Vor der Prüfung erkrankt jeder vierte Student – mit Attest
Auf die Problematik von Gefälligkeitsattesten hat jüngst C. A. May vom Institut für Anatomie der TU Dresden hingewiesen (Deutsches Ärzteblatt vom 29.01.2010, B 123, Jahrgang 107, Heft 4). Vor einer Histologiepflichtklausur sei von 24,5 % der Teilnehmer ein Attest mit Bescheinigung einer akuten Erkrankung vorgelegt worden. Fast alle Atteste hätten jedoch keine Einschätzung der Prüfungsfähigkeit zugelassen, da eine klare Beschreibung der Symptome einschließlich ihres Schweregrades fehlte. Die Attestierung der Prüfungsunfähigkeit ist jedoch Aufgabe der Prüfungskommission, nicht die der behandelnden Ärzte. Eine eigenständige Beurteilung durch die Kommission war gerade ohne diese Angaben nicht möglich, sodass konkrete Nachfragen notwendig wurden.
Zu krank für den Gerichtstermin?
Nicht selten bitten Patienten ihren behandelnden Arzt, in einem Attest zu bescheinigen, dass sie zu krank seien, um vor Gericht zu erscheinen. In diesem Kontext ist es für den Arzt wichtig, die juristisch relevante Terminologie zu kennen. Im Folgenden sollen daher kurz die verschiedenen Fachbegriffe, auf die sich ein entsprechendes Attest dann zu beziehen hat, erläutert werden.
Wer ist vernehmungsunfähig?
Unter Vernehmungsfähigkeit wird verstanden, dass die Person bei der Vernehmung (z. B. durch den Richter) den Sinn der Fragen versteht und vernünftig nach freiem Willen beantworten kann. Vernehmungsunfähigkeit ist dann gegeben, wenn eine einschneidende Beeinträchtigung allgemein des Bewusstseins, besonders des Denkens, der Gedächtnisleistungen oder der Willensbildung vorliegt. So wird beispielsweise bei einer akuten Alkoholintoxikation oder einer akuten Psychose die Kommunikationsfähigkeit so weit eingeschränkt sein, dass von Vernehmungsunfähigkeit ausgegangen werden muss.
Prozessunfähig bei Demenz?
Die im Zivilprozess relevante Prozessfähigkeit erfordert die Fähigkeit, prozessuale Handlungen vorzunehmen. Sie bedingt also die gegebene Geschäftsfähigkeit. Schwerwiegende, die freie Willensbestimmung erheblich einschränkende Krankheitszustände wie z. B. Demenzsyndrome können eine Prozessunfähigkeit bedingen.
Wann besteht Verhandlungsunfähigkeit?
Strafrechtlich besonders relevant ist die Verhandlungsfähigkeit; der Angeklagte gilt nach einem Verfassungsgerichtsbeschluss als „Subjekt, mit dem verhandelt wird“. Der Angeklagte muss in der Lage sein, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, seine Verteidigung vernünftig zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben/entgegenzunehmen. Daher muss er in der psychischen und physischen Verfassung sein, der Verhandlung zu folgen und die einzelnen Akte zu würdigen und sich darauf einlassen zu können. Schwere körperliche oder seelische Krankheiten sind geeignet, die Verhandlungsfähigkeit einzuschränken oder auszuschließen. Dies umfasst u. a. chronisch-progressive Erkrankungen im terminalen Stadium (z. B. maligne Tumoren), psychotische Erkrankungen oder zerebrale Läsionen mit relevanten neurologischen Ausfallerscheinungen.
Bei der Beurteilung sind Umfang und Schwierigkeit des jeweiligen Strafverfahrens einzubeziehen. Zu berücksichtigen ist auch das Risiko für den Angeklagten: Durch die Hauptverhandlung dürfen weder dessen Leben gefährdet noch irreparable schwere Gesundheitsschäden bedingt werden. Eine entsprechende Problematik könnte sich in erster Linie bei kardialen Erkrankungen ergeben. Ggf. kann der Arzt größere Pausen oder eine Beschränkung der täglichen Verhandlungsdauer vorschlagen (sog. beschränkte Verhandlungsfähigkeit).
Terminfähig ist, wer reisen kann
Unter Terminfähigkeit wird verstanden, dass der Betroffene in der Lage ist, am Ladungsort zu erscheinen („Reisefähigkeit“). Die Betrachtung steht unabhängig von der Vernehmungsfähigkeit. So ist es durchaus denkbar, dass der nach einem Unfall frisch operierte Medical Certificate Medical certificate – Medical report – Mental ability to stand trial – Ability to be heard as a witness – Keywords Zeuge aufgrund der unstrittig gegebenen Reise- und damit Terminunfähigkeit bei jedoch gegebener Verhandlungsfähigkeit am Krankenbett vom Richter vernommen wird. Ggf. wäre zu prüfen, ob eine Transportfähigkeit vorliegt, ob also der Betroffene z. B. mittels Krankenwagen und begleitenden Transportpflegern in den Gerichtssaal gebracht werden könnte.
AU-Bescheinigung genügt nicht
Aus den vorstehenden Ausführungen wird ersichtlich, dass eine Kopie der AU-Bescheinigung zur Vorlage bei Gericht ungeeignet ist; hier wird auf völlig andere Bedingungen reflektiert. So wird ein Handwerker infolge einer Unterarmfraktur arbeitsunfähig sein. Nach entsprechender ärztlicher Versorgung, z. B. mit einem Unterarmgips, wird er gleichwohl in der Lage sein, an einer Hauptverhandlung teilzunehmen und als Zeuge auszusagen oder als Angeklagter die Verhandlung durchzustehen.
Formulierungen sollen informativ sein
Das ärztliche Attest muss also auf den jeweiligen Vorlagezweck reflektieren und muss sich mit seinem Befund auf die eigenen Untersuchungen stützen. Es ist so abzufassen, dass die entscheidenden Instanzen (z. B. Richter, Prüfungskommission) die Zustandsbeschreibung nachvollziehen und zu einer eigenständigen Beurteilung gelangen können. Ein Problem mit der Schweigepflicht ist dabei nicht zu befürchten: Der Patient bittet ja selbst um das Attest für diesen bestimmten Zweck und kann nach dem Erhalt auch selbst entscheiden, ob er es der betreffenden Stelle vorlegt oder nicht.
Hinweis:Dieser Artikel stammt aus (
MMW Fortschritte der Medizin, Heft 34-35, 2010). Er wurde mit freundlicher Genehmigung der Redaktion
MMW Fortschritte der Medizin hier präsentiert.