subjektive Krankkheitsempfinden der Patienten abgestellt sind und die Leute natürlich auch kapieren das sie Termine schneller bekommen, wenn sie ihre Beschwerden dramatisieren. Also werden die Krankenhäuser überflutet werden. Insbesondere die Krankenhäuser/Abteilungen ohne eigene Ambulanz ziehen die Arschkarte. Dort läuft es ja dann darauf hinaus das du die Leute noch zusätzlich über die Notaufnahmen abarbeiten musst und zumindestens bei uns gibt es dafür weder die räumlichen, noch personellen Reserven.

Relaxometrie
21.12.2014, 12:13
die KV aber immerhin großzügigerweise irgendwas um 80000€ gezahlt hatte (die ganz genauen Zahlen habe ich nicht mehr im Kopf ). Wir sprechen wohlgemerkt von 3 Sitzen und drei Monaten...
Wieviel % davon sind denn letztlich das eigene Bruttoeinkommen (pro Arzt und pro Monat also ein Neuntel der angegebenen Zahlen)? Ich würde mal 30% schätzen?
Unter "Bruttoeinkommen" verstehe ich in dem Fall, daß sämtliche Arzthelferinnengehälter, Praxismiete, Investitionen u.s.w. schon abgezogen sind.
Von diesem so errechneten Bruttoeinkommen müssen dann natürlich noch die eigene Altersversorung und die eigene Krankenversicherung abgezogen werden.
Die Einnahmen aus Behandlung von privatversicherten Patienten kommen dann natürlich noch dazu. Aber obige Rechnung bezieht sich ja nur auf die GKV-Patienten.