Bei den depressiven Störungen sind ferner geschlechtsspezifische Aspekte interessant. Männer berichten im Allgemeinen über weniger depressive Symptome als Frauen. Sie neigen dazu, seelische Probleme zu bagatellisieren oder zu verleugnen, klagen eher über körperliche Symptome oder setzen externalisierende Strategien ein, wie das übermäßige Trinken von Alkohol, und zeigen eine erhöhte Irritabilität und Aggressivität oder gereiztes, abweisendes Verhalten. Dabei ist das Suizidrisiko bei Männern erhöht, möglicherweise auch deswegen, weil sie bezüglich der Depressivität „sprachlos“ sind.
Suizidalität
Suizidalität sollte bei „sprachlosen“ Patienten immer direkt thematisiert, präzise und detailliert unter Zuhilfenahme der Angehörigen erfragt und vor dem Hintergrund vorhandener Ressourcen beurteilt werden. Suizidale Patienten müssen eine besondere Beachtung und Betreuung im Sinne einer Intensivierung des zeitlichen Engagements und der therapeutischen Bindung erhalten. Dabei richtet sich das konkrete Betreuungsangebot nach den individuellen Risikofaktoren, der Absprachefähigkeit des Patienten und den Umgebungsfaktoren.
Suizidgefahr offen ansprechen Die Diagnostik bei suizidalen Patienten schließt die Erfassung der graduellen Ausprägung der Suizidalität und die Abschätzung des aktuellen Handlungsdrucks bzw. die aktuelle Distanziertheit von Suizidalität ein. Das Suizidrisiko ist bei depressiv Erkrankten etwa 30-mal höher als in der Allgemeinbevölkerung [9]. Ungefähr 9 % aller wegen Suizidalität und 4 % aller wegen einer depressiven Störung (ohne spezielle Suizidalität) einmal hospitalisierten Patienten versterben durch Suizid. Etwa 60–70 % der Patienten haben während einer aktuellen depressiven Episode auch Suizidgedanken.
Daher ist es besonders wichtig, Patienten aktiv und empathisch zur Suizidalität zu explorieren. Auch im weiteren Behandlungsverlauf, in dem Suizidalität neu auftreten kann, ist eine regelmäßige Erfassung notwendig. Abgeschätzt werden soll dabei der aktuelle Handlungsdruck (Todesgedanken, Suizidabsichten, Suizidpläne bzw. Suizidversuche). Das Befragen der Patienten über ihre suizidalen Gedanken, Impulse und Pläne führt entgegen einer weit verbreiteten Fehleinschätzung nicht dazu, dass diese „erst dadurch auf die Idee gebracht“ werden. Die meisten Patienten sind sehr erleichtert, wenn das Thema entlastend angesprochen wird. Die Abschätzung des Suizidrisikos sollte durch Erfragen von Risikomerkmalen vorgenommen werden (Tab. 2).
Posttraumatische Belastungsstörung Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) kann in den ersten Kontakten vielfach nicht über das eigentliche Trauma geredet werden, und der Patient imponiert hierfür „sprachlos“. Die posttraumatische Belastungsstörung ist eine mögliche Folgereaktion eines oder mehrerer traumatischer Lebensereignisse, wie z. B. Gewalterleben, Vergewaltigung, Krieg, Folter, Naturkatastrophen, Unfälle oder der Diagnose einer lebensbedrohlichen Krankheit. In vielen Fällen kommt es noch Jahre nach dem Trauma zu einem Gefühl von Hilflosigkeit, Ratlosigkeit und zu einer Erschütterung der Selbstwahrnehmung und der Sichtweise auf die Welt – eben „Sprachlosigkeit“ ob des Traumas.
Die PTSD ist gekennzeichnet durch sich aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnerungen an das Trauma (Intrusionen) oder Erinnerungslücken, Übererregungssymptome (Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, vermehrte Reizbarkeit, Affektintoleranz, Konzentrationsstörungen), Vermeidungsverhalten und eine „emotionale Taubheit“ (allgemeiner Rückzug, Interesseverlust, innere Teilnahmslosigkeit). Die Symptomatik kann unmittelbar oder auch mit z. T. mehrjähriger Verzögerung nach dem traumatischen Geschehen auftreten (Late-onset PTSD), wobei das eigentliche Trauma dem Patienten nicht direkt erinnerlich sein muss oder nicht direkt mit der dem Arzt geschilderten Symptomatik verknüpft wird.
Viele Ursachen für eine PTSD Daher kann eine PTSD entsprechend leicht ärztlich übersehen werden. Auch bei unklaren, therapieresistenten Schmerzsyndromen (z. B. anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.40 [3]), bei vordergründig deutlichen Persönlichkeitsstörungen oder bei schweren Organerkrankungen (z. B. Malignome, Patienten nach Intensivbetreuung) kann eine PTSD mit oben beschriebener Symptomatik vorliegen.
Erste therapeutische Maßnahmen bei einer gesicherten Diagnose wären das Herstellen einer sicheren Umgebung (Schutz vor weiterer Traumaeinwirkung), die Organisation des psycho-sozialen Helfersystems und das frühe Hinzuziehen eines mit PTSD-Behandlung erfahrenen ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten. Bei einer adjuvanten Pharmakotherapie ist immer an die besondere Suchtgefährdung dieser Patienten z. B. durch Benzodiazepine zu denken.
Hinweis: Dieser Artikel stammt aus (
MMW Fortschritte der Medizin, Heft 38, 2010). Er wurde mit freundlicher Genehmigung der Redaktion
MMW Fortschritte der Medizin hier präsentiert.