Definition
Die Diagnose einer depressiven Erkrankung setzt das Vorliegen einer depressiven Episode voraus (Tab. 2), wobei neben der spezifischen Symptomatik als Zeitfaktor die Dauer von mindestens zwei Wochen gefordert wird. Der Schweregrad kann anhand der Anzahl der Symptome bestimmt werden:
- Leichtgradig: 4 Symptome (2 typische)
- Mittelgradig schwer: 6 Symptome (2 typische, nicht arbeitsfähig, kann sich aber noch selbst versorgen. Oft stationär behandlungsbedürftig: bei Vorliegen von Suizidalität, depressiver Wahnsymptomatik, somatischer Komorbidität, fehlender Selbstversorgung, lang anhaltendem Verlauf).
- Schwer depressiv erkrankt: 7 depressive Symptome (alle typischen, zusätzlich akute Suizidgefahr, psychotische Symptome, nicht arbeitsfähig, kann sich nicht mehr versorgen bzw. kann nicht versorgt werden, stationär behandlungsbedürftig).
Nach einer depressiven Störung ist von einer Rezidivrate von 70–85% im Lauf eines Lebens auszugehen, mit einer mittleren Episodenzahl von drei bis vier und einer Chronifizierungsrate (Verläufe über zwei Jahre) von etwa 20 % [14, 15].
Tabelle 2 - Definition einerdepressiven Episode
Hauptsymptome
(2–3 gefordert, Dauer je 2 Wochen)
- Gedrückte Stimmung
- Interessenverlust, Freudlosigkeit
- Antriebsminderung
Andere Symptome
(2–4 Symptome gefordert)
- Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
- Vermindertes Selbstwertgefühlund Selbstvertrauen
- Schuldgefühle, Gefühle von Wertlosigkeit
- Negative und pessimistische Zukunftsperspektive
- Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung und Suizidhandlung
- Schlafstörungen
- Verminderter Appetit
Differenzialdiagnosen
Bei den Differenzialdiagnosen depressiver Syndrome sind zu beachten:
- Trauer und emotionale Krise
- Anpassungs- und Belastungsstörungen (in der ICD-9: reaktive Depression, depressive Entwicklung)
- Emotional-instabile Persönlichkeitsstörungen mit depressiver Symptomatik
- Akute Psychosen sowie postschizophrene Depressionen
- Beginnende demenzielle Erkrankungen (depressive Konzentrationsund Merkstörungen!)
- Chronische nicht organische Schlafstörungen
- Anhaltende Angst- sowie somatoforme Störungen (gehen häufig mit Depressivität einher)
- Körperliche Erkrankungen (Tumorerkrankungen, Kreislaufregulationsstörungen, anhaltende Infektionen, KHK, Schilddrüsenstörungen, Morbus Parkinson, multiple Sklerose u. a.)
- Depressionsfördernde Einflüsse von Medikamenten und chemotherapeutischen Interventionen.
Unabhängig von der Genese ist jede Depression spezifisch behandlungsbedürftig, wenn sie mit der Symptomatik einer depressiven Episode, mit Einschränkung der Lebensqualität und mit Leidensdruck einhergeht.
Ätiopathogenese
Letztendlich gibt es bislang keine umfassende Theorie der Ätiopathogenese depressiver Erkrankungen, die auf alle Krankheitsformen zutrifft. Bis heute hat sich das Konzept des „Final common pathway“ von Akiskal und McKinsey [1] bewährt, welches die Depression als psychopathologische Manifestation einer gemeinsamen neurobiologischen Endstrecke von lebensgeschichtlichen Entwicklungen und aktuell belastenden psychosozialen und somatischen Faktoren versteht. Die Disposition für eine später erhöhte Vulnerabilität für depressive Erkrankungen findet sich sowohl im genetischen, als auch im lebensgeschichtlichen Bereich. Dabei sind Familientraditionen, generationenübergreifender Transfer von depressiven Verhaltensweisen, Entwicklung von Selbstgefühl, Umgang mit Aggression, Bindungsfähigkeit, eingebettet in das jeweilige soziokulturelle Umfeld und deren enge Koppelung von Wertgefühl an Leistungsfähigkeit bedeutsam. Für depressive Erkrankungen vulnerable Menschen sind durch Persönlichkeitsfaktoren wie überhöhte Leistungsorientiertheit, Überperfektionismus, Aggressionshemmung, negatives Selbstbild, Schuldgefühle, Versagensgefühle, Vermeidung von Abgrenzung und Neinsagen, verbunden mit einer fehlenden Entwicklungsperspektive, gekennzeichnet.
Aus verhaltenstherapeutisch-lerntheoretischer Sicht wird die Depressionsgenese v. a. durch verstärkungstheoretische und kognitionspsychologische Ansätze erklärt. Das Verstärker-Verlust-Modell nach Lewinsohn [5] sieht Depression als erlerntes Verhalten infolge mangelnder positiv verstärkender Erfahrungen und Aktivitäten oder Verlust derselben.
Nach der kognitiven Theorie von Beck [2] führen dysfunktionale Bewertungen und negative Attributionsstile als entscheidende kognitive Störung bei der Depressionsgenese zu einer Verzerrung der Realität, sodass eine negative Sicht der Welt, der eigenen Person und der Zukunft entsteht. Der Prozess der Informationsverarbeitung ist dann geprägt durch willkürliches Schlussfolgern, selektives Abstrahieren, moralisch-absolutistisches Denken und Magnifizieren der Leistung anderer. Derartige Denkschemata entstehen durch belastende Erfahrungen im Sozialisationsprozess, werden ausgelöst durch aktuelle stressreiche oder traumatische Erfahrungen oder eine Häufung subtraumatischer negativer Erfahrungen (Abb. 1).