Anatomie für's Volk
von Hagens öffentlicher Präpkurs
Christian Weier
Eine etwas korpulente männliche Leiche ca. Anfang 70 liegt auf dem glänzenden Präptisch aus Metall. Über ihr beugen sich drei Personen in blauer OP-Kleidung - einer von ihnen trägt einen großen schwarzen Hut. An der Decke hängt ein Rembrandt Gemälde, das den Titel "Anatomie des Dr.Tulp" trägt und eine öffentliche Sektion aus dem 17. Jahrhundert zeigt. Neben den drei Männern in blau steht ein als Arzt anmutender Mann mit weißem Kittel und grauen Haaren und hält ein Mikrophon in der Hand.
Bis hierher könnte man die beschriebene Situation für einen Präpkurs oder eine Anatomie-Vorlesung halten.
Doch weit gefehlt - schaut man sich in dem großen Raum, der zu einer ehemaligen Brauerei gehört, weiter um, stellt man fest, dass die Präparierenden von 500 Zuschauern und einigen Kameraleuten umlagert werden.
Der Mann in weiß am Präptisch erklärt per Mikrophon den Anwesenden, was gerade an der Leiche gemacht wird, ohne dabei medizinische Fachbegriffe zu nutzen. Der Mann mit dem Hut, der die Sektion leitet, ist in Deutschland bekannt unter dem Namen Prof. Gunther von Hagens. Mit seiner Ausstellung Körperwelten hat er in vielen großen Städten Deutschlands für kontroverse Diskussionen gesorgt.
Die beschriebene Szene fand am Mittwoch Abend in London statt. Dort hat Prof. von Hagens gegen den Widerstand der britischen Regierung eine öffentliche Sektion durchgeführt. Parallel zu der Demonstration für die rund 500 Zuschauer, die je rund 19,00 Euro (12 Pfund) Eintritt zahlen durften, wurde die Sektion im Fernsehen live übertragen.
Nach der eigentlichen Sektion hatten die Besucher in der alten Brauerei die Möglichkeit, (gegen Aufpreis) einzelne Organe direkt zu betrachten. Laut Pressemitteilungen war die öffentliche Sektion die erste in Großbritannien seit rund 170 Jahren. Nach eigenen Aussagen möchte der Anatomie-Professor zur "Demokratisierung der Anatomie" beitragen - was man auch immer darunter verstehen mag. Am Samstag melden die großen Nachrichtenagenturen, dass die Behörden in London zur Zeit keine Veranlassung zur Strafverfolgung sehen; man habe die Sektion durch mehrere Anatomie-Professoren beobachten lassen und hätte die öffentliche Körperöffnung im Zweifelsfall durch in Zivil anwesende Scottland-Yard Mitarbeiter beenden können.
Ob eine Obduktion wirklich das Richtige für die Öffentlichkeit ist oder ob der "Anatomie-Unterricht für's Volk" einige Schritte zu weit geht, wird gerade intensiv in den Medi-Foren diskutiert. Luckyblue, der den Beitrag inklusive einer entsprechenden Umfrage initiiert hat, stellt folgende Meinung zur Diskussion:
"Es gibt Ärzte, denen man ihre Approbation entziehen sollte. Neben dieser provinziellen Sensationsliesel Dr. Verena Breitenbach auf Prosieben, gehört vor allem Prof. Dr. Gunther von Hagens dazu.
Der Heidelberger Anatom ist für mich der unangefochtene Spitzenreiter der Geschmacklosigkeit. Nicht genug, dass er Millionen mit seiner voyeuristischen Präparatensammlung "Körperwelten" kassiert; nicht genug, dass man seine penetranten Talkshow-Auftritte ertragen muss. Nein, es geht noch weiter. Jetzt schickt er sich tatsächlich an, in London eine Leiche unter den Augen der Öffentlichkeit und gegen den Widerstand der Behörden zu sezieren. Anschließend sollen die Organe im zahlenden Publikum (19 € pro Nase) zur schaurigen Erbauung herumgereicht werden. Niere, Niere, du musst wandern, von der einen Hand zur andern.
Es ist ein Skandal, dass mit der sterblichen Hülle eines Menschen derart Schindluder getrieben werden darf und getrieben wird. Unter dem Deckmantel der Demokratie und Aufklärung zurück in den barbarischen Kommerz des Mittelalters. Für meinen Geschmack entschieden zu weit."
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